Buch lesen: «Rotlicht»

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Horst Bosetzky / Uwe Schimunek

Rotlicht

Der 30. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky veröffentlichte im Jaron Verlag eine Vielzahl von dokumentarischen Spannungsromanen, Familienromanen, biografischen Romanen und Krimis. Für die Krimiserie «Es geschah in Berlin», die der Bestsellerautor 2007 mit dem Jaron Verlag begründete, verfasste er mehrere Bände (zuletzt «Auf leisen Sohlen», 2017).

Uwe Schimunek, Jahrgang 1969, lebt als Journalist und Buchautor in Leipzig. Im Jaron Verlag veröffentlichte er bereits mehrere historische Krimis, darunter die um 1900 in Leipzig spielenden Romane um den jungen Reporter Edgar Wank (zuletzt «Tödliche Zeilen», 2017).

Originalausgabe

1. Auflage 2018

© 2018 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-95552-040-3

Inhalt

Cover

Titel

Autoren

Impressum

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

Es geschah in Berlin …

PROLOG

ICH WILL, dass sie schweigt. Tatsächlich sagt sie für den Moment nichts. Doch ihr Lächeln ist voller Spott. Obwohl sie auf ihrem Bett sitzt und ich stehe, scheint sie auf mich herabzublicken. Das halte ich nicht aus. Ich gehe einen Schritt auf sie zu. Ihr impertinenter Papagei krächzt: «O das ist gut! Das ist gut.»

«Ruhe!», brülle ich so laut, dass ich mich selbst erschrecke.

Der Papagei flattert kurz in seinem Käfig hin und her. Dann ist es so still, dass der Straßenlärm durch die geschlossenen Fenster dringt. Das Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht.

Ich schließe die Augen. Alles könnte so schön sein. Wenn sie mich nur verstehen würde. Kann sie es nicht? Oder will sie es nicht? Dabei habe ich alles versucht. Mit Engelszungen habe ich auf sie eingeredet. Erklärt und erklärt. Doch sie hört mir überhaupt nicht zu.

«Du machst dich lächerlich», sagt sie.

Obwohl ich die Augen nicht öffne, weiß ich, dass sie grinst. Ich höre es an ihrer Stimme. Das geht zu weit. Ich will, dass sie schweigt!

«Geh jetzt», sagt sie.

«Geh jetzt! Geh jetzt!», wiederholt der Papagei.

Das ist zu viel. Ich öffne die Augen und sehe das Kissen. Mit einer schnellen Bewegung hebe ich es an und drücke es auf ihr Gesicht. Ich will, dass sie schweigt. Ich will ihr Grinsen nicht mehr sehen. Also drücke ich fest zu. Fester.

Sie wehrt sich, zappelt, schlägt um sich. Erwischt meinen Arm. Es schmerzt. Ich drücke das Kissen noch fester auf ihr Gesicht. Anscheinend versucht sie, etwas zu rufen. Der Hohn ist aus ihrer Stimme verschwunden. Ich will, dass sie schweigt.

Sie lässt meinen Arm los und schlägt um sich. Wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und mit den Beinen strampelt. Die Schläge treffen meinen Oberkörper. So viele, dass es mir vorkommt, als hätte sie mehr als zwei Arme.

Wie lange drücke ich schon? Eine Minute? Zwei? Drei? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Und noch immer dringen ihre Laute durch das Kissen. Ich will, dass sie schweigt.

Endlich wird sie leiser. Unter dem Kissen kommt nur noch ein leises Röcheln hervor. Ihr Körper bäumt sich auf. Ich drücke fester, fester, fester. Noch einmal versucht sie sich zu wehren. Dann ist endlich Ruhe. Sie lässt mich los und schweigt. Es herrscht absolute Stille. Mir kommt es vor, als wäre nicht nur sie erstarrt, sondern auch die Zeit. Das Kissen in meiner Hand strahlt weiß und unschuldig. Meine Hände schmerzen und leuchten rot von der Anstrengung. Wie lange ist sie schon still?

Kaum lasse ich das Kissen los, dringt die Welt wieder in mein Ohr. Das Rauschen von draußen. Auch der Papagei krächzt wieder: «Geh jetzt!»

