Tod im Thiergarten

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Vier

Die Firma Kahlbaum & Gillieux gab es seit 1702, als sich der einheimische »Kleydermacher« Johann Georg Kahlbaum und der Schneidermeister Louis Gillieux aus der französischen Kolonie zusammengetan hatten, um Uniformen für die Grenadiere des Preußenkönigs zu schneidern. Das Geschäft expandierte, und man warf sich bald nach der Gründung auf Gesellschafts- und Brautkleider, denn im aufblühenden Berlin gab es Hofbälle und Redouten in großer Zahl, seit Andreas Schlüter das bescheidene Hohenzollernschloss an der Spree zu einer großartigen Königsresidenz umgebaut und erweitert hatte. Vor allem auf dem Werder ging es betriebsam zu, und Kahlbaum & Gillieux in der Unterwasserstraße war mittenmang. Lange Zeit war man auf einer Welle des Erfolgs geschwommen, nun aber, da man schon den einen oder anderen Gedanken an das 150. Jubiläum verschwendet hatte, war die Krise gekommen. Das mochte vielerlei Gründe haben: Vielleicht war Ludwig Kahlbaum, der das Geschäft jetzt führte, kein genialer Kaufmann, und vielleicht hatten er und sein Bruder Magnus für den privaten Gebrauch zu viel entnommen, vor allem aber fiel ins Gewicht, dass die Konkurrenz von Jahr zu Jahr größer und härter geworden war. Der Hofkleidermacher Johann Simon Freytag hatte ihnen viele gutbetuchte Kunden und Kundinnen abgeworben, und auch Nathan Israel vom Molkenmarkt lockte immer mehr Leute mit seinem

»Leinwandkram« und seiner Konfektionsabteilung en gros in sein Geschäft. Dazu kamen als ernsthafte Konkurrenten Hermann Gerson, der 1836 sein Modehaus eröffnet hatte, Valentin Mannheimer und David Leib Levin, die in der Oberwallbeziehungsweise Gertraudenstraße Damenmäntel herstellten, und schließlich Heinrich Jordan, der in der Markgrafenstraße Wäscheausstattungen verkaufte und als Erster in eigener Werkstatt Leib- und Bettwäsche herstellte.

Der letzte männliche Spross der Familie Gillieux war am 27. Oktober 1806 verstorben - just an dem Tage, als Napoleon I. seinen Einzug in Berlin gehalten hatte. Obwohl nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt in Preußen die Devise ausgegeben worden war

»Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht«, hatte sich Jean-Baptiste Gillieux über die Geschehnisse so erregt, dass er nach einem Schlaganfall verstorben war. Jahre zuvor aber hatte seine Tochter Cathérine einen Friedrich Kahlbaum geheiratet, und 1797 war ihr Sohn Magnus auf die Welt gekommen. In Magnus Kahlbaum floss also noch eine Menge hugenottischen Blutes, und manch einer führte seinen »unpreußischen« Charakter auf diesen Umstand zurück. Auch hätte er auf den ersten Blick als Franzose durchgehen können, war er doch auffallend schlank und schwarzhaarig und konnte einen Charme an den Tag legen, der im eher spröden Brandenburg-Preußen nur selten anzutreffen war. Zudem war er beredt und in allen Künsten zu Hause, verstand auch einiges von Philosophie und anderen Geisteswissenschaften, hatte ja auch nie seine Zeit damit verbringen müssen, als Handwerker, Kaufmann oder Beamter des schnöden Mammons wegen von morgens bis abends anderen Herren zu dienen, denn als Teilhaber der Firma Kahlbaum & Gillieux fiel ihm das Geld sozusagen in den Schoß. Auch einer Heirat war er bislang, obwohl er nun auch schon 45 Lenze zählte, aus dem Wege gegangen, und wer ihn deswegen einen Feigling nannte, dem kam er damit, dass er im Herbst 1813, als es bei der Schlacht von Großbeeren gegen Napoleon gegangen war, so tapfer seinen Mann gestanden hatte, dass ihm ein hoher Orden verliehen worden war. Viele nannten ihn einen Müßiggänger, er aber sah sich als Flaneur und einen, der in Tradition des Taugenichts stand, wie er in Joseph von Eichendorffs Novelle beschrieben worden war: Der Taugenichts selber ist nutzlos und sieht die Welt als Ganzes auch als nutzlos an. Auf der Suche nach dem Glück und der allerschönsten Frau zieht er mit seiner Geige durch die europäischen Lande.

