Buch lesen: «Turnvater Jahn»
Horst Bosetzky
Turnvater Jahn
Ein biographischer Roman
Jaron Verlag
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorspiel Eine Szene in der Berliner Hasenheide 2011
1 Der Herr segne dich 1785–1791
2 Das Strafbuch füllt sich 1791–1794
3 Als Leiche im Schafgraben? 1794–1796
4 Jahn, das Alphatier 1796–1802
5 Noch ein Rausschmiss 1802–1803
6 Das kleine Glück 1803–1805
7 Als Patriot gegen Napoleon 1805–1809
8 Leben und Tod 1809–1810
9 Ein Mythos wird geboren 1810–1812
10 Vor dem Sturm 1812–1813
11 Im Lützow’schen Korps 1813
12 Das Fahrwasser wird ruhiger 1813–1814
13 Schwarz-Rot-Gold 1815–1817
14 Zum Abschuss freigegeben 1817
18 Turner, auf zum Streite 1818
16 »Sie sind verhaftet!« 1819
17 Der Prozess 1820
18 In der Verbannung 1820–1825
19 Im Abseits 1825–1838
20 Rückkehr und Abgang für immer 1838–1852
Literatur
Originalausgabe
1. Auflage 2014
© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und
aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 9783955521721
Vorspiel
Eine Szene in der Berliner Hasenheide
2011
Für alle, die in Neukölln aufgewachsen sind, ist die Hasenheide ein vertrauter Ort, mehr noch, eine Art heiliger Hain. Hier sind uns die Modellflugzeuge abgestürzt, die wir als Albert-Schweitzer-Schüler im Fach Werken basteln mussten. Hier habe ich als Leichtathlet der Neuköllner Sportfreunde beim Konditionstraining jeden Winter viele Kilometer keuchend zurückgelegt. Und auf der Wiese am Columbiadamm bin ich, der ich eigentlich ein Angsthase bin, bei den Neuköllner Maientagen in die gefährlichsten Achterbahnen, Kettenkarussells und sonstigen Fahrgeschäfte gestiegen, um meiner ersten Frau als echter Mann zu imponieren.
Kurzum, mit der Hasenheide sind viele Erinnerungen verknüpft, doch heute meide ich sie weitgehend, denn sie ist der wohl verrufenste Drogenumschlagplatz Berlins. Und wahrscheinlich wäre ich auch an jenem Sonnabend, dem 29. Juni 2011, nicht auf die Idee gekommen, sie zu betreten, wenn ich nicht vorher einige Gläser Rotwein konsumiert hätte. In einem Restaurant an der Hasenheide hatte ein früherer Kollege seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, und einer der Gäste, ein alter Turner, hatte mich gefragt, ob ich wüsste, was an jenem Tag vor genau zweihundert Jahren geschehen sei.
Ich rechnete. »1811 war das … Nein, dazu fällt mir nichts ein.«
»Da hat Friedrich Ludwig Jahn hier in der Hasenheide den ersten Turnplatz Deutschlands eröffnet.«
»Du hast recht!« Ich hätte es wissen müssen, saß ich doch gerade an den Vorarbeiten zu einem Jahn-Roman.
So war es nur allzu einleuchtend, dass ich mich, als mir die Feier zu langweilig wurde, für eine halbe Stunde davonstahl, um dem Jahn-Denkmal in der Hasenheide einen kleinen Besuch abzustatten. Als ich auf das Monument zuging, wurde mir plötzlich seltsam zumute. Blümerant hieß das früher. So richtig übel war mir nicht, eher hätte ich meinen Zustand als »high« beschrieben. Das lag wohl weniger daran, dass ich über verborgene Drogendepots gelaufen war, als vielmehr an dem Rotwein, den ich getrunken hatte. Ich sank auf einen Findlingsblock, starrte zum ehernen Jahn hinauf und erlebte zwischen Traum und Wirklichkeit eine unvergessliche Szene …
Friedrich Ludwig Jahn herrschte mich an: »Sie Lump, Sie wagen es, mir unter die Augen zu treten?«
Ich duckte mich unwillkürlich. »Was habe ich denn Schlimmes getan?«
»Sie wollen einen Roman über mich schreiben, und das ganz sicher in der Absicht, kübelweise Schmutz über mich zu gießen!«
Langsam gewann ich meine Contenance zurück. »Aber es ist doch eine Ehrung, wenn posthum etwas über einen Menschen geschrieben wird. Denken Sie nur an Theodor Fontane, der gesagt hat: Die besten Gardebataillone der Menschheit sind die Toten, die, biographisch wiederbelebt, unter uns wandeln.«
»Was die Herren Ernst Haberkern und Oliver Ohmann über mich zu Papier gebracht haben, reicht völlig aus und kann von Ihnen auf keinen Fall übertroffen werden«, teilte mir Jahn mit.