Ich hebe das Kissen an. Das Gesicht darunter ist verzerrt. Die Augen sind weit aufgerissen und starren nach oben. Jetzt sieht sie, wie es mir geht. Ich lasse mich auf das Bett fallen und nehme ihre Hand. Sie ist warm und verschwitzt. Sanft streiche ich über ihren Handrücken und sage: «Wir hätten auch vernünftig miteinander reden können. Ich wollte dir nicht wehtun.»

Sie bleibt ohne Regung, verzieht nicht einmal eine Miene. Das erscheint mir besser als ihr Hochmut vorhin.

«Ich hoffe, du hörst mir endlich zu», sage ich. Dabei ziehe ich an ihrer Hand und versuche, ihr aufzuhelfen. Doch sie regt sich nicht. Will sie mich mit Ignoranz strafen? «Nun komm», sage ich, «du brauchst nicht zu schmollen. Ich habe mich beruhigt.»

Das stimmt sogar. Auch wenn ich diesem Papagei am liebsten den Hals umdrehen würde. Denn der war nur einen Augenblick ruhig und krächzt nun schon wieder: «O das ist gut! Das ist gut.»

«Pst!», zische ich und wende mich wieder ihr zu. «Lass mich dir bitte noch einmal alles erklären!»

Doch sosehr ich auch an ihrem Arm ziehe, sie rührt sich nicht. Ihr Oberkörper scheint völlig verkrampft zu sein. Und ihre Augen – wenn ich mich bewege, folgen sie mir nicht. Ihr Blick bleibt völlig starr nach oben gerichtet. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Sie wird doch nicht … Was habe ich getan?

Ich lasse ihre Hand los, ergreife ihre Schultern, rüttle heftig an ihnen und rufe: «Nein!»

«O das ist gut!», krächzt der Papagei. «Das ist gut.»

Ich ohrfeige sie. Noch einmal und noch einmal. «Nein!»

«Geh jetzt!», krächzt der Papagei. «Geh jetzt!»

«Pst!» Ich muss nachdenken. Noch mehr Ohrfeigen werden nicht helfen. Es ist vorbei.

Sie starrt nach oben. So als wäre ich gar nicht hier. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte heute nicht ihre Wohnung betreten, um mit ihr zu sprechen. Doch ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Nichts ungeschehen machen. Was habe ich getan? Ich wollte doch nur, dass sie mir zuhört. Nun liegt sie da mit der Verzweiflung im Blick. Ansonsten sieht sie so zart wie ein zerbrechliches Stück Porzellan aus. Dabei ist sie die Sünderin. Nicht ich bin schuld. Ich wollte nur mit ihr sprechen.

Was nun? Soll ich die Polizei rufen? Wird mir jemand glauben, dass ich nichts Böses vorhatte? Nein. Hier stehe ich, und sie liegt da. Tot. Niemand wird mich verstehen. Niemand wird mir zuhören. Wenn die Polizei kommt, wird sie an einen Mord glauben. Vielleicht ist das die Lösung. Ich gebe den Herren, was sie wollen. Einen Mord. Da kommen viele als Täter infrage.

Also los. Zuerst das Bett. Ich reiße Decke und Kissen aus dem Bezug. Es soll so aussehen, als seien hier die Fetzen geflogen. Können die Polizisten irgendwo meine Fingerabdrücke finden? Ach was, bestimmt sind in der ganzen Wohnung Fingerabdrücke von Dutzenden Männern verteilt. Also was soll’s!

Als Nächstes ziehe ich sie aus. Das Hemdchen, den viel zu kurzen Rock, das bisschen Stoff, das ihre Scham kaum bedeckt. Nun trägt sie ihre Berufsbekleidung: nichts. Ich werfe die Kleidung in den brennenden Ofen.

«Das ist gut!», ruft der Papagei wieder.

Ich öffne die Tür des Käfigs. Wenn ich weg bin, kommt das Vieh hoffentlich heraus und macht noch ein bisschen zusätzliche Unordnung. Apropos Unordnung. Ich reiße die Kommode und den Tisch um. Plunder ergießt sich über den Boden. Mit ein paar Tritten verteile ich das Zeug im Zimmer. Ein paar Bücher rutschen unter das Bett. Ich bücke mich, gucke ihnen hinterher und entdecke einen Koffer. Den kann ich auch noch ausschütten. Ich ziehe den Koffer unter dem Bett hervor und öffne ihn.

