Unterm Fallbeil

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

DREI



MIT FORTGANG DES KRIEGES geriet die Berliner Kriminalpolizei in eine tiefe Krise, da es einerseits immer weniger Beamte gab, andererseits aber immer mehr Aufgaben zu bewältigen waren. So nahmen seit Beginn des Luftkriegs die Eigentumsdelikte spürbar zu, vor allem aber wurden Kriminalbeamte zur Gestapo und in die besetzten Länder abkommandiert, um dort in den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht Deserteure zu verfolgen, Partisanen zu jagen und beim Ausrauben, der Deportation und der Ermordung jüdischer Menschen mitzuhelfen.



Hermann Kappe konnte sich glücklich schätzen, für diese Einsätze zu alt zu sein. Außerdem war er wegen seiner Erfahrung an der Heimatfront unentbehrlich. Jeder Mord, der nicht aufgeklärt werden konnte, schädigte das Ansehen des NS-Staates – und es gab aufgrund der Verhältnisse, die immer chaotischer wurden, eine solch hohe Zahl unaufgeklärter Morde, dass Goebbels und Himmler, so jedenfalls Kappes Vermutung, auf die Idee gekommen waren, dem leicht debilen Bruno Lüdke, der in Köpenick Wäsche ausgefahren hatte, über achtzig Morde anzuhängen. Kappes krankhaft ehrgeiziger Kollege Heinz Franz hatte das Ganze ausgebrütet. Als aber die Nazi-Oberen gemerkt hatten, dass Lüdke unmöglich der Täter sein konnte und sie Franz auf den Leim gegangen waren, hatten sie beide nach Wien abgeschoben.



Für Kappe war die Welt ein einziges Irrenhaus, und gab es wirklich einen Gott, so musste der ein Sadist oder aber ein Geisteskranker sein. Bei dem Gedanken erschrak er, denn so viel Religionsunterricht hatte er in Wendisch Rietz gehabt, dass er nun die Rache des Herrn befürchten musste. Du schiltst die Heiden und bringst die Gottlosen um; ihren Namen vertilgst du immer und ewiglich. Schon die nächsten Bomben konnten die Häuser der Großen Frankfurter Straße in Schutt und Asche legen …



Weil die Straßenbahn nach Luftangriffen öfter ausfiel und Kappe Bewegung guttat, hatte er sich angewöhnt, zu Fuß zum Polizeipräsidium zu laufen. Es waren genau 1,3 Kilometer, wie er anhand des Stadtplans errechnet hatte. Außerdem sparte er dadurch jeden Tag ein paar Pfennige, was ihm ein dickes Lob seiner Gattin eingetragen hatte. Für die Große Frankfurter Straße war mit dem Bau der U-Bahn-Linie E nach Friedrichsfelde eine Schneise durch die Häuserfronten geschlagen worden, und sie lief jetzt direkt auf den Alexanderplatz zu, so dass er ein paar hundert Meter Fußweg sparte. Bei seiner morgendlichen Wanderung konnte er genau verfolgen, wie es den alliierten Bomberverbänden von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht mehr gelang, Berlin in eine Trümmerwüste zu verwandeln. «Wie soll das bloß mal enden?», hatte seine Mutter gefragt, bevor sie sich selbst nach Wendisch Rietz evakuiert hatte. Ja, wie? Die Fronten rückten immer näher an die Reichsgrenzen heran, und vielleicht hatten die Alliierten in einem Jahr schon ganz Deutschland erobert und Soldaten der Roten Armee das Polizeipräsidium besetzt. Oder hatte Hitler doch noch eine Wunderwaffe in der Hinterhand? Sofort hatte Kappe Zarah Leanders Stimme im Ohr: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n, und dann werden tausend Märchen wahr. Aber die Vorstellung, dass die Nazis den Krieg gewannen und ganz Europa unterjochten, war auch nicht gerade berauschend.