Nach seiner langen Reise durch Italien hatte sich Magnus Kahlbaum eine herrschaftliche Wohnung in der Neuen Friedrichstraße gemietet, deren eines Zimmer so abgedichtet worden war, dass er stundenlang Geige spielen konnte, ohne die anderen Hausbewohner übermäßig zu belästigen. Sein Lieblingsstück war die Romance von Étienne-Nicolas Méhul. Er widmete es der Schauspielerin Amanda Niemann, mit der er die Nacht in einem Hotel verbracht hatte, in dem man zu schweigen wusste. Nachdem er den Geigenbogen aus der Hand gelegt hatte, setzte er sich an seinen Sekretär, um ein Gedicht zu schreiben, das er ihr mit einem Boten zukommen lassen wollte:

Halt mich fest mit beiden Händen

Und lass mich augenblicklich los!

An diesem Zwiespalt muss ich noch verenden, Was tue ich denn bloß?

Es klopfte an die Tür, und Fräulein Köster, seine Haushälterin, brachte ihm das Frühstück. Mit ihren Pudellöckchen sah sie aus, als sei sie eine Hofdame aus den Zeiten Friedrichs des Großen. Als solche fühlte sie sich auch, was dazu führte, dass sie kaum Umgang mit Frauen ihres Standes pflegte und Kahlbaum daher kaum etwas von dem berichten konnte, was das gemeine Volk bewegte. Es interessierte ihn auch wenig, obwohl er klug genug war, um zu ahnen, dass die Bürger in allen deutschen Staaten den Aufstand gegen ihre Fürsten schon gedanklich probten. Man hörte ja so einiges.

»Haben Sie spezielle Wünsche für den heutigen Tag, Herr Kahlbaum?«, fragte ihn Fräulein Köster.

»Keine, die sich erfüllen ließen«, lautete seine Antwort, und bei Lichte besehen, hatte er eigentlich überhaupt keine Wünsche, abgesehen von dem einen, den er keinem anderen mitteilen mochte, ja den er zu denken sich selbst verbot. Er konnte nicht anders, als sich treiben zu lassen und dabei zu hoffen, dass etwas Einzigartiges geschah. Nahm er Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts, so gehörte er recht eigentlich zu den beiden Charaktertypen, die dort agierten, das heißt, er war sowohl der Romantiker, der optimistisch in die Zukunft blickte und mutig, naturverbunden und abenteuerlustig war, dies sicherlich zu größeren Teilen - aber auch der Philister, der als pessimistisch, träge und langweilig zu bezeichnen war.

»Gehen Sie noch aus?«, wollte Fräulein Köster wissen.

Kahlbaum sah aus dem Fenster. Es war ein herrlicher Maientag. »Ja, die blaue Blume suchen.« Und er ging an sein Bücherregal, zog seinen Novalis hervor und zitierte aus dem Heinrich von Ofterdingen : »Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken.«

»Meine blaue Blume ist die Kornblume«, erklärte Fräulein Köster. »Und die liebe ich am meisten, wenn sie neben dem roten Mohn und der weißen Margerite wächst.«

Magnus Kahlbaum blickte auf. »Wenn ich die Wahl zwischen einem Schlachtund einem Kornfeld habe, wähle ich auch Letzteres, obgleich ich ohne das Schlachtfeld von Großbeeren nicht der wäre, der ich heute bin.« Er wusste genau, dass er ohne sein damaliges Heldentum und die Tatsache, dass er als Jüngling bereit gewesen war, sein Leben für Preußen hinzugeben, es schwer gehabt hätte, von der politischen Polizei nicht als Demagoge verfolgt zu werden, denn zu nahe stand er der Reformpartei und wünschte sich für Preußen eine Verfassung, wie sie in den Vereinigten Staaten von Amerika beschlossen worden war.