»Ich werde Ihre Geschichte ganz anders gestalten, denn ich bin ein echter Romanschreiber und lege Wert auf Spannung und Unterhaltung, das heißt, ohne ein bisschen Hollywood will und kann ich nicht auskommen. Was in einer wissenschaftlichen Abhandlung vielleicht zwei Zeilen ergäbe, wird bei mir zu einer filmreifen Szene von mehreren Seiten Länge.«
Jetzt wurde es gleißend hell vor meinen Augen, und ich fühlte mich in ein griechisches Theater versetzt. Links und rechts von Jahn zogen zwei Gruppen von Chorleuten auf, in der griechischen Antike Choreuten genannt. Die Hauptdarsteller waren Jahn und ich.
Das Stück begann. Der sogenannte Turnvater ergriff als Erster das Wort, dröhnend und voller Pathos. »Es wird ein anderes Zeitalter für Deutschland kommen, und ein echtes Deutschtum wird wieder aufblühen. Wir werden schöne Träume verwirklicht finden und endlich aus jahrelangem Schlummer erwachen.«
Der Chor der Jahn-Gegner, der gekleidet war, als komme er gerade von einer Demonstration der Linken zum 1. Mai, sang daraufhin ein vom nationalsozialistischen Regime wie auch der SED-Diktatur missbrauchtes Weihnachtslied: »Es ist für uns eine Zeit angekommen/sie bringt uns eine große Freud.«
Der Anführer des Chores trat vor, entbot den Deutschen Gruß und brüllte dabei: »Heil Hitler!«
Der Chor der Jahn-Freunde, erschienen in klassischer weißer Turnkleidung, konterte mit dem Lied der Deutschen, verfasst von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben im August 1841 auf der Insel Helgoland, die damals zu Großbritannien gehörte.
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammen hält.
Der Riegenführer wollte noch etwas richtigstellen. »Deutschlands Einheit war für Jahn der Traum seines erwachenden Lebens, das Morgenrot seiner Jugend, der Sonnenschein seiner Manneskraft und der Abendstern, der ihm zur ewigen Ruhe gewinkt hat.«
»Von wegen Deutschland!«, kam es von den Gegnern Jahns. »Ein preußisch-deutsches Erbkaisertum hat er angestrebt. Wir, die Republikaner, Arbeiter und Thronvernichter, wir rufen dir zu: Hinweg mit dir, Friedrich Ludwig Jahn, du elender Demokratenfresser!«
»Ach was!«, rief der Chor der Jahn-Befürworter. »Die Feinde Jahns waren die eigentlichen Demokratenfresser der Metternichzeit. Sie haben ihn jahrelang in Festungshaft gehalten und in die Verbannung geschickt – als Dank dafür, dass er die deutsche Jugend mit seinen Leibesübungen wehrhaft gemacht hat und Deutschland so die Befreiungskriege gegen Napoleon gewinnen konnte.«
Der Chor der Jahn-Gegner lachte schallend. »Womit er allen Demokraten einen Bärendienst erwiesen hat, denn die Franzosen haben Europa fortschrittliche Ideen gebracht, nach ihnen kam aber eine finstere Zeit.« Er stimmte nun die Marseillaise an.
Allons enfants de la Patrie,
le jour de gloire est arrivé!
Contre nous de la tyrannie,
l’étendard sanglant est levé.