Es war noch niemand im Büro, und so widmete sich Kappe erst einmal der Zeitungslektüre. Die Überschriften auf der Titelseite waren schnell überflogen: Churchills Schock über die deutschen Luftangriffe – Bauern sichern das Werk der Soldaten – Die Schlacht um das Becken von Cassino – Heftige Durchbruchsversuche der Sowjets bei Witebsk erneut vereitelt.



Er blätterte weiter zum Berliner Beobachter und zum Sportbeobachter und las: Wie Kinder zur Sauberkeit erzogen werden. Das schnitt er aus, um es seiner Tochter zu schenken. Wem die Bomben das Dach abgedeckt hatten, der sollte den Schnee vom Dachboden fegen, damit der, schmolz er, die darunterliegenden Räume nicht unter Wasser setzte. Im Reichsprogramm gab es von 19.15 Uhr bis 19.30 Uhr Frontberichte. Da war einzuschalten. Im Deutschlandsender wiederholten sie um 21 Uhr ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler. Da würde Klara wieder vor dem Radioapparat sitzen und verzückt zuhören, weil sie sich damit den höheren Ständen zurechnen konnte. Ihn hingegen nervte das Gefiedel. Beim Trabrennen in Mariendorf hatte Orankepage gewonnen, was Kappe aber ebenso wenig interessierte wie der 7:1-Sieg, den Berlin im Städtespiel gegen Posen errungen hatte. Seine Blicke blieben nur an den Zeichnungen hängen. Kohlenklau lobte Bruder Leichtfuß, weil der das, was er auf seiner Kohlenkarte an Brennmaterial bekam, nicht richtig einteilte und am Monatsende seine Möbel verheizte. Eine andere Zeichnung zeigte zwei Frauen, die beim Briefeschreiben saßen, die eine fröhlich und mit toller Frisur, die andere griesgrämig und mit wüster Dauerwelle. Dazu hatte jemand gedichtet:



Schreibt Liese einen Feldpostbrief,

 dann ist der Inhalt positiv,

 voll Liebe und Vertrauen.



Ein Brief aus Mieses Horizont

 kann dem Soldaten an der Front

 die Stimmung nur versauen!



Mit zehn Minuten Verspätung erschien Gerhard Piossek am Arbeitsplatz und begrüßte Kappe ordnungsgemäß mit einem schallenden «Heil Hitler!».



«Heil …», murmelte Kappe. Der Kollege war zwar Mitglied der NSDAP, aber kein fanatischer Nazi, sondern nur ein Mitläufer.



Von September 1941 bis Januar 1943 war er zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) Belgien-Nordfrankreich nach Brüssel abkommandiert worden und hatte dort im Bett einer Wallonin eine gewisse ideologische Läuterung erfahren.



Piossek hängte seinen Mantel an den Haken und riss dann das Blatt für Sonntag, den 13. Februar, vom Kalender. Auf der Rückseite stand der Spruch des Tages. Piossek las ihn ab: « Aequo animo poenam, qui meruere, ferant. Und auf Deutsch? Ah, hier: Wer die Strafe verdient, nehme sie mit Gleichmut hin. Ovid.» Er zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb, ohne einen Kommentar abzugeben.



Auch Kappe dachte sich seinen Teil. Die Deutschen hatten ihren Hitler gewollt, und nun hatten sie ihre Strafe mit Gleichmut hinzunehmen, auch wenn diese Strafe fürchterlich war.



Es klopfte, und nach Kappes gleichgültigem «Ja bitte, herein» stand Gustav Galgenberg vor ihnen. «Heil Hitler! Ich soll mich hier melden.»



Kappe tat so, als hätte er ihn nie gesehen, und musterte ihn wie einen armen Irren. «Ah, Sie sind der, der Julius Caesar ermordet hat?»



Galgenberg schüttelte den Kopf. «Nee, im Ernst, ick bin reaktiviert worden. Wieda mal.»



Er war einer von zweitausend rüstigen Pensionären, die man im Altreich in ihre Dienststellen zurückholte, um dem akuten Personalmangel abzuhelfen, erreichte man doch in manchen Bereichen der Kripo nur noch sechzig Prozent der Sollstärke.