Kahlbaum kleidete sich an und machte sich auf, durch Berlin zu streifen. Er fühlte sich ganz als Jäger. Nicht auf Rehe und Hirsche war er aus, sondern auf Begegnungen, Neuigkeiten, Abenteuer. Von der Neuen Friedrichstraße kam er rechts in die Klosterstraße und schlenderte Richtung Königstraße. Sie beide, dazu die Spandauer Straße und den Mühlendamm liebte er ganz besonders, da sie in ihrer krummen, winkligen Bauart und mit den ganz verschiedenen Häusern noch die Spuren des mehr und mehr verschwindenden Mittelalters zeigten. Die Königsstadt war der lebendigste Stadtteil, sie war das Viertel des gewerbetreibenden Volkes und der Juden. Es ging hier so geschäftig zu wie in einem Ameisenhaufen. Parterrewohnungen existierten nur in wenigen Ausnahmen, die meisten waren zu Läden und Warenlagern umgewandelt worden. Selbst die vielen Bierlocale - so Dahmeß in der Neuen Königstraße und Sichen in der alten Post - waren mehr oder weniger Geschäftslocale geworden, in denen man das Nützliche mit dem Angenehmen verband. In diesem Teil Berlins lagen auch die Gasthöfe, die von den Handlungsreisenden, den commis voyageurs, bevorzugt frequentiert wurden. Mit ihnen nahm Magnus Kahlbaum gern Kontakt auf, denn sie hatten immer bemerkenswerte Anekdoten zu erzählen.

Bis zur Langen Brücke kam er, ohne dass er einem bekannten Gesicht begegnet wäre. Ein wenig enttäuscht blieb er am Geländer stehen und sah auf die trüben Wasser der Spree hinunter. Ein Lastkahn trieb Richtung Schleuse. Er erinnerte sich daran, dass Friedrich der Große - fast hundert Jahre war es her - hier in finsterer Nacht gestanden hatte, um den Silberschatz der Hohenzollern heimlich fortzuschaffen und zu Geld zu machen, das er für seine Kriege brauchte.

Als Kahlbaum wieder aufblickte und weitergehen wollte, kam ihm Giacomo Meyerbeer entgegen. Man kannte sich von der »Gesellschaft der Freunde« her, einem 1792 gegründeten jüdischen Wohlfahrtsverein, in dem sich jüdische Aufklärer trafen und der sich allmählich zum kulturellen Zentrum des Berliner Judentums entwickelte. Magnus Kahlbaum hatte dort mehrfach zu Gast sein dürfen. Meyerbeer, eigentlich Jakob Meyer Beer, 1791 in der Nähe Berlins zur Welt gekommen und Sohn des jüdischen Zuckerproduzenten Jacob Herz Beer, war nach Lehr- und Wanderjahren in Wien, Paris und Italien zu einem erfolgreichen Komponisten herangereift. Seine 1831 in Paris uraufgeführte Oper Robert le Diable hatte ihn ganz weit nach oben gebracht, so dass er von Kennern noch mehr gefeiert wurde als Rossini und Auber. Man begrüßte sich ausgesprochen kordial.

 

»Was treibt Sie wieder zu uns an den grünen Strand der Spree?«, fragte Kahlbaum, um sich die Antwort gleich selber zu geben. »Natürlich: Der König hat Sie ja als Nachfolger von Spontini zum Generalmusikdirector ernannt.« Gaspare Spontini, der Italiener, hatte sich in Berlin unbeliebt gemacht. Nicht einmal richtig deutsch zu sprechen, hatte er gelernt.

»Ja, es ist eine hohe Ehre.« Meyerbeer sah zum Schloss hinüber, als habe er sich immer wieder zu bedanken.

»Aber … Nun ja, ich liebe aber auch das Pariser Leben.«

»Man hört, dass Sie abwechselnd in Berlin und in Paris leben wollen …«

»So wird es wohl kommen, denn vier Monate im Jahr habe ich an der Berliner Oper das Amt des Dirigenten auszuüben. Ein schönes Ehrenamt.« Das war es für Meyerbeer, denn auf sein Gehalt von viertausend Thalern hatte er zugunsten der Kapelle verzichtet. »Aber morgen steht ja erst einmal die Berliner Erstaufführung meiner Hugenotten auf dem Programm - und da hoffe ich, Sie und Ihre Lieben im Parkett zu sehen!«

»Aber selbstredend!«, rief Magnus Kahlbaum.

Das Königliche Opernhaus Unter den Linden war unter Friedrich dem Großen nach Plänen des Freiherrn Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff erbaut und am 7. Dezember 1742 mit der Oper Cleopatra und Caesar von Carl Heinrich Graun, dem preußischen Hofkapellmeister, eröffnet worden.