O mein Gott, der Koffer ist voller Banknoten! Zehner, Zwanziger, Fünfziger, auch Hunderter. Wie viel Geld kann das sein? Zehntausend Mark? Oder hunderttausend? Keine Ahnung. Das zähle ich zu Hause nach.

Ich blicke mich um. Vor dem Bett liegt ein Taschenkalender. Ich öffne ihn und blättere zum heutigen Datum. Den Eintrag soll niemand finden. Ich reiße ein paar Seiten heraus.

«Geh jetzt!», krächzt der Papagei.

Er hat recht.

EINS

Freitag, 22. März 1968

DIE BEIDEN KERLE grinsten wie Clowns. Josef Bolp beobachtete die zwei Kommunarden auf der Anklagebank und merkte, wie Wut in ihm aufstieg. Guntram Lauterbach lümmelte auf einem Sitz und zwirbelte mit zwei Fingern seine Locken. Hans Trenker saß daneben, hielt den Daumen seiner rechten Hand an die Nase und spielte Pinocchio. Bolp war vor Zorn kaum in der Lage, ein vernünftiges Wort auf seinem Block zu notieren. Dabei musste er die wesentlichen Aussagen des Richters für seinen Artikel vermerken.

«Zwar waren die Flugblätter mit Sicherheit geeignet, von einer unbestimmten Vielzahl unbefangener Leser als Aufforderung zur Brandstiftung in Kaufhäusern während der üblichen Öffnungszeiten aufgefasst zu werden …», erklärte der Richter.

Bolp machte sich Stichpunkte und rekapitulierte die Taten der beiden Angeklagten in Gedanken. Natürlich hatte das verbrecherische Studentenpack zu Brandanschlägen aufgerufen, da gab es für ihn keinen Zweifel. In Brüssel war im vergangenen Jahr tatsächlich ein Kaufhaus in Flammen aufgegangen. Danach hatte diese Berliner Bande eine Serie von Flugblättern gedruckt und getönt, dass die belgischen Freunde sehr wohl wüssten, wie die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam zu beteiligen sei. Heute müsse niemand mehr den Gräueltaten an dem armen vietnamesischen Volk tatenlos zusehen, man könne sich einfach eine Zigarette in einer Umkleidekabine im KaDe We, bei Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann anzünden.

Bolp fragte sich, was an diesen Aussagen missverstanden werden konnte. Seiner Meinung nach war das eine genaue Handlungsanweisung für Brandstifter. Die Verbrecher auf der Anklagebank hatten die aufrührerischen Flugblätter verfasst und unters Volk gebracht. Wer wusste schon, wie viele Chaoten inzwischen in Berlin herumliefen und nur auf eine passende Gelegenheit warteten, einen Brand zu legen! Doch die Aufwiegler feixten auf der Anklagebank, als hätten sie Lachgas inhaliert.

Bolp richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Richter, der gerade seine Ausführungen schloss: «… dass sie jedoch auch wollten oder nur billigend in Kauf nahmen, dass der Leser der hierzu geeigneten Flugblätter einen Entschluss zur Begehung von Brandstiftungen fasste, war den Angeklagten nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachzuweisen.»

Der arme Mann gab sich alle Mühe, bei seinem Vortrag Würde auszustrahlen. Seine Worte wurden jedoch immer wieder von Kommentaren aus dem Zuschauerraum unterbrochen. «Bravo!», «Recht so!», riefen die Studenten, und obendrein johlten sie, als wären sie in einem Kabarett und nicht in einem Gerichtssaal. Wenn der Richter sie zur Ruhe mahnte, hielten sie für einen Moment inne, nur um ihn Augenblicke später wieder auszulachen.

Schon von Prozessbeginn an hatte das Studentenpack das Gericht verhöhnt. Bolp erinnerte sich daran, dass Trenker die Anklageschrift abgetippt und dem Richter als Satire für zwei Mark zum Kauf angeboten hatte. Er dachte auch an die albernen Verkleidungen, die die Angeklagten damals getragen hatten, die Fräcke, die bunten Popelinehosen – dagegen sahen Lauterbach und Trenker heute beinahe wie normale Menschen aus, von den ungekämmten Haaren einmal abgesehen. Ein Psychiater hatte Lauterbach sogar bescheinigt, er kompensiere seinen schwachen Bartwuchs durch übertrieben langes Haupthaar. Vielleicht hatte der Doktor da ein wenig übertrieben, doch an der ebenfalls diagnostizierten Abnormität der Persönlichkeit gab es für Bolp keinen Zweifel. Immerhin durften die beiden Gammler für ihr unflätiges Verhalten mehrere Ordnungshaftstrafen absitzen. Das freilich hatte Lauterbach und Trenker nur provoziert, den Psychiater zu fragen, welche Therapie er für den Richter empfehle, da dieser zwanghaft Ordnungsstrafen verhänge. Bolp kochte innerlich vor Wut bei der Erinnerung daran.