«Wunderbar», rief Kappe, «jetzt kann ich, wenn wir zum Tatort eilen, auch noch deinen Rollstuhl schieben!»



«Lieber ’ne Laus im Kohl als jar keen Fleisch», sagte Galgenberg.



«Und wo willst du sitzen?», fragte Kappe.



«Na, auf meinem Allerwertesten, wo sonst?»



«Aber nicht bei mir auf ’m Schoß», sagte Piossek, der nach Galgenbergs Verabschiedung dessen Platz eingenommen hatte.



Galgenberg kratzte sich den kahl gewordenen Kopf. «Dann muss ich wohl losziehen und mir einen Schreibtisch organisieren.» Es verging eine halbe Stunde, bis er zurück war. Im Keller hatte er ein schon seit Ewigkeiten ausrangiertes Exemplar gefunden. Es war ein fast schwarz gebeiztes, selten hässliches Stück aus Kaiser Wilhelms Zeiten, das er mit Hilfe eines einarmigen Hausmeisters und eines kriegsblinden Boten ins Zimmer bugsierte und quer zu den Schreibtischen der beiden Kollegen aufstellen ließ.



«Reißen Sie sich bloß keinen Splitter ein!», warnte ihn Piossek.



«Das Ding taugt doch höchstens noch als Brennholz.»



Galgenberg lachte. «Det wird et ja ooch werden, wenn wa ’n Volltreffa abkriegen. Det wundert mir sowieso, det der Kasten von Polizeipräsidium noch steht.» Er sah Kappe an. «Wat habta denn nun für mich zu tun?»



«Nichts Aktuelles. Nimm dir die Akten mit den toten Fischen vor, vielleicht hast du da ’ne Idee, die uns weiterbringt.»



«Igitt, tote Fische!» Galgenberg tat so, als wüsste er nicht, dass damit ungelöste Fälle gemeint waren. «Dann lass uns lieba Skat spielen.»



Piossek wies – halb im Ernst, halb im Scherz – darauf hin, dass Skatspielen im Dienst nach der Volksschädlingsverordnung vom 5. September 1939 möglicherweise mit dem Tode bestraft werde.



Galgenberg, der Piossek nicht so recht einschätzen konnte, begann darauf, eine Strophe des Liedes Von Finnland bis zum Schwarzen Meer zu singen, die er von einem seiner Söhne gelernt hatte:



Den Marsch von Horst Wessel begonnen



Im braunen Gewand der SA

 Vollenden die grauen Kolonnen:

 Die große Stunde ist da!



Von Finnland bis zum Schwarzen Meer:

 Vorwärts, Vorwärts!



Vorwärts nach Osten, du stürmend Heer!



Freiheit das Ziel,

 Sieg das Panier!

 Führer, befiehl!

 Wir folgen dir!



Kappe verdrehte die Augen. Wer mit Gustav Galgenberg in einem Büro saß, der brauchte nicht mehr ins Kabarett zu gehen. Jedenfalls machte das Wiedererscheinen des alten Haudegens das Leben etwas erträglicher, und der Tag verging schneller als sonst.



Sie bereiteten sich schon auf ihren Feierabend vor, als ihr Chef plötzlich in der Tür stand. Sie dachten alle, Dr. Morack wäre gekommen, um den neuen alten Kollegen zu begrüßen, doch er hatte einen Auftrag für sie. «Geisenheimer Straße 45. Ein Mieter hat in einem Kellerverschlag die Leiche einer Frau entdeckt. Sie ist offensichtlich erschlagen worden.»

 



Sie liefen auf den Hof hinunter, wo das Mordauto auf sie wartete. Es existierte immer noch, was Kappe irgendwie verwunderlich fand. Die guten alten Gennat-Zeiten waren doch lange vorbei. Auch war es noch nicht auf Holzgas umgestellt. Es gab allerdings keinen Fahrer mehr. Diese Rolle hatte Bernhard Klingbeil übernommen, der Nachfolger von Dr. Kniehase. Er kam aus Wowerischken im Memelland, hatte in Königsberg Chemie studiert und im Kriminaltechnischen Institut der Sipo gearbeitet. Nazi war er eigentlich nicht, aber begeistert davon, dass Hitler 1939 das Memelland «befreit» hatte.