Magnus Kahlbaum stand am Fuße der Freitreppe, die zu einem Portikus von sechs korinthischen Säulen führte, und sah zum Giebel hinauf, wo die Inschrift Fridericus Rex Apollini et Musis in der Abendsonne glänzte. Er wartete auf die Familie seines Bruders, aber die beiden Frauen, Clara, seine Schwägerin, und Luise, die Ziehtochter, hatten sich - wie immer - um einiges verspätet. Alles wuselte um ihn herum, und Magnus Kahlbaum genoss den Trubel. So hatte es in der Residenz einer europäischen Großmacht zuzugehen, und bald würde sich Berlin nicht mehr hinter Paris, London, Rom und Wien zu verstecken brauchen. Welche Queue, dachte er, welche Warteschlange, welcher Andrang! Einige stritten sich, es wurde nach dem Constabler und nach Arretierung gerufen. Nur mit ziemlicher Not war noch von einem Unterhändler ein Billet zur Tribüne zu erlangen.

»Was wird denn gegeben?«, hörte Magnus Kahlbaum jemanden fragen.

»Die Hugenotten von Meyerbeer.«

»Ach herrje!«, kam der Ausruf.

»Na, wenn Sie das nicht sehen und nicht hören wollen, so gehen Sie doch ins Schauspielhaus, da wird alle Tage Schiller, Goethe oder Shakespeare gegeben. Da ist immer noch Platz. Elastisch sein, mein Herr!«

Endlich stiegen die Seinen aus der Kutsche. Magnus Kahlbaum eilte hinzu, sie zu begrüßen. Die Damen erregten in ihrer erlesenen Garderobe sofort einiges Aufsehen, und Magnus Kahlbaum flüsterte seiner Nichte ins Ohr, dass sie nicht umsonst Luise hieße: »Du siehst wirklich aus wie eine junge Königin.«

Die Zeit bis zum Beginn der Vorstellung nutzte er, um seinen Bruder und seine Schwägerin mit den Hugenotten vertraut zu machen, denn nur Luise, um deren Bildung er sich stets bemüht hatte, wusste in etwa, worum es beim Libretto ging, das Eugène Scribe und Émile Deschamps geschrieben hatten.

»Das große Thema ist der Zwist zwischen den Katholiken und den Hugenotten. Protagonist ist Raoul von Nangis, ein protestantischer Adliger. Er ist zur Versöhnung mit den Katholiken bereit, nicht aber sein Bruder Marcel. Für die katholische Seite stehen die Grafen Nevers und Saint-Bris, der eine wunderschöne Tochter hat: Valentine. Raoul trifft sie und …«

»Hör auf!« Ludwig Kahlbaum, sieben Jahre älter als Magnus und durch und durch nüchterner Kaufmann, fasste sich an den Kopf. »Wer soll sich denn das alles merken? Und irgendwie interessiert es mich auch nicht, was damals in Frankreich war!«

»Liebes Bruderherz!«, rief Magnus Kahlbaum. »Alles, was die Hugenotten betrifft, sollte dich aber interessieren, schließlich waren unser Großvater und unsere Mutter genuine Hugenotten.«

»Wir sind Preußen und gehören zum Hofprediger Krummacher.«

»Gibt es auch was mit Liebe und Tod?«, fragte Clara Kahlbaum. Sie war eine geborene Kufahl, kam aus der Familie eines Kattundruckers und hätte, wie ihr Schwager Magnus hinter vorgehaltener Hand formulierte, in den Salon einer Henriette Herz oder Rahel Varnhagen in etwa so gepasst wie ein Kiesel in eine Sammlung von Smaragden und Opalen.

»Zum Schluss gibt Saint-Bris den Befehl, Raoul, Marcel und Valentine umzubringen, als sie sich als Hugenotten bekennen«, erklärte ihr Magnus.

»Warum denn das?«

»Weil Valentine zwar Nevers heiratet, aber Raoul nicht vergessen kann - ebenso wenig, wie er sie vergessen kann. Und als sie sich treffen, da …«

Clara Kahlbaum winkte ab. »Das ist mir alles viel zu kompliziert.«

»Und dann singen die alles auch noch«, sagte Ludwig Kahlbaum. »Ich möchte mal wissen, wie ich Geschäfte machen sollte, wenn sich meine Kunden und ich singend zu verständigen versuchen.«

Luise suchte zu vermitteln. »In der französischen Grand opéra ist es nun mal so, und das ist doch auch schön. Außerdem hat uns Onkel Magnus eingeladen.«

»Ja, von dem Geld, das ich mit Kahlbaum & Gillieux verdient habe«, brummte Ludwig Kahlbaum.