Jahn hielt sich die Ohren zu und war entsetzt. »Mein Gott, das mir! Es ist die reinste Folter für mich, Französisch zu hören.«
Auch die Jahn-Freunde reagierten mit Abscheu und Empörung auf die französische Nationalhymne. »Es ist schäbig von euch, ihn so zu verspotten. Er war gutmütig, zart gegenüber dem anderen Geschlecht, und er besaß einen ausgeprägten Familiensinn. Grenzenlose Hilfsbereitschaft zeichnete ihn aus, und er hat ein Leben lang unbeirrt für das gekämpft, was er als gut, rechtens und anständig ansah.«
»Er war wild, ungezügelt, herrschsüchtig und überheblich. Und immer wollte er der Erste sein«, konterte die Gegenseite.
Jetzt wollte ich auch einmal etwas sagen. Da ich in meiner Familie und in meinem Freundeskreis auch immer um Gehör kämpfen musste, wusste ich, dass man nur eine Chance hatte, wenn man einfach dazwischenging. »Jahns Schwärmerei für das Preußentum ist doch eher tragisch zu nennen, denn er wurde zum Opfer dessen, was er angebetet hat, ein Verfolgter des Preußen-Regimes!«, rief ich. »Und wenn sich jemand der deutschen Sprache widmet, dann ist das doch verdienstvoll. Sprachpurismus ist etwas, über das man diskutieren muss, gestern wie heute. Seht euch die Franzosen an, wie sie gegen alle Anglizismen kämpfen!«
»Unser Turnvater hat die deutsche Sprache über alles geliebt«, ergänzten die Jahn-Anhänger.
Deutscher, sprich deutsch!
Deine Rede sei klar und rein!
Drum fasele nicht und deutele nicht
sondern antworte »ja« oder »nein«!
»Wir wiederholen es gern für alle: Sein Ziel war das Heil unserer teuren Muttersprache«, fügte die Turnerriege an.
Das war das Stichwort für Friedrich Ludwig Jahn. »Deutscher, der du vorbeigehst und deine Muttersprache noch nicht verlernt hast, vernimm meinen Wahlspruch: Schande, Elend, Fluch, Verderben und Tod über dich, so du vom Ausland den Heiland erwartest!«
»Der Jahn ist doch nichts weiter als ein Vorgänger der Nationalsozialisten!«, schrie einer, der sich schwarz vermummt hatte. »Nazis raus! Nazis runter vom Denkmal!«
Jahns Freunde stimmten nun eines der Turnlieder an, die man im Jahre 1811 vielerorts gesungen hatte.
Deutsch zu denken, deutsch zu handeln,
stets den graden Weg zu wandeln,
ist des Deutschen Biederpflicht.
Dieses, Brüder, lasst uns üben,
nur das Deutsche lasst uns lieben,
es ist gut, das Fremde nicht.
Einer von den Jahn-Gegnern tippte sich an die Stirn und rief: »Das ist doch ein Eigentor, merkt das denn keiner von euch? Es gibt keinen gefährlicheren Feind für das wahre Deutschtum als diese Deutschtümelei, die alles lächerlich macht.«
»Apropos lächerlich«, ergänzte sein Nebenmann, »da schlug der Jahn doch allen Ernstes vor, an der deutschen Westgrenze einen mehrere Meilen breiten Sumpfgürtel anzulegen, in dem wilde Tiere die Franzosen daran hindern sollten, nach Deutschland zu kommen und ihren verderblichen Einfluss auszuüben, insbesondere auf die Jugend und die Frauen.«
Die Jahn-Verteidiger lenkten nun ein. »Schön und gut, halten wir es mit Goethe und seinem Götz von Berlichingen: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.«
»Ach ja, das Theater … «, seufzte die Gegenseite. »Jahn wollte, dass nur noch ein Theaterstück in Deutschland gespielt wird: Die Hermannschlacht.«
»Und eine monumentale Hauptstadt sollte es geben«, fügte ein anderer hinzu. »Teutonia. Germania hieß sie später bei Hitler.«
»Was kann Jahn dafür, dass er von Hitler vereinnahmt worden ist?«, fragten seine Verehrer.