«Wo liegt denn diese Geisenheimer Straße?», fragte er, als alle Platz genommen hatten, Galgenberg neben ihm und die beiden Jüngeren im Fond.



«Mit hoher Wahrscheinlichkeit in Groß-Berlin», antwortete Galgenberg.



«Danke, das hilft mir schon weiter. Dann muss ich nicht Kurs auf Hamburg oder Leipzig nehmen.»



«Gibt es hier keinen Stadtplan im Wagen?», fragte Kappe.



«Nein, den muss jemand geklaut haben.»



«Einer von uns müsste ins Büro zurück und auf dem Stadtplan nachsehen», stellte Piossek fest.



«Ja, aber wer?», fragte Klingbeil.



Kappe lachte und sah Galgenberg an. «Für solche Sachen sind immer die Neuen zuständig.»



«Bei mir Gummibusen», entgegnete Galgenberg, «da prallste ab.»



«Wenn wir so weitermachen, ist die Leiche verwest, bis wir in der Geisenheimer Straße angekommen sind», stellte Klingbeil fest.



Kappe fand, dass die Situation langsam zur Farce wurde. Aber war es nicht auch schon eine Farce, dass sie hier einen Mord aufklären sollten, wo doch tagtäglich Tausende von Menschen umgebracht wurden – und die Mörder für ihre Taten noch befördert wurden? Um ihrer Diskussion ein Ende zu bereiten, sprang er schließlich aus dem Mordauto und lief nach oben. Seiner Meinung nach musste Geisenheim irgendwo am Rhein liegen, und zwar da, wo Wein angebaut wurde. Also begann er, im Wilmersdorfer Rheingauviertel zu suchen. Und richtig, die Geisenheimer Straße begann am Rüdesheimer Platz und reichte bis zur Kreuzung der Laubacher mit der Kreuznacher Straße hinunter. Sie konnten sich also auf den Weg machen.



Es dauerte eine Weile, bis sie von der Kaiserallee in den Südwestkorso abbiegen konnten und über die Wiesbadener Straße zum Rüdesheimer Platz gelangten.



«Eine noble Gegend hier», meinte Kappe. «Das wäre was für Klara.» Und er hätte fast hinzugefügt: nach dem Krieg. Dieses «nach dem Krieg» beherrschte sein Denken immer stärker, und manchmal spottete er über sich selbst: Als ob es ein Leben nach dem Tode geben würde! Blieben Glaube und Hoffnung …



Die Straßen südlich des Rüdesheimer Platzes waren durch kompakte Neubaublöcke geprägt. Es gab keine einzelnen, individuell gestalteten Häuser, sondern durchgehende Zeilen mit fünfgeschossigen Putzbauten, deren Fassaden durch Loggien und Erkervorbauten gegliedert waren. Zudem hatte man die Sockel, teilweise auch die Erdgeschossflächen, die Treppenhäuser und die Brüstungen der Loggien mit braunroten Klinkern verblendet. Kappe wusste nicht genau, ob er das schön oder langweilig finden sollte.



Sie hielten vor der Hausnummer 45, wo zwei ältere Schutzpolizisten bereits ungeduldig auf sie warteten. Kappe sprang als Erster aus dem Mordauto und begrüßte die beiden. Der bloße Tatbestand war schnell ermittelt: Eine Mieterin hatte in ihrem Kellerverschlag ein Blutrinnsal entdeckt und war daraufhin schreiend zur Hauswartsfrau gelaufen. Die hatte festgestellt, dass das Blut aus dem Keller der 36-jährigen Irmgard Klodzinski kam. Die beiden Frauen hatten angenommen, dass die Fahrkartenverkäuferin Selbstmord begangen hatte. Seltsamerweise war jedoch die Tür zu Klodzinskis Kellerverschlag mit einem völlig intakten Vorhängeschloss gesichert. Die Mieterin war sodann zur Polizei gelaufen, die den Kellerverschlag aufbrechen ließ und feststellte, dass die Klodzinski erschlagen worden war. Die riesige Platzwunde am Hinterkopf sagte alles.