«Möglicherweise haben die Angeklagten nur bewusst fahrlässig gehandelt. Für eine Bestrafung aber ist zumindest ein bedingter Vorsatz erforderlich», fuhr der Richter fort. Damit sprach er die Angeklagten frei und erklärte das Verfahren für beendet. Die Studenten jubelten wie bei einem Rockkonzert. Es fehlt nur noch, dass diese Rotznasen «Zugabe» rufen, dachte Bolp.

Der Reporter war froh, dass er kein Jurist war und keinem Gericht vorstand. So musste er sich nicht mit solchen Kleinlichkeiten wie dem Unterschied zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz herumschlagen. Er konnte diesen Kriminellen in seinem Artikel für den Berliner Blitz die Attribute verpassten, die sie verdienten. Und das würde er in der morgigen Ausgabe auch tun.

Kriminaloberkommissar Otto Kappe stieg aus dem Auto und sah auf die Uhr: 13.30. Und das am Freitagnachmittag! Ein Mord so kurz vor dem Wochenende hatte ihm gerade noch gefehlt. Auch sein Assistent Hans-Gert Galgenberg machte ein Gesicht wie nach drei Tagen Regenwetter. Dabei roch die Luft nach Frühling. Kappe warf einen Blick auf das kleine Ladenlokal in der Hobrechtstraße, vor dem ihr Wagen parkte. Karlheinz Efferts stand in großen Lettern über dem Schaufenster. Eigentlich hatte Kappe sich längst auf den Freitagseinkauf vorbereitet, aber Mörder hielten sich leider nicht an den Wochenrhythmus eines Familienoberhauptes.

Kappe und Galgenberg traten in den Hausflur und hörten schon von hier den Lärm im Obergeschoss – offenbar waren Staatsanwalt, Gerichtsmediziner und die Kollegen von der Spurensicherung bereits am Tatort. Kappe holte bei jeder Stufe, die er nahm, ein bisschen tiefer Luft, um den Beamten oben mit Gelassenheit entgegentreten zu können.

An der Wohnungstür empfing sie ein Beamter in Uniform und unterrichtete sie in kurzen Worten über die Lage. Bei der toten Frau handelte es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um die Mieterin der Wohnung: Monika Mönningsee. Die Frau habe unter dem Künstlernamen Yvonne als Prostituierte gearbeitet. Augenscheinlich sei sie während oder nach ihrer Berufsausübung von einem ihrer Freier mit einem Kissen erstickt worden. In einem Taschenkalender, der neben dem Bett gelegen hatte, fehlten Seiten.

«Den Täter haben Sie noch nicht gefunden?», fragte Galgenberg mit grimmigem Gesicht.

«Nein, nein», erwiderte der Uniformierte eifrig. Er zögerte kurz und fügte dann hinzu: «Wir wollten Ihnen nicht die Arbeit wegnehmen.»

Kappe war nicht nach Scherzen zumute. Also warf er dem Uniformierten einen strengen Blick zu. Der nahm eine militärische Haltung ein und gab den Weg in die Wohnung frei.

Der Flur war winzig. Nach kaum zwei Schritten stand Kappe schon am Tatort im Schlafzimmer. Hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Obwohl die Fenster sperrangelweit geöffnet waren, roch es nach Verwesung. Zwei Männer von der Spurensicherung krochen mit ihren Werkzeugen über den Boden und untersuchten verstreute Kleidungsstücke, Bücher, Papiere und weiteren Krimskrams. Der Gerichtsmediziner Dr. Konrad König stand neben dem Bett und zog ein Laken vom Kopf der Leiche, als Kappe und Galgenberg herantraten. Das Gesicht der Toten war von blonden Locken gerahmt und vermutlich kürzlich noch sehr hübsch anzusehen gewesen. Ein paar Flecke ließen die Frau älter erscheinen, als sie höchstwahrscheinlich war.

«Wann?», fragte Kappe knapp.

«Vor ein paar Tagen, vielleicht drei oder vier. Mehr weiß ich heute Abend. Spätestens morgen haben Sie den Bericht auf dem Schreibtisch.»

«Geh jetzt!», kreischte es plötzlich.

Kappe dachte erst, einer der Beamten habe geniest. Dann sah er den Papagei auf einem leergefegten Regal sitzen.

«Husch, zurück innen Käfig, Kreischke!», befahl eine Frau, die Kappe erst jetzt wahrnahm. Sie musste um die siebzig Jahre sein, und sie sah nicht so aus, als sei sie eine Beamtin.

«Was machen Sie denn hier?», fragte Galgenberg.

«Ick warte uff Sie», antwortete die Alte.

«Das ist Frau Kleema, die Nachbarin. Sie hat uns gerufen, weil es im Flur sehr unangenehm gerochen hat», berichtete der Uniformierte.

«Die Nachbarin …», wiederholte Kappe und wandte sich der Alten zu. «Können wir Ihnen irgendwo in Ruhe ein paar Fragen stellen, Frau Kleema?»

«Na ja, bei mir drübn», antwortete die Frau. «Aba der Papagei …»

«Um den kümmern wir uns später.»

Die Alte trottete an Kappe und Galgenberg vorbei in den Hausflur und öffnete die Tür zur Nachbarwohnung. «Dann komm Se ma!»

Ihre Wohnung machte den Eindruck, als wäre sie bereits vor Jahrzehnten eingerichtet worden, vielleicht sogar schon zur Kaiserzeit. Im Flur stand eine dunkle Kommode, Eiche massiv, mit gedrechseltem Zierrat. Der Garderobenständer daneben verfügte sogar noch über einen Schirmhalter. Im Wohnzimmer hingen Fotos von drei Jungen und einem Mann mit Zwicker neben einer gewaltigen Anrichte. Das Bild des Mannes schmückte ein schwarzer Trauerflor, anscheinend war die Kleema verwitwet. Weinrote Vorhänge dämpften das Licht in der Stube. Die Alte zog sie nicht etwa auf, sondern schaltete die Deckenleuchte ein – einen Lüster aus Kristall mit sechs Glühbirnen. Das Bild über der bordeauxrot überzogenen Chaiselongue war augenscheinlich kein Original, sondern ein Druck. Kappe zuckte zusammen, als er den Titel am unteren Bildrand las: Herakles erwürgt die Schlangen. Er schaute zu der Alten. Frau Kleema hatte ungemein kräftige Hände. Wenn sie nun ihre Nachbarin …

Galgenberg begann derweil mit der Befragung. «Frau Kleema, sind Ihnen irgendwelche Männer aufgefallen, die Ihre Nachbarin aufgesucht haben, um …»

«Nee, ick hänge doch nich die janze Zeit am Guckloch.»

«Sie wissen auch nicht, wann der letzte Besuch kam?»

«Nee. Vorige Woche hab ick ’nen älteren Herrn mit Nickelbrille und Hut jesehn. Aba ob dann noch wer kam … Ick weeß et nich.»

«Es ist auch niemand übereilt aus der Wohnung gestürzt oder dergleichen?»

«Nich, dass ick wüsste.»

Galgenberg notierte etwas auf seinem Notizblock.

Kappe übernahm und fragte: «Sie wussten von dem … dem Beruf Ihrer Nachbarin?»

«Na, ick hab mir so wat jedacht. Aber ick hab mir da nie einjemischt. Juten Tach und Juten Wech. Und det se ihr Jeld mitta Pflaume vadient hat, det war mir doch ejal.»

«Was wissen Sie denn sonst noch über Frau Mönningsee?»

«Nich ville. Sie war nett. Und wenn se ma ein paar Tage weg war, hab ick den Vogel jefüttert. War jedenfalls imma uffjeräumt bei der Dame.»

Kappe blickte zu Galgenberg. Der schrieb weiter fleißig mit. Also zog Kappe eine Visitenkarte aus seiner Jacketttasche und sagte zu Frau Kleema: «Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, dann rufen Sie uns doch bitte an.»

«Mach ick.» Die Alte nahm die Karte und überflog sie. Dann fragte sie: «Ick würd mir ja um den Vogel kümmern – wenner wieder im Käfig is.»

Kappe nickte. «Vielen Dank, Frau Kleema. Wir geben den Beamten Bescheid.»

Josef Bolp nippte an seinem Kaffee. Der schmeckte nicht. Das Gebräu unterschied sich eigentlich nicht von dem Getränk am Morgen, doch da hatte dieser Richter die beiden Gammler noch nicht freigesprochen. Das beste Aroma hätte nun auch nichts mehr retten können.

Die Stimmung bei der Redaktionskonferenz konnte kaum schlechter sein. Der Chefredakteur des Berliner Blitz – alle Mitarbeiter sprachen ihn stets mit seinem Titel und nicht mit seinem Namen an – tippte auf die Fotos, die die Kommunarden Lauterbach und Trenker vor dem Gerichtsgebäude zeigten. Die beiden grinsten wie Fußballer, die gerade die Meisterschaft gewonnen hatten, und der Chefredakteur tat so, als wären seine Redakteure schuld daran.

«Diese beiden Lumpen kommen mir nicht auf die Titelseite! Nicht in dieser Pose!» Er wandte sich an den Fotografen Martin Glämmer und brüllte: «Warum haben wir nichts anderes von diesen Kerlen? Sollen wir vielleicht das Kampfblatt dieses Gesindels werden?» Dann beugte er sich über den Versammlungstisch. Sein Kopf glühte und war kaum noch einen Meter von dem des Fotografen entfernt, als er schrie: «Was denken Sie sich bei solchen Fotos? Denken Sie überhaupt nach? Oder ist in ihrem Kopf bloß ein Haufen leerer Filmrollen?»

Glämmer sah aus, als wollte er sich in der Stuhllehne verkriechen.

Der Chefredakteur verblieb noch einen Moment in seiner Drohpose, dann wandte er sich an Bolp. «Was schreiben wir denn zu diesem Urteil?» Das letzte Wort hatte er förmlich ausgespuckt.

Bolp schob seinen Artikel über den Tisch. Nur zum Beleg. Er wusste, dass der Chefredakteur während der Konferenz keine Artikel las. Deswegen trug er seine Schlagzeile mit grimmiger Stimme vor: «Feiger Richter kuscht vor Kriminellen!»

Der Chefredakteur nickte. «Ja, das klingt nicht schlecht. Was steht im Artikel?»

«Ich frage am Anfang, wohin das alles führen soll. Dann berichte ich noch einmal, dass Hunderte unschuldige Familien bei dem Kaufhausanschlag in Brüssel traumatisiert wurden und dass die Studenten hernach auch deutsche Kaufhäuser brennen sehen wollten.» Bolp machte eine kurze Pause, damit dem Chefredakteur Zeit zum Nicken blieb, dann fuhr er fort: «Schließlich frage ich, ob wir uns noch auf die Straße trauen können – da diese Verbrecher nun frei durch Berlin laufen.»

Der Chefredakteur schob den Artikel zurück zu Bolp, ohne einen einzigen Blick darauf geworfen zu haben. «Das ist es, was wir brauchen!» Er sprach, als halte er eine Rede im Abgeordnetenhaus. «Klare Worte, klare Haltung! Denn nur Haltung gibt unseren Lesern Halt. Nur eine klare Linie kann sie auf dem rechten Weg durch den Tag führen.» Der Chefredakteur wandte sich an den Fotografen. «Ich kann indes nicht erkennen, welchen Beitrag Ihre Bilder zu unserer Arbeit leisten sollen. Sprechen Sie mit Herrn Bolp, bevor Sie den Auslöser drücken? Oder überlassen Sie Ihre Fotomotive dem Zufall?»

«Aber die haben sich die ganze Zeit so gegeben. Was sollte ich denn da machen?», murmelte Glämmer.

«Wo sind die Richter? Wo sind die Bilder von hilflosen Polizisten, die nicht fassen können, dass sie zwei Verbrecher laufen lassen müssen? Wo sind die Bilder entsetzter Bürger?»

«Aber …» Glämmer stockte nach dem ersten Wort. Ihm schien der Rest des Satzes im Halse stecken zu bleiben.

«Es war eine schwierige Situation», warf Bolp schnell ein. «Der Richter und der Staatsanwalt haben sich in ihre Büros verdrückt, und unter den Zuschauern waren die Gammler in der erdrückenden Überzahl. Es war leider so, dass außer gemeiner Schadenfreude kaum etwas zu sehen war.»

«Aber es ist doch wohl klar, dass wir so etwas nicht drucken werden!», rief der Chefredakteur und schob die Bilder zum Fotografen.

«Es sei denn …», sagte Bolp.

«Es sei denn was?», fuhr ihm der Chefredakteur ins Wort.

«Es sei denn, wir hätten noch andere Bilder.» Bolp blieb ruhig. «Ein paar Opfer des Brüsseler Kaufhausanschlags aus dem Archiv und ein paar grimmig dreinblickende Demonstranten. In diesem Zusammenhang würden die beiden eitlen Gammler nicht mehr wie Gewinner aussehen, sondern wie skrupellose Zyniker.»

«Hm.» Der Chefredakteur schien nicht so recht überzeugt zu sein.

«Natürlich müssten die Archivbilder groß abgedruckt werden, und dieses hier müsste so arrangiert werden, als würden die beiden Gammler wie kleine, gemeine Zwerge von oben auf die Opfer herabschauen.» Bolp tippte auf die Bilder von Lauterbach und Trenker und fuhr fort: «Die wütenden Demonstranten könnten den armen Opfern an die Seite gestellt werden, als ob sie diese bedrängen würden.»

«Das wäre eine Möglichkeit.» Der Chefredakteur fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als ordnete er die Fotos bereits an. Abrupt hielt er inne und fragte: «Wo bekommen wir die Bilder von den wütenden Demonstranten her? Auch aus dem Archiv?»

Auf diese Frage hatte Bolp gewartet. «Nein, die machen wir jetzt gleich. Das Gesindel hat sich versammelt und feiert den Freispruch. Die sind noch da draußen. Da können wir Aufnahmen machen.»

Der Chefredakteur wiegte den Kopf. «Und wenn die langhaarigen Studenten da draußen völlig harmlos aussehen, was dann?»

«Nun …», Bolp merkte, wie ihm ein Grinsen über das Gesicht huschte, «… wenn die uns als Reporter des Berliner Blitz erkennen, werden sie schon die richtigen Mienen aufsetzen.»

Auch der Chefredakteur lächelte für einen winzigen Moment und sagte: «Gut, Herr Bolp. Vielleicht sollten Sie Herrn Glämmer begleiten. Damit er weiß, was er zu tun hat.»

«Das mache ich gern», sagte Bolp und registrierte den dankbaren Blick des Fotografen.

Peter Kappe eilte den Kurfürstendamm hinunter. Die Demonstration vor dem Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, kurz SDS, war sein Ziel. Ein Pulk Studenten rief «Ho, Ho, Ho Chi Minh!» und «Enteignet die rechten Hetzblätter!». Aus allen Richtungen strömten immer mehr junge Leute herbei. Ihre Haare wehten im Märzwind wie Fahnen der Freiheit. Über den Köpfen flatterten auch ein paar echte Flaggen, die des Vietkong und von afrikanischen Befreiungsbewegungen. Peter hoffte, dass er seinen Freund Rüdiger Engelhardt und die Kommilitonin Stefanie Richter noch antraf, bevor in dem Gewühl niemand mehr zu finden sein würde. Im Mittelpunkt des Gedränges erkannte er einzelne Personen. Ein Vertreter vom SDS stand an der Spitze des Pulks. Er hielt ein Megafon in der Hand.

«Peter! Da bist du ja!», rief jemand.

Peter drehte sich um und sah, wie Stefanie mit Riesenschritten auf ihn zuhüpfte. Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sofort schoss Peter das Blut ins Gesicht. Er blickte vorsichtshalber zu Boden.

«Du kennst Kurt?», fragte Stefanie.

Peter blickte auf. Neben Stefanie stand ein schlaksiger Mann um die dreißig. Er trug das Haar etwas kürzer als die meisten ringsherum und war im Gegensatz zu vielen anderen hier offenbar kein Student. Trotz seines Anzugs und seines Huts wirkte er lässig und auf der Demo nicht fehl am Platze. Selbstverständlich kannte Peter Kurt Kannenhenkel – von der Freien Volksbühne. Dort war der Schauspieler und Sänger der gefeierte Star. Obwohl Kannenhenkel nicht in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebte, sondern Frau und Kinder hatte und einen schnittigen Sportwagen fuhr, schlug sein Herz auf der richtigen Seite: auf der linken. Das war stadtbekannt.

«Hallo, Peter!», sagte Kannenhenkel. Seine Stimme klang so tief wie die E-Saite von einer Bassgitarre.

Peter hob die Hand zum Gruß. «Du nimmst dir Zeit für unseren Triumph?»

«Ein wenig», antwortete Kannenhenkel. «Um sechs muss ich im Theater sein. Dann müsst ihr ohne mich feiern.»

«Kommt, lasst uns ein Stück gehen und nach Rüdiger schauen. Der wollte auch kommen», sagte Stefanie. Ausgelassen ergriff sie Peters Hand und zog ihn zum Pulk der Studenten.

Natürlich traf Rüdiger viel zu spät ein, so wie immer. Doch Peter verdrängte die Gedanken an den Kumpel und zwängte sich hinter Stefanie durch die Demonstranten. An der Spitze der Menschenmenge feierte der Vertreter des SDS gerade den Freispruch im Prozess um das Kaufhaus-Flugblatt. Peter konnte den Mann aufgrund des Gedränges nicht richtig sehen, doch er hörte die Stimme aus dem Megafon.

«Ich bin gespannt, wie die Hetzer von der sogenannten Bürgerpresse ihren Lesern die unglaubliche Verschwendung von Steuergeldern in diesem Prozess erklären wollen.» Der Redner hielt einen Moment inne und ließ sich von den Demonstranten feiern. «Möglicherweise haben die Herren mit den Giftfedern ja ein Einsehen. Denn tatsächlich haben wir ihnen ein Schauspiel vorgeführt. Das vielleicht beste Schauspiel, das West-Berlin und Westdeutschland jemals gesehen haben. Eine Komödie mit uns in den Hauptrollen und mit den Bütteln des imperialistischen Regimes als Clowns!»

Die Menge johlte. In den Jubel mischte sich Geschrei. Peter drehte sich um und sah, wie eine Gruppe von Studenten wild gestikulierte. Einer rief: «Da vorn!», und ein gutes Dutzend Studenten rannte los. Peter erkannte Rüdiger. Der Freund spurtete der Gruppe hinterher. Also setzte auch Peter zum Sprint an.

«Blitz-Journalisten! Mörder und Faschisten!», grölte die Gruppe.

Nun sah Peter, dass die Studenten zwei Männer verfolgten. Unter ihren Mänteln lugten Anzughosen hervor. Der eine hielt noch auf der Flucht einen Fotoapparat in die Höhe, das Objektiv auf die Menge hinter ihm gerichtet. Die beiden hasteten auf ein Polizeiauto zu, das am Straßenrand parkte. Die Studenten reckten geballte Fäuste in die Höhe.

Aus dem Polizeiauto sprangen zwei Uniformierte. Der eine zog die Pistole aus seinem Halfter und richtete sie gen Himmel. Es sah unbeholfen aus, als wollte er eine Wolke bedrohen.

Die Studenten blieben stehen, brüllten jedoch weiter: «Blitz-Journalisten! Mörder und Faschisten!»

Der Mann mit der Kamera rannte um das Polizeiauto herum und stützte dann die Hand mit der Kamera auf die Motorhaube. Er drückte unentwegt auf den Auslöser.

«Der Junge wird schon kommen, beruhige dich», sagte Gertrud Kappe.

Otto Kappe sah seiner Frau dabei zu, wie sie den Topf mit den dampfenden Kartoffeln mit einem Küchenhandtuch abdeckte. Was für eine Ungerechtigkeit! Wenn der Bengel nicht pünktlich war, sollte er auch kein warmes Essen mehr bekommen. Das war jedenfalls Ottos Meinung. Sein Sohn Peter war schließlich kein kleines Kind mehr, das zu lange auf dem Spielplatz blieb, weil es die Uhr noch nicht lesen konnte. Peter würde bald seinen Diplomabschluss machen, hatte eine Assistentenstelle an der Freien Universität und wohnte in einem eigenen Zimmer zur Untermiete. Trotzdem hatte er jede Menge Flausen im Kopf. Bestimmt war das auch der Grund dafür, dass er wieder einmal zu spät kam, obwohl er mit seinen Eltern zum Abendessen verabredet war. Otto behielt seine Gedanken für sich und sagte nur: «Ach Gertrud, ich muss morgen zeitig raus und arbeiten.»

€5,49

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
220 S. 1 Illustration
ISBN:
9783955520403
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Rechteinhaber:
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