Nichts ist verjährt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

«Leichenfund in Schmöckwitz. Wir müssen raus.»

«Gut, fahren wir. Aber Yaiza soll mit.» Mannhardt grauste es davor, so lange mit Schönbier allein im Wagen zu sitzen.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg in Berlins südöstlichsten Zipfel. Schon auf dem Parkplatz kam es zur ersten kollegialen Auseinandersetzung. Wer sollte am Steuer des geleasten Dienstwagens sitzen? Mannhardt wollte nicht. Als ehemaliger West-Berliner war er noch immer ein wenig traumatisiert, wenn es darum ging, im gewesenen Ost-Berlin am motorisierten Individualverkehr teilzunehmen. Nie vergaß er das barsche «Fahren Sie mal rechts ran!» und die Angst vor stundenlangen Verhören, an deren Ende Bautzen stehen konnte.

Yaiza Teetzmann als Mädchen aus Marzahn kannte diese Ängste nicht, hatte aber eine instinktive Abneigung gegen alle Westautos. Ihr Vater, SED-Funktionär und ein sogenannter Zweihundertprozentiger, hatte sie in diesem Sinne erzogen. BMW und Mercedes fuhren die Bonner Ultras, die Kapitalisten, die Ausbeuter, die Kriegstreiber.

Für Schönbier war ein Auto ein Auto und eine Straße in Köpenick (ehemals Ost-Berlin) nicht anders als eine in Neukölln (ehemals West-Berlin), und fahren sollte der, der das am besten konnte, also er. Generell hasste er es, wenn die Wessis wie auch die Ossis «diesen ganzen alten Scheiß« immer wieder aufwärmten. Seine Mutter war eine Russlanddeutsche, und von seinem Vater hieß es, er sei Deutschtürke gewesen, so genau wusste das keiner, denn der Gute hatte sich nach der Zeugung seines Sohnes schnell in die Emirate abgesetzt. «Wo ist da das Problem?», fragte Schönbier, wenn ihn jemand mitleidig ansah, und er hatte wirklich keines damit. Im Gegenteil. Bedingt durch die Gene seines Vaters, sah er immer so braungebrannt aus, dass er sich das Sonnenstudio und den Hautkrebs sparen konnte.

«Dann mal her mit den Schlüsseln», sagte Schönbier und streckte die Hand aus, um sie sich von Mannhardt geben zu lassen.

Der hielt sie aber fest umschlossen. «Moment mal! Ist denn schon klar, wer fahren soll?» Am Steuer saß im Regelfall das Alphamännchen, und diese Rolle wollte er Schönbier nicht so ohne weiteres überlassen.

«Wer fahren soll?», wiederholte Schönbier. «Ich natürlich, ich bin schon viele Rallyes gefahren.»

«Das hier ist aber keine Rallye, sondern eine Dienstfahrt», sagte Mannhardt. «Und wenn sich einer in Berlin auskennt, dann bin ich es.»

Schönbier freute sich über dieses Eigentor. «Na prima, der Kartenleser hockt immer auf dem Beifahrersitz.»

«Ich bin auch noch da», sagte Yaiza Teetzmann. «Vielleicht will ich ja fahren.»

«Bitte.» Seit Jutta Kleinschmidt bei der Rallye Paris— Dakar Furore gemacht hatte, akzeptierte Schönbier Frauen als Autofahrerinnen.

«Nein danke, aber …» Damit hatte sie klargemacht, dass sie ihr Veto gegen Schönbier am Steuer einlegen würde.

Schönbier nickte. «Dann du! Du bist der Älteste.» Mannhardt ärgerte sich nun doppelt und dreifach.

Zum einen über das Du, das er noch immer nicht verdaut hatte, zum Zweiten über seine Zuweisung zum alten Eisen und zum Dritten darüber, dass er sich über das Du wie auch über den Hinweis auf sein Alter ärgerte.

«Wenn wir so weitermachen, kommen wir nie nach Schmöckwitz», stellte Yaiza Teetzmann fest.

«Dann fahren wir eben mit der Bahn», sagte Mannhardt.

«Das darf doch nicht wahr sein!», rief Schönbier.

«Doch. Die Leiche kann warten, und wir tun was gegen die Umweltverschmutzung.» Mannhardt freute sich über seine Idee, mit der er die Kuh vom Eis bekommen hatte. «Stimmen wir ab: Wer für die Bahn ist, der hebe die Hand.»

Er und Yaiza Teetzmann taten es, Schönbier nicht. Damit war die Sache entschieden, und nachdem sie im Internet die optimale Verbindung herausgesucht hatten, liefen sie zum Wittenbergplatz.

«Mit dem Bus zum Bahnhof Schöneberg, dann mit der S-Bahn nach Grünau und von da mit der Straßenbahn nach Schmöckwitz.»

DREI
2007

SIEGFRIED SCHWELLNUSS war vor zwanzig Jahren nach Friedenau gezogen, um hier in der Aue des Friedens, wie er seinen Stadtteil immer nannte, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Mit Verena an seiner Seite, einer Grundschullehrerin. Doch die höheren Mächte hatten es anders gewollt, und die letzten Jahre waren die Hölle gewesen. Nach der Scheidung hatte er die Wohnung behalten, froh darüber, nun Platz für all seine Bücher und sogar kleinere Seminare zu haben. Doch dann hatte er Ulrike kennengelernt, und die hasste jede Form von Stadt, auch wenn sie so gehoben daherkam wie Berlin-Friedenau und große Männer wie