Ich presste die Fäuste gegen die Schläfen und brachte meinerseits Goethe ins Spiel. »Mir wird von alledem so dumm,/Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.« Dann riss ich mich zusammen und besann mich meiner Bildung. »Kinder, bedenkt bitte die Lage in Deutschland nach den Befreiungskriegen! Dem Deutschen Bund gehörten 41 souveräne Fürstentümer und freie Städte an, als er am 8. Juni 1815 auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufen wurde. Die Menschen mussten sich an Grenzen und Zollkontrollen sowie an neue Maße gewöhnen. Es gab nicht einmal eine richtige deutsche Hochsprache. Die oberen Schichten sprachen französisch oder latein. Es ist verständlich, dass unter diesen Umständen viele von einem einigen Vaterland träumten.«
»Halt’s Maul, du Nationalist!«, rief einer aus dem Block der Linken.
Da schrie ich: »Ich bin begeisterter Europäer und wünsche mir die Vereinigten Staaten von Europa lieber heute als morgen, aber man wird doch noch den Versuch machen dürfen, die Menschen von damals zu verstehen!«
Die Jahn-Freunde pflichteten mir bei. »Damals hat ein großer Teil der Jugend die Turnerei begeistert begrüßt. Sie gab Kraft und steigerte das Selbstwertgefühl.«
Jahn gab sich nun würdig und bedeutsam. »Der Mensch muss auf Körper und Geist achten und beiden die bestmögliche Entwicklung zukommen lassen.«
»Frisch, frei, fröhlich und fromm!«, riefen seine Fans und begannen, ein Lied aus der Zeit des Vormärz zu singen:
Turner, auf zum Streite!
Tretet in die Bahn.
Kraft und Mut geleite
uns zum Sieg hinan!
Ja, zu hehrem Ziel
führet unser Spiel.
Auf denn, Turner, ringet,
prüft der Sehnen Kraft.
Doch zuvor umschlinget
euch als Bruderschaft.
Großes Werk gedeiht
nur durch Einigkeit.
Die Jahn-Gegner blieben unbeeindruckt. »Er war außerdem Antisemit!« Sie gerieten zusehends in Rage und verlangten nach einer Stange Dynamit. »Dieses Denkmal hier sollte endlich in die Luft gesprengt werden. Zumindest sollte man es abreißen – wie das von Lenin.«
»Das Denkmal bleibt!« Die Turner stellten sich schützend davor. »Es ist die Pflicht des deutschen Volkes, dem Manne die Ehre zu erweisen, der die Jahre seiner Jugend hingegeben hat, um das Bewusstsein deutscher Einheit und Kraft zu wecken.«
Jahn verlor die Fassung und polterte los: »Zum Teufel mit euch Linken, die ihr Deutschland mit einer Revolution von allen Übeln befreien wollt! Lügner und Betrüger seid ihr, Abenteurer und Gelichter, Advokaten von schlechtem Ruf, Ärzte mit Kirchhofpraxis, verdorbene Schauspieler, liederliche Studenten, verrückte Schulmeister, vom Professor bis zum Arschpauker, und im Handel zugrundegegangene Kaufleute. Ihr Götzen, die der Pöbel anbetet!«
Ich klatschte Beifall. »Bravo, so liebe ich meine Helden!«
Nun nahmen die Jahn-Gegner mich aufs Korn. »Bosetzky, lass dein Jahn-Buch sein/Sonst schmeißen wir dir alle Scheiben ein!«
Ich hatte gehofft, dass Jahn mich in Schutz nehmen würde, doch auch er begann, mich verbal zu attackieren. »Herr Bosetzky, Sie hatten im Turnunterricht immer eine Fünf. Sie sind doch überhaupt nicht in der Lage, etwas über die Turnerei zu schreiben!«
»Das mag sein, aber im Sommer hatte ich in der Leichtathletik immer eine Eins, und in meiner Jugend war ich einmal schnellster Hundertmeterläufer in Berlin.«
Nun erschien auch noch mein Verleger auf der Bildfläche. »Der Name Bosetzky steht für Berlin-Romane, Jahn ist aber kein Berliner und hat nur wenige Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbracht.«