Magnus überhörte es und führte seine Familie ins Innere des Opernhauses und zu ihren Plätzen. Das Parkett war ausverkauft, aber der erste Rang wies noch freie Plätze auf.

Magnus Kahlbaum flüsterte seinem Bruder ins Ohr, dass dies ganz anders sei, wenn hier das Ballett auftrete.

»Dort sitzt dann die Garde und die Diplomatie, bewaffnet mit Operngläsern. Und die Herren und die Engel und Nymphen nehmen Kontakt miteinander auf. Mit ihren Reizen kann so eine Tänzerin ihre jährlichen Revenuen auf ungeahnte Höhen steigen lassen.«

Ludwig runzelte die Stirn. »Da spricht wohl jemand aus Erfahrung …«

Magnus wich einer direkten Antwort aus und kam dem Bruder mit einer Zeile aus dem Ring des Polykrates : »Sag doch zu mir: Fürwahr, ich muß dich glücklich schätzen!«

Sie setzten sich und warteten, dass sich der Vorhang heben möge. So prächtig das Haus auch war, Magnus Kahlbaum war zu sehr Ästhet, als dass er nicht seine Bedenken gehabt hätte. Vor allem das Proszenium erschien ihm zu mächtig und zu überladen, und die acht üppigen halbnackten Frauen, die sich an die Hauptpilaster schmiegten, entsprachen so gar nicht seinem Geschmack. Das war ihm zu viel Rubens. Er versuchte herauszufinden, was sie darstellen sollten. Die Klugheit, die Freude, die Kritik, die Furcht … Schon stockte er. Vielleicht noch den Witz und die Unschuld?

»Ich freue mich schon auf den Chor«, sagte Luise. Magnus Kahlbaum nickte. »Ja, es ist Spontinis Despotismus zu verdanken, dass er auf solche stolzen Höhen gestiegen ist, obwohl es schon wieder etwas abwärts mit ihm geht. Aber auch das Orchester verdient alle Hochachtung, denn jedes einzelne Mitglied ist ein Virtuose durch und durch, von der ersten Violine bis zum Paukenund zum Zimbelschläger.«

Nur hatte er an diesem Abend nicht viel von der Qualität dieses Orchesters, denn Meyerbeers Oper war für ihn eine riesige Enttäuschung und mit ihren fünf Akten auch viel zu lang. Es gab auch keine Arie, die sich ihm irgendwie eingeprägt hätte. Und wenn nicht diese fürchterlichen Claqueure gewesen wären, die ihn immer wieder weckten, hätte er es seinem Bruder gleichgetan und bis zum Schlussakkord geschlafen.

»Wir treffen uns am Sonntag auf dem Friedhof«, sagte Ludwig Kahlbaum, als der letzte Ton verklungen war.

»Wieso?«, fragte Magnus Kahlbaum. »Zur Beerdigung dieser Oper hier?«

»Nein, es jährt sich der Todestag unseres Bruders.«

Für die Gemeinden der Dorotheenstädtischen und der Friedrichswerderschen Kirche war 1763 der Acker hinter dem Oranienburger Thor als Begräbnisplatz angelegt worden. Die ersten Bestattungen hatten im Jahre 1770 stattgefunden. Zwischen 1814 und 1826 war der Dorotheenstädtische Kirchhof, der von der Chausseestraße aus zu erreichen war, dreimal erheblich vergrößert worden, und inzwischen gab es hier schon die letzten Ruhestätten vieler Persönlichkeiten der berlinischen, preußischen und deutschen Geschichte zu bestaunen. So ruhten an diesem Ort Johann Gottlieb Fichte († 1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel († 1831), Wilhelm von Hufeland († 1836) und Karl Friedrich Schinkel († 1841).

Magnus und Luise verhielten mit Ehrfurcht vor jedem dieser Gräber, während Ludwig Kahlbaum und seine Frau nur dem Arzt und dem Baumeister die gebührende Hochachtung zukommen ließen und bei Fichte und Hegel schnell weitergingen, denn für sie war jedes Philosophieren unnützer Firlefanz.