Kappes Schlussfolgerung war klar und eindeutig. «Es muss sie also jemand erschlagen haben, als sie im Begriff war, etwas aus ihrem Keller zu holen, und sie dann dort eingeschlossen haben.»



Ein Raubmord schien ausgeschlossen, denn in der Wohnung der Klodzinski schien nichts durchwühlt oder gestohlen worden zu sein.



«Dann fangen wir mal an, die Leute zu befragen», sagte Kappe. Doch daraus wurde nichts, denn als sie mit der Hauswartsfrau beginnen wollten, gab es Fliegeralarm, und sie mussten in einen Luftschutzbunker eilen.



Im Frühsommer 1943 hatten die schweren Bombenangriffe auf Berlin begonnen, und mit Beginn des Jahres 1944 ging es Schlag auf Schlag. Am 20. Januar hatten mehrere hundert Bomber Berlin angegriffen, am 31. Januar hatten die Luftangriffe Spandau und dem Flughafen Staaken gegolten, und in der Nacht vom 15. auf den 16. Februar sollte es den bisher größten Angriff der Royal Air Force geben, bei dem über achthundert Bomber 2643 Tonnen Spreng- und Brandbomben abwarfen.



Hermann Kappe war im Polizeipräsidium zum Luftschutzdienst abkommandiert worden und hatte mindestens einmal im Monat Luftschutznachtwache zu schieben. In diesen Zeiten war er von seiner Frau getrennt, was seine Ängste nur noch schürte. Es gab zwar direkt vor der Haustür den Tiefbunker unter dem Alexanderplatz, aber er hatte im Dienstgebäude zu bleiben, um einen etwaigen Brand sofort löschen zu können. Er hatte sich, um den braunen Eiferern keine weitere Angriffsfläche zu bieten, auch freiwillig gemeldet, als es darum gegangen war, den Luftschutzwart für das Mietshaus in der Großen Frankfurter Straße zu bestimmen. Dazu hatte er verschiedene Schulungsabende besuchen müssen und einiges gelernt.



«Wir unterscheiden im Wesentlichen erstens Sprengbomben, die durch Erdstoß, Luftdruck, Luftsog und Splitterwirkung die umliegenden Häuser beschädigen, zweitens Brandbomben, drittens Splitterbomben und viertens Bomben mit chemischen Kampfstoffen. Und darum gilt … Alle!»



«Die Volksgasmaske muss stets griffbereit sein!»



«Richtig! Der Luftschutzraum im Keller bietet Schutz gegen Luftdruckwirkung, Bombensplitter und Mauertrümmer. Darum … Alle!»



«Bei Luftalarm immer Ruhe und Überlegung bewahren!»



Die erste Initiative der Luftschutzwarte habe der Entrümpelung des Dachbodens zu dienen. «Alles Brennbare ist zu entfernen!»



«Wie denn?», hatte Kappe gemurmelt. «Dann muss ich ja auch die Dachbalken zersägen und abtransportieren … Aber wer hält dann bis zum Endsieg die Ziegel?»



Nach erfolgter Schulung hatte er eine Armbinde bekommen: hellblau mit weißem Randstreifen und einem weißen Kreis. Mit seinen Laienhelferinnen hatte er als Erstes den Hausboden mit Feuerlöscheimern, Wasserbehältern, Feuerpatschen, Sand und Eimereinstellspritzen ausgestattet.



Als in dieser Nacht erneut die Sirenen heulten und Voralarm gegeben wurde, ging es bei ihm besonders hektisch zu, denn Margarete und Marlies schliefen bei ihnen.