»Aber Brandenburger ist er wenigstens, er stammt aus der Prignitz«, hielt ich ihm entgegen. »Außerdem stelle ich ihm in meinem Roman einen Freund zur Seite, Philipp Pulvermacher, der in Berlin wohnt und stets anwesend ist, wenn in der Stadt Geschichte geschrieben wird. Entscheidend aber ist: Friedrich Ludwig Jahns Leben ist so voller Geschichten, dass ich nicht widerstehen kann, darüber zu schreiben. Oder wie er selbst wahrscheinlich sagen würde: Es ist ein gefundenes Fressen.«
Weiter kam ich nicht, denn Jahn und die Hasenheide wurden plötzlich wie zu Beginn des Stücks von gleißendem Licht erfüllt. Mir wurde schwindlig. Da wusste ich endlich, was mit mir geschehen war: Ich war stark unterzuckert. Instinktiv fuhren meine Hände in die Taschen meiner Lederweste und fischten ein paar zerbröselte Traubenzuckerplättchen heraus. In diesem Moment packten mich zwei Zivilfahnder von hinten und nahmen mich fest – wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nun, zerbröselten Traubenzucker kann man schon einmal für Rauschgift halten. Besonders in der Hasenheide. Eine Joggerin hatte eine kleine Flasche Apfelsaft bei sich und konnte mich retten. Sonst wäre dieser Roman nicht entstanden.
So breite ich also Jahns Leben vor Ihnen aus.
1
Der Herr segne dich
1785 – 1791
Prächtig und machtvoll wie Moses stand sein Vater oben auf der Kanzel und wies den Menschen die Richtung. Für die Predigt an diesem Sonntag hatte er sich eine Stelle aus dem Matthäus-Evangelium ausgesucht. Er begann mit dem zweiten Vers aus dem dritten Kapitel.
»Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Buße tun, liebe Gemeinde, was heißt das? Es bedeutet Umkehr zu Gott, nicht nur im Denken, sondern auch in unserem täglichen Handeln. Es bedeutet, nicht schlecht über unseren Nächsten zu reden, ihn nicht zu hassen und ihm nicht zu schaden, sondern ihn gern zu haben und ihm Hilfe zuteilwerden zu lassen, denn wir sollen unseren Nächsten lieben wie uns selbst und nach den zehn Geboten handeln. Am wichtigsten ist der Gehorsam gegenüber Gott und gegenüber der Obrigkeit, denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott. Die Umkehr zu Gott schließt auch eine Abkehr von allen bösen und widergöttlichen menschlichen Neigungen und Schwächen ein.«
Nun las der Vater seiner Gemeinde die Leviten, und Friedrich Ludwig Jahn, gerade sieben Jahre alt geworden, hatte seine Freude daran, wie sich die Zuhörer hinter den Rücken ihrer Vordermänner duckten. Dachte er an seine eigenen Sünden, musste er sich eingestehen, dass er einiges auf dem Kerbholz hatte, zusammen mit seinem Freund Philipp. Sie hatten dem Vater den Ärmel seines Hemds zugenäht, so dass er am Morgen mit der Hand steckengeblieben war und gotteslästerlich geflucht hatte. Sie hatten, als sie den Knechten und Mägden auf den Feldern das Mittagessen bringen sollten, unterwegs die Hälfte selbst aufgefuttert. Sie hatten bei ihren Schießübungen mit Pfeil und Bogen dem Nachbarn Galow die Scheibe seiner guten Stube zerschossen. Sie hatten der Mutter die frische Milch weggetrunken und die fehlende Menge durch Brunnenwasser ersetzt, so dass ihr das Buttern völlig misslungen war.
Da jedoch alle Streiche aufgeflogen waren und er ein jedes Mal gehörig Prügel erhalten hatte, wollte Friedrich Ludwig nicht recht einsehen, warum er jetzt noch Buße tun sollte.
Der Vater las nun wieder aus dem Matthäus-Evangelium vor: »Als nun Jesus an dem Galiläischen Meer ging, sah er zwei Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andreas, seinen Bruder, die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!«
Menschenfischer – das gefiel ihm, das wollte er später auch einmal werden. So wie Jesus Christus oder Martin Luther oder Friedrich der Große. Dann konnte er sich hinstellen und sagen: »Alles hört auf mein Kommando!« Und die anderen würden ihm folgen und nicht murren oder mit Lehmklumpen werfen.
Jetzt kam das Schönste am sonntäglichen Gottesdienst. Der Vater hob die Arme, um den Segen zu sprechen. Alle waren sie aufgestanden und hörten die Worte, die ihnen so guttaten wie eine Wundermedizin und ihnen die Kraft gaben, bis zum nächsten Sonntag alle Mühen und Leiden dieser Welt geduldig zu ertragen. »Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«
Bei der Kirche des Dorfes Lanz handelte es sich um einen kleinen, schmucklosen Bau mit dicken Feldsteinmauern und einem hölzernen Turm. Es war märkischer Stil, typisch für die Prignitz. Alexander Friedrich Jahn arbeitete seit 1767 als Pastor in Lanz. Seine Vorfahren waren aus Böhmen ins Land gekommen und hatten als Pfarrer, Rathsherren und Richter im nordwestlichen Teil Brandenburgs gewirkt. Seine Frau Dorothea, eine geborene Schultze, entstammte einer Pfarrersfamilie. 1775 waren sie die Ehe miteinander eingegangen. Zwei Kinder hatte der Herr ihnen geschenkt: am 20. Mai 1776 die Tochter Elisabeth Maria Anna und am 11. August 1778 den Sohn Friedrich Ludwig.
Die herausragendsten Ahnen waren von mehr oder minder begabten Künstlern porträtiert worden und hingen nun in Öl im Flur des Pfarrhauses. Alexander Friedrich Jahn ließ kaum eine Gelegenheit aus, sie seinen Kindern näherzubringen. »Das hier ist Magnus Jahn, Rathsherr zu Havelberg. Der Ort macht als alte Bischofsstadt schon eine Menge her. Das Gemälde muss Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sein. Daneben haben wir, etwas später, Arnoldus Jahn, Richter in Plattenburg, und Christopherus Jahn, den ersten Prediger in unserer Familie, euren Urgroßvater. Gelebt hat er von 1676 bis 1755. Rechts außen hängt euer Großvater, Christoph Friedrich Jahn, 1713 bis 1763, auch er Pfarrer in der Prignitz, im Dorfe Vehlin.«
Sosehr der junge Friedrich Ludwig auch beeindruckt war, ihm kam doch der Gedanke, dass alle seine Vorfahren recht eigentlich kleine Lichter gewesen waren und nur in gottverlassenen Nestern gesessen hatten. Keiner war nach Potsdam oder gar nach Berlin an den Hof des Königs gerufen worden, geschweige denn nach Wien, wo der Kaiser residierte. Es schmerzte ihn ein wenig, dass es keinem seiner Ahnen gelungen war, sich in der großen weiten Welt einen Namen zu machen.
Der Vater hätte das Zeug dazu gehabt. Er hatte in Halle studiert und in Berlin, in der Nikolaikirche sogar, mit Bravour seine Probepredigt gehalten. Doch dann war er nach Lanz gegangen, froh und glücklich darüber, nun als wohlbestallter lutherischer Prediger eine Familie gründen zu können. Stark war er, außerdem ein hervorragender Kanzelredner und hochgebildet. Tagelang konnte er über theologischen Fragen brüten. Er liebte aber auch das Landleben, baute Hopfen an und züchtete Schafe. Friedrich Ludwig bewunderte ihn, auch wenn er ihn gern als Domprediger oder Bischof gesehen hätte.
Die Mutter, Dorothea Sophia, stammte aus dem nahen Lenzerwische. Sie war derb und bieder, stark im Glauben und streng in ihren Moralvorstellungen. Zeitlebens redete sie ihren Mann mit »Ihr« an, trug Kleider aus selbstgesponnenen Stoffen und lief wie eine Bäuerin durchs Dorf. Friedrich Ludwig litt unter ihrer Härte, nie nahm sie ihn in den Arm. Andererseits verteidigte sie ihn ohne Wenn und Aber, wenn er Streit mit anderen Jungen hatte. Dann konnte sie zur Furie werden. Auch half sie allen, die in Not geraten waren. Und sie hatte ihm früh, schon als er vier Jahre alt gewesen war, das Schreiben und Lesen beigebracht. »Deine Fibel sei die Bibel!«, so ihre Devise. »Fritz, was heißt das hier?«
»Der … der … elfte Salm.«
»Psalm! Mit P, wie beim Pferd. Salm ist ein anderes Wort für Lachs. Lies das, was ich unterstrichen habe!«
»Der Herr … prüft den Ge-rech-ten; seine Seele hasst den Gott-lo-sen und die ger-ne fre-veln.« Mühsam brachte Friedrich Ludwig die Wörter zusammen.
»Nicht so stockend! Weiter!«
»Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze, Feuer und Schwefel …«
»Das merke dir fürs Leben!«
Er folgte diesem Rat. Und dank der harten Schule seiner Mutter konnte er später immer mit Bibelzitaten glänzen.
Über Lanz war nicht viel zu sagen. Es handelte sich um ein Runddorf, in dem sage und schreibe 335 Einwohner lebten. Bis zur Elbe hatte man rund drei Kilometer zu laufen, bis nach Lenzen, dem nächstgrößten Städtchen im Westen, neun Kilometer. Bis Wittenberge im Südosten war es mehr als doppelt so weit. Die Bauern in der Gegend profitierten vom Hopfenanbau, der ihnen recht viel Geld einbrachte. Als reichster Hopfenbauer galt Germanus Pulvermacher, mit dessen ältestem Sohn Philipp Friedrich Ludwig Jahn eng befreundet war.
Gern liefen sie beide zur Elbe, genauer gesagt, Friedrich Ludwig überredete Philipp dazu, denn schon früh ließ er einen Wandertrieb erkennen, den sein Vater als angeboren zu bezeichnen pflegte. Abenteuerlust und ein Hang zum Träumen kamen hinzu.
»Wenn ich jetzt ein Boot hätte, würde ich damit nach Hamburg fahren«, sagte Friedrich Ludwig Jahn.
»Weißt du, wer in Hamburg König ist?«, fragte Philipp Pulvermacher.
Jahn überlegte. »Mein Vater sagt, da geben die Pfeffersäcke den Ton an.«
»Philipp I. aus dem Hause Pfeffersack. Ich verstehe, was bei uns die Hohenzollern sind, das sind bei denen die Pfeffersäcke.«
»Unsinn!«, kommentierte Jahn.
»Wieso Unsinn? Bei uns in der Prignitz haben wir doch sogar Gänse, die so was wie Fürsten sind.« Er meinte die Familie Gans Edle Herren zu Putlitz, die dem märkischen Uradel angehörte.
Jahn wechselte das Thema und zeigte auf die leere Rotweinflasche, die er von seinem Vater stibitzt hatte. »Darin war der Messwein.«
»Zum Messen nimmt man einen Zollstock und keinen Wein«, stellte Pulvermacher fest. »Der ist doch viel zu schade dazu.«
»Wenn du mich für dumm verkaufen willst, dann setzt es was!« Jahn hielt die Weinflasche vor sich wie ein Schwert.
»So etwas würde ich nie tun!«, versicherte Pulvermacher.
»Das will ich dir auch geraten haben.« Jahn überlegte. »Wir verschicken eine Flaschenpost.«
Pulvermacher nickte. »Auf den Zettel schreiben wir: Kommt alle am Sonntag in die Kirche, da predigt mein Vater Alexander Friedrich Jahn!«
Wieder holte Jahn aus. »Noch ein Wort … «
Pulvermacher duckte sich unwillkürlich, denn er wusste, dass der Freund sehr jähzornig werden konnte. Das hatte er von seiner Mutter geerbt. »Entschuldige bitte!«
Jahn holte einen Bleistift und ein Stück Papier hervor. Dann schrieb er:
Wier sitzen auf einer einsammen Inßel bei Lenzen fesst. Retet unß!
Nachdem sie die Flaschenpost ins Wasser geworfen hatten, setzten sie sich auf die Uferböschung und hofften, dass bald ein Schiff vorüberkommen würde.
Was aber aus Richtung Schnackenburg angeschwommen kam, war ein Mensch. »Den muss ich rausfischen!«, schrie Jahn.
Wieder konnte Philipp Pulvermacher nicht anders als zu spotten. »Selbstverständlich, du als Menschenfischer! Der ist doch längst tot.«
»Das weißt du doch gar nicht!« Damit sprang Jahn in die Elbe. Das Ufer war meist flach, weshalb er dachte, einen Rettungsversuch wagen zu können Er geriet aber in eine Senkung, welche die Strömung ausgespült hatte, und war im Nu untergegangen. Schwimmen konnte er nicht. Aber er kam noch einmal kurz nach oben. »Hilfe, ich ertrinke!«
»Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. So steht es im Brief des Paulus an die Römer, und deshalb können wir gewiss sein, dass es der Herr selbst war, der uns einst unseren verstorbenen König geschenkt hat.«
Am 17. August 1786, einem Montag, war Friedrich II. von Preußen, auch bekannt als Friedrich der Große oder der Alte Fritz, in Sanssouci verstorben. Selbstverständlich hatte Alexander Friedrich Jahn am darauffolgenden Sonntag in seiner Predigt auf dieses Ereignis einzugehen. Zuerst ließ er die Gemeinde singen, um danach an die erste Zeile des Liedtextes anzuknüpfen.
Nun danket alle Gott
mit Herzen, Mund und Händen,
der große Dinge tut
an uns und allen Enden,
der uns von Mutter Leib
und Kindesbeinen an
unzählig viel zu gut
und noch jetzund getan.
»Nun danket Gott alle für diesen König, der so viel Gutes getan hat in Preußen. Wie hat er unser Land vergrößert! Die Zahl seiner Untertanen hat er verdoppelt, Westpreußen mit Danzig, Elbing und Thorn hat er dazugewonnen, auch Schlesien mit Breslau, der prächtigen Stadt an der Oder, und noch Gebiete in Polen, dem Ermland und in Ostfriesland. Wir brauchen uns nicht länger hinter Frankreich, Österreich und Russland zu verstecken, wir sind jetzt eine der großen Mächte in Europa. Aber nicht nur als Eroberer, auch als Musiker, Philosoph, Schriftsteller und Bauherr ist Friedrich der Große hervorgetreten. Ich zögere nicht, ihn einen Polyhistor zu nennen, ein Universalgenie. Jeder soll nach seiner Façon selig werden, das war seine Maxime. Damit hat er die Urformel der Toleranz geschaffen. Er hat die Folter abgeschafft, seine Untertanen vor Justizwillkür geschützt, auf die Einführung der Schulpflicht gedrängt und mit dem vermehrten Anbau von Kartoffeln dem Hunger ein Ende bereitet. Ja, meine liebe Gemeinde, der Herr hat uns mit Friedrich dem wahrhaft Großen ein unfassbar großes Geschenk gemacht.«
Als man nachher im Dorfkrug beim Frühschoppen beieinandersaß, stimmten die meisten der Predigt zu, es war aber auch vereinzelt Kritik zu hören, insbesondere von Germanus Pulvermacher, Philipps Vater. Der war eigentlich von seiner Familie dazu auserkoren gewesen, Rechtswissenschaften zu studieren, hatte aber das Studium ohne Abschluss beendet und war nach Lanz zurückgekommen, als sein Bruder starb und niemand sonst da war, den väterlichen Hof weiterzuführen. Es gab im Dorf kein Rittergut und keine Pächter, jeder war sein eigener Herr, was er als sehr verlockend empfunden hatte. Mit dem Pfarrer zusammen bildete er die geistige Elite in Lanz, doch in ihren Ansichten lagen sie zumeist weit auseinander, denn während der Hopfenbauer Pulvermacher eher Weltbürger war und eine republikanische Verfassung favorisierte, wie sie zum Beispiel San Marino hatte, war Pfarrer Jahn ein bodenständiger Mensch und konnte sich keine andere Staatsform als die Monarchie vorstellen. »Friedrich II. wird zu Recht Friedrich der Große genannt«, wiederholte Alexander Friedrich Jahn.