Dann waren sie am Grab von Heinrich Kahlbaum angekommen, dem mittleren der drei Brüder, geboren 1792 und verstorben am 20. Mai 1820 nach einem Schiffsunglück in der Nordsee. Neben ihm ruhte seine Ehefrau Amalie, deren Sarg zwei Jahre nach ihm in den märkischen Sand hinabgelassen worden war. Die Schwindsucht hatte sie dahingerafft, und Luise, ihre Tochter und damals gerade einmal vier Jahre alt, war von Ludwig und Clara Kahlbaum ins Haus genommen und aufgezogen worden. Sie hatte es immer gut gehabt bei ihren Zieheltern, war verwöhnt worden wie eine kleine Prinzessin, hatte aber auch, als sie herangewachsen war, die Regie im Haushalt übernommen, da es Clara Kahlbaum an Intelligenz wie an Übersicht fehlen ließ. Nun wäre Luise Kahlbaum mit Sicherheit zu einem ebenso bornierten wie beschränkten bürgerlichen Frauenzimmer herangewachsen, wenn da nicht ihr Onkel Magnus gewesen wäre, der sie stets mit geistiger Nahrung versorgt hatte. Er war mit ihr ins Museum, ins Concert, ins Theater und zu Ausstellungen gegangen, und er hatte ihr die höhere Literatur ins Haus gebracht, denn bei Clara gab es nur Kolportageromane zu lesen. So war sie irgendwie sein Geschöpf geworden, und wer seinen Ovid kannte, verglich Magnus Kahlenbaum mit Pygmalion.

»Möge er seinen Frieden gefunden haben«, sagte Ludwig Kahlbaum, und Magnus hörte dabei deutlich die posthume Kritik heraus: Auch Heinrich hatte sich, gleich ihm, nicht dazu entschließen können, ordentlicher Kaufmann zu werden und in die Firma Kahlbaum & Gillieux einzutreten, sondern war dem Charisma Alexander von Humboldts erlegen und hatte sich der Vulkanologie zugewandt. Das sei etwas sehr Nützliches, hatte der ältere Bruder gesagt, denn mit der Erforschung der brandenburgischen Vulkane ließe sich sicherlich eine Menge Geld verdienen.

Ungleicher hätten die drei Brüder nicht sein können. Ludwig, 1790 zur Welt gekommen, war der strenge preußische Geschäftsmann, ganz fokussiert auf Berlin und sein Handelshaus. Heinrich, 1792 geboren, war der schwärmerische Kosmopolit, der die Nachfolge Alexander von Humboldts antreten wollte und hochfliegende Pläne im Kopf hatte. Und Magnus, 1797 geboren und der jüngste der drei Brüder, wollte eigentlich nichts anderes, als sich dahintreiben lassen, sich selbst lieben und bewundern und seine Lust am Leben haben.

Nachdem sie ihres Vaters, Bruders und Schwagers gebührend gedacht hatten, fuhren alle mit der Kutsche, die Ludwig Kahlbaum für elf Uhr bestellt hatte, von der Chausseein die Unterwasserstraße, wo Ludwig für Clara, Luise und sich die Etage über dem Handelshaus Kahlbaum

& Gillieux zu einer Wohnung hatte herrichten lassen, wie sie einem Berliner Kaufmann angemessen war, der kurz davor stand, zum Commissionsrath ernannt zu werden. Die Wände des guten Zimmers waren mit mattgrüner leichter Seide bespannt, und um die weiße Decke zog sich eine schmale vergoldete Leiste. Symmetrisch waren an zwei Stellen Rosetten aufgemalt, in deren Mitte Kronleuchter aus Holzbronze mit je sechs Lichtern hingen. Die Möbel waren weiß, und auf ihrem harten Lack blitzte die Sonne. Die Seitenlehnen an den Sesseln und den beiden kleinen Bänken waren Schwanenhälsen nachgebildet. Der braune Fußboden war blank gebohnert. Alles war gediegen, nichts wirkte protzig, und man merkte sofort, dass der Hausherr der alten preußischen Devise »Mehr sein als scheinen« huldigte.

Ludwig Kahlbaum führte ein offenes Haus, und auch heute waren drei Gäste zu Tisch gebeten worden: Flora Obornik, eine Breslauer Cousine Clara Kahlbaums, die zu Besuch nach Berlin gekommen war, die Witwe Friederike Ferbitz, die von ihrem Mann, einem Fuhrunternehmer, verschiedene Häuser auf dem Werder geerbt hatte und eines von ihnen dem Handelshaus Kahlbaum & Gillieux als Lager vermietet hatte, und der Geheime Oberregierungsrath Dr. August Wilhelm Danewitz. Flora Obornik, die trotz ihres Alters von schon über dreißig Jahren noch unverehelicht war, hatte aus ihrer mitgebrachten Garderobe ein silbergraues Taffetkleid ausgewählt, dessen Hammelkeulenärmel sie später beim Speisen ziemlich hinderten. Friederike Ferbitz trug ein dunkelviolettes Kleid, hatte sich einen schwarzen Kantenschal um den mageren Hals geschlungen und sich mit viel Malachitschmuck behängt. Clara Kahlbaum hatte sich für eine Krinoline entschieden, die gerade in Mode gekommen war, und gab sich wie eine Dame von Hofe.