«Schnell in den Keller runter!» Karl-Heinz konnte ihnen nicht zur Hand gehen, denn er war Flakhelfer und musste sich beeilen, um rechtzeitig in seiner Stellung zu sein. Er wollte schon die Treppen hinunterspringen, da schrie er auf: «Seid ihr wahnsinnig geworden? Welcher Idiot hat denn im Wohnzimmer den Vorhang nicht zugezogen? Und du, Vater, willst Luftschutzwart sein? Anzeigen müsste man dich!»



«Und dann kurzer Prozess», murmelte Kappe. Aber sein Sohn hatte ja recht. Jeder Verstoß gegen die Verdunkelungsverordnung vom 23. Mai 1939 wurde hart geahndet, unterstellte man doch jedem, der einen Lichtstrahl nach außen dringen ließ, den alliierten Bomberpiloten damit zeigen zu wollen, wohin sie zu zielen hatten.



Kappe kleidete sich in aller Eile an und holte das Luftschutzgepäck aus der Abstellkammer. Dazu gehörten die wichtigsten Papiere und vor allem die Lebensmittelkarten. Als seine Enkeltochter angezogen war, heftete er ihr Leuchtplaketten an den Mantel. Alle trugen sie. Ihr schwacher Schein sorgte im Dunkel dafür, dass man mit niemandem zusammenstieß. Während seine Familie nun in den Luftschutzkeller eilte, öffnete er in der ganzen Wohnung die Fenster und fixierte sie mit den Haken, die sich unten an den Wasserschenkeln befanden, damit sie bei einem Bombeneinschlag nicht aus dem Rahmen flogen. Dann sprang er ins Treppenhaus und bummerte gegen die Türen der Mieter, die partout nicht in den Luftschutzkeller wollten.



«Frau Böse, wenn wir einen Volltreffer abkriegen, ist es aus mit Ihnen!»



«Das ist doch das Beste, was einem passieren kann.»



Kappe konnte sie nicht zwingen. Er rannte zum Dachboden hinauf, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung war. Er öffnete eine Luke und steckte den Kopf hinaus. So prachtvoll hatte er den Sternenhimmel über Berlin noch nie gesehen. Doch es war ein Himmel ohne Gefühl und ohne Gnade. Eiskalt nahm er alles hin, was gleich geschehen sollte: das hundertfache Sterben. Wieder heulten die Sirenen, diesmal Vollalarm. Im Westen tauchten die ersten englischen Bomber auf und setzten ihre «Tannenbäume», damit die nachfolgenden Kameraden in ihrem Licht die Gebäude ausmachen konnten, auf die sie ihre Bomben werfen sollten. Die Lichtfinger der deutschen Scheinwerfer suchten die Flugzeuge zu erfassen, die Flak begann zu feuern. Kappe machte, dass er in den Keller kam. Dessen Decke hatte man mit Betonbalken und -pfeilern verstärkt, außerdem konnte man, sollte es einen Volltreffer geben, durch Mauerdurchbrüche in die Keller der beiden Nachbarhäuser gelangen.



Die Mieter saßen auf alten Wohnzimmerstühlen, Korbsesseln und einem Sofa, durch dessen roten Samtbezug die Sprungfedern schauten. Die einen dösten vor sich hin, die anderen hielten einen kleinen Plausch, als hätten sie sich in Friedenszeiten mitten auf dem Alex getroffen, die dritte Gruppe starrte gegen die weiß gekalkte Wand und suchte, alles um sich herum zu vergessen. Die dürre Lehrerin aus dem dritten Stock betete, die Hauswartsfrau erzählte Schauergeschichten.



«Bei meiner Schwägerin im Haus ist eine Frau bei lebendigem Leibe verbrannt, die war nachher so klein, dass man sie in einem Margarinekarton beisetzen konnte. Aber wenn hier eine schwere Luftmine einschlägt, dann reißt es uns die Lunge entzwei, und das ist dann ein leichter Tod.»



«Halt’s Maul, alte Kuh», brummte Kappe.



Der pensionierte Finanzbeamte aus dem zweiten Stock, der schon etwas wirr im Kopf war, flüsterte Kappe ins Ohr, dass er ihn bedauern würde.



«Warum denn das?»



«Na, wie wollen Sie denn heutzutage einen Mörder festnehmen? Die tragen doch alle Uniformen und werden für ihre Untaten noch mit einem Orden ausgezeichnet.»



Kappe verzog das Gesicht und flüsterte: «Eine solche Bemerkung kann Sie ins KZ bringen.»



«Wieso denn, ich meine doch die Tommies und die Amis oben in ihren Fliegenden Festungen, die uns die Bomben auf den Kopf werfen.»



Dann wurde es ernst, man hörte das Dröhnen der Flugzeugmotoren und registrierte den ersten Einschlag. Die Erwachsenen richteten sich auf und warteten mit angespanntem Körper auf das Unvermeidliche. Die Kinder weinten. Margarete presste ihre Tochter an sich.



Kappe sah zur Decke hinauf. Noch rieselte kein Kalk herab, noch vibrierte die Grundplatte ihres Hauses nicht. Jede Sekunde aber konnte …



Kappe versuchte, sich dadurch abzulenken, dass er an den Mordfall Irmgard Klodzinski dachte. Aber das fiel ihm schwer, weil sie bisher nur wussten, dass sie nichts wussten.



Da kam der Einschlag, die Explosion. Alles bebte und wankte, die Lampe an der Decke flackerte erst, dann erlosch sie ganz.



«Es ist aus mit uns!», schrie die Hauswartsfrau.



Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt:



An der Ostfront wiesen unsere tapferen Truppen auch gestern starke



Angriffe der Sowjets in schweren Kämpfen ab.



Im hohen Norden setzten schnelle deutsche Kampfstaffeln ihre Angriffe gegen den Transportverkehr auf der Murmanbahn fort und beschädigten drei Züge schwer.



In Italien kam es auch gestern im Landekopf von Nettuno außer beider seitiger Späh und Stoßtrupptätigkeit zu keinen wesentlichen Kampfhand lungen.



Bei Cassino griff der Feind infolge seiner hohen Verluste aus den Vortagen gestern nicht weiter an.



Deutsche Schnellboote führten in der vergangenen Nacht ein Unterneh men unter der englischen Küste trotz feindlicher Zerstörerangriffe plan mäßig und ohne Verluste durch.



Kappe schaltete die Goebbelsschnauze, den Volksempfänger, den Piossek mit ins Büro gebracht hatte, wieder aus. Was das Oberkommando der Wehrmacht nicht bekanntgab, war sein Überleben beim gestrigen Luftangriff. Drei Häuser weiter war die Sprengbombe eingeschlagen, und es hatte sechs Tote gegeben.

 



Es war, wie es war, und Kappe hielt sich an das, was einen guten deutschen Beamten ausmachte: Er sah sein Glück in der Pflichterfüllung. Also vergaß er die, die im Dienste töteten, und konzentrierte sich auf den einen privaten Mörder, der die Fahrkartenverkäuferin Irmgard Klodzinski erschlagen hatte. Mal zog er mit Gerhard Piossek, mal mit Gustav Galgenberg durch die Reichshauptstadt, um mehr über diese Frau zu erfahren. Anzufangen war im Hause Geisenheimer Straße 45, und da wollten sie zuerst mit der Hauswartsfrau reden.



«Wie heißt die noch mal?», fragte Kappe, dessen Namensgedächtnis nicht das Beste war.



«Lammkoth …», antwortete Galgenberg, «… äh … Kammloth!» Hildegard Kammloth war ebenso herb wie übergewichtig und genau der Typ von Frau, vor dem Kappe Angst hatte. So klang seine Stimme fast piepsig, als er sie nach Auffälligkeiten im Leben der Ermordeten fragte.



Die Kammloth zuckte mit den Schultern. «Viel weiß ich nicht über sie.»



Kappe lächelte. «Hauswartsfrauen wissen doch immer alles.»



«Nur, dass sie geschieden ist. Ihr Mann ist aber immer wieder mal hier aufgekreuzt und hat ihr was zu Essen gebracht. Der is Kellner irgendwo. Manchmal war auch ihre Schwester da, die Margot.»



«Und wat is mit den Männern?», wollte Galgenberg wissen.



«Die war’n immer hinter ihr her.»



«Und wer genau?», hakte Kappe nach.



«Alle, die noch …» Sie brach ab und deutete an, dass sie nun rot werden müsse. «Die meisten Männer hier aus’m Haus stehen ja im Felde.»



«Und wer nicht?», wollte Galgenberg wissen.



Die Kammloth druckste eine Weile herum, dann ließ sie sich aber doch zwei Namen entlocken: Walter Arndt und Erwin Reschke. «Die wollten immer mit ihr ins Bett, sie aber nicht mit ihnen.»



Galgenberg nickte. «Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.»



«Sie sagen es, Herr Kommissar.»



Walter Arndt war der Blockleiter und Kappe höchst zuwider. Ein Blockleiter hatte um die fünfzig Haushalte zu überwachen, und seine Aufgaben waren von der NSDAP klar umrissen: Der Hoheitsträger muss sich um alles kümmern. Er muss alles erfahren. Er muss sich überall einschalten. Er hatte unter anderem Judenfreunde zu melden, Unmutsäußerungen über das Regime zu notieren und darauf zu achten, dass die Mieter bei offiziellen Anlässen eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängten und keine Feindsender abhörten. Bei Kappe war der Blockleiter in die Wohnung gekommen und hatte einen Zettel an seinen Rundfunkempfänger geklebt: Das Abhören ausländischer Sender ist ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkes. Es wird auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet. Denke daran!



Dieser Walter Arndt sah vergleichsweise harmlos aus, und wahrscheinlich sagten seine Enkelkinder von ihm, dass er der liebste Opa auf der Welt sei.



«Was wissen Sie denn vom Umgang der Klodzinski?», lautete Kappes erste Frage an ihn.



Der Blockleiter musste nicht lange nachdenken. «Sie war langjähriges Mitglied der NSDAP, hat fleißig fürs Winterhilfswerk gesammelt, Lebensmittelkarten verteilt und bei uns im Haus streng darauf geachtet, dass der Eintopfsonntag eingehalten wird.»



«Dafür werden sie nicht alle jeliebt ham», merkte Galgenberg an. «Aber das ist doch noch keen Grund, jemanden zu erschlagen.»



Kappe ging dazwischen, um Galgenberg zu bremsen. «Hatte sie denn hier im Haus Verehrer, die aber bei ihr nicht zum Zuge gekommen sind?»



«Nur den Reschke», kam die Antwort, für Kappe ein wenig zu schnell.



Der Rentner Erwin Reschke, von Hause aus Buchhalter und wohl knapp über siebzig Jahre alt, schien in der Tat ein Lüstling zu sein, denn in seinem Bücherschrank entdeckte Kappe einiges an erotischer Literatur aus der Weimarer Zeit, darunter Bände mit Aktfotos.



«Sie leben allein?», begann Kappe das übliche Frage- und Antwortspiel.



«Ja, meine Frau ist vor drei Jahren gestorben.»



Galgenberg fixierte ihn. «Aber ein Mann nimmt seine Potenz mit ins Grab, das wissen wir alle. Die Frage ist nur, was macht er vorher damit …»



Reschke grinste. «Ich habe eine Haushaltshilfe …»



Kappe bluffte nun ein wenig: «Aber eigentlich sind Ihre Wünsche ja in Richtung Irmgard Klodzinski gegangen …»



«Ist das strafbar?»



«Nein, aber die Klodzinski ist erschlagen worden. Vielleicht deswegen, weil sie jemanden abgewiesen hat.» Kappe beschloss, noch einen Schritt weiterzugehen. «Herr Reschke, Sie steigen in den Keller hi