 

Doch Luise stellte sie alle in den Schatten, obwohl ihr Kleid ganz einfach war: eng das Mieder und weit der bauschige Rock, heller Linon mit schmalen violetten Streifen. Die freien Schultern waren von einem durchbrochenen Schal bedeckt. Luise half dem Mädchen beim Decken des Tisches, holte die schweren Damasttücher aus dem großen Eichenschrank im Alkoven, breitete sie über den lang ausgezogenen Tisch und verteilte dann die blaugemusterten Teller.

Als Vorspeise wurde eine Fischsuppe gereicht, dann folgte ein gewaltiger Schweinebraten, und den Abschluss bildete eine rote Grütze, die alle mit Entzücken verspeisten. Während der Gänge und insbesondere dazwischen wurde munter geplaudert, wobei Ludwig Kahlbaum darauf achtete, dass ein jeder Gast angemessen zu Worte kam und sich über sein Lieblingsthema verbreiten konnte.

Friederike Ferbitz legte als Erste los: »War’n Se ooch schon bei dem Fritzen da inne Königstraße und ham sich uff de Platte bannen lassen?«

»Sie meinen die Diorama-Bilder von Daguerre?«, fragte Magnus Kahlbaum.

»Wer? Is det eena von die Hugenotten?«

»Nein, ein waschechter Franzose aus Orléans, Louis Jacques Mandé Daguerre, Erfinder der Daguerreotypie.«

»Ich brauche keine Tüpie!«, rief die Ferbitz. »Ick habe Jeld genuch, det ick mir abmalen lassen kann, ick war beim Hofmaler selba, bei Franz Krüger.«

»Ah, bei Pferde-Krüger!« Magnus Kahlbaum nickte. Der preußische Hofmaler war ein Pferdenarr, und die Rösser gelangen ihm wesentlich besser als die Menschen. Man sagte ihm nach, er würde Ladestöcke mit Menschengesichtern malen. Wenn die Literaten bei Stehely saßen, lästerten sie ständig über Krüger. Alles bei ihm sei pulvertrocken und völlig uninspiriert. Am meisten regten sich die Progressiven über die Portraits auf, die Preußens »Gottesgnadentümler« und Militärs in ihren phantasievollen Uniformen zeigten, »herausgeputzt wie die Pfingstochsen mit speckig-feisten Gesichtern und so selbstzufrieden, dass es weh tun kann«.

»So negativ wie Sie würde ich Franz Krüger nicht sehen«, wandte Dr. Danewitz ein. »Seine kleinen Formate sind doch vorzüglich. Und solange die Welt die Daguerreotypie noch nicht kannte, musste es Maler geben, die mit ihren Farben alles bis ins letzte Detail festzuhalten wussten - preußisch korrekt, wenn Sie wollen.«

Ludwig Kahlbaum fürchtete, die Diskussion würde sich an Franz Krüger entzünden, politisch werden und damit garstig, und fragte deshalb den höheren Beamten schnell nach seinen Erlebnissen auf der Reise nach Potsdam. »Zum ersten Mal mit der Bahn, Herr Doktor?«

»Ja, es wurde ja langsam auch einmal Zeit. Und es ist schon ein anderes Reisen als in der Kutsche.« Dr. Danewitz erinnerte an das, was der König vor drei Jahren bei der Eröffnung der Berlin-Potsdamer Eisenbahn laut Vossischer Zeitung zu Protokoll gegeben hatte: Se. Maj. geruhten Ihre allerhöchste Zufriedenheit über diese Fahrt sowohl, wie über die ganze Anlage, in den huldreichsten Ausdrücken zu erkennen zu geben.

»Wie wird es denn weitergehen?«, wollte Magnus Kahlbaum wissen.

»Nun …« Dr. Danewitz zögerte mit einer Antwort. »Die militärische Führung drängt auf eine Strecke hin zur russischen Grenze, und unsere Kaufmannschaft, beseelt von den Gedanken eines Friedrich List, will ja auch die kleinsten Nester an die Eisenbahn anschließen. Aber unsere Kassen sind leer, Preußens Gloria ist das eine - seine Armut das andere. Die Verbindungen Köln–Antwerpen und Berlin–Hamburg sollen jedoch in den nächsten Jahren realisiert werden.«

»Ist ja auch höchste Eisenbahn!«, rief Ludwig Kahlbaum.

Dr. Danewitz seufzte. »Wenn das alles so einfach wäre! Nehmen sie die Hamburger Bahn: Da verläuft die Strecke über die Hoheitsgebiete von fünf eigenständigen Ländern innerhalb des Deutschen Bundes, als da sind die Freie und Hansestadt Hamburg, die dem dänischen König unterstehenden Herzogtümer Holstein und Lauenburg, das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin und unser Königreich Preußen. Dazu kommt noch Lübeck, das auch vom Bahnbau betroffen ist, da Hamburg-Bergedorf den beiden Freien Hansestädten Hamburg und Lübeck gemeinsam gehört. Aber wir haben ja am 8. November 1841 einen Staatsvertrag geschlossen, in dem die Streckenführung und die Verrechnung der Transitzölle geregelt werden.«

»Ach, wenn es doch auch eine Eisenbahn zu uns nach Breslau und nach Lissa gäbe!«, rief Flora Obornik. »Dann könntet ihr alle kommen und uns besuchen, unsere große Familie, wo sich alle lieb haben.« Sie zählte nun, die anderen auf eine fast grausame Art langweilend, alles auf, was Obornik hieß oder einen Obornik geheiratet hatte. Das waren alles ganz wunderbare Menschen, und besonders ihren Neffen Casimir lobte sie über den grünen Klee. »Der macht in Leder, und sein früherer Chef hält große Stücke auf ihn. Jetzt ist er ja sein eigener Herr.«

Magnus Kahlbaum versuchte, ihren Redefluss mit mildem Spott zu stoppen. »Ja, Leder … Weltbekannt ist ja auch der Strumpf …«

»Was für ein Strumpf?«

»Na, der Lederstrumpf, mit Namen Natty Bumppo. James Fenimore Cooper hat wunderschöne Geschichten über ihn geschrieben, die Leatherstocking Tales, angefangen mit The Pioneers

Clara Kahlbaum griff nun ein und verbat sich, ihrer Cousine so zuzusetzen. »Das schickt sich nicht, Magnus! Und wenn du so weitermachst mit deiner spitzen Zunge, bringen sie dich wieder in die Hausvogtei.«

Magnus Kahlbaum zuckte zusammen, denn die Zeit, die er, festgenommen als Demagoge, im Gefängnis zugebracht hatte, war ein einziger Alptraum. Er wollte heftig werden, schwieg aber des lieben Friedens wegen und sah in Richtung seines Bruders, damit der das Gespräch in andere Bahnen lenkte.

Ludwig Kahlbaum reagierte auch prompt, schickte erst Luise in die Küche, um den Braten servieren zu lassen, dann sprach er von seiner Reise nach Karlsbad, die er im Herbst zu unternehmen gedachte. »Wenn es denn nicht klüger ist, im Lande zu bleiben und sich im Thiergarten zu erholen.«

Friederike Ferbitz lachte. »Nee, lieba nich, da hängen doch dauernd welche an die Äste.«

»Hören Sie auf!«, rief Dr. Danewitz. »Ich war es doch, der vor vierzehn Tagen den Schneidergesellen entdeckt hat. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, wenn man gegen einen Menschen prallt, der nicht mit beiden Beinen auf dem Boden steht, sondern an einem dicken Aste baumelt!«

Nachdem die Gäste wieder gegangen waren, zogen sich die beiden Brüder ins Herrenzimmer zurück, um über die Misere von Kahlbaum & Gillieux zu reden.

»Was soll nun werden?«, begann Ludwig und blickte in den Rauch, der aus seiner Cigarre an die Zimmerdecke stieg, wie eine Wahrsagerin in ihre Kristallkugel. »Ich war gestern bei Bleichröder, aber sie sind nicht bereit, mir weiteres Geld zu geben. Wir sparen, wo wir können, aber aus eigener Kraft können wir es nicht mehr schaffen. Spätestens Ende des Jahres müssen wir Konkurs anmelden.«

Magnus lächelte. »Ich würde ja gerne in die Bresche springen, aber …« Er zögerte etwas, dann hielt er es aber für klüger, der Attacke seines Bruders zuvorzukommen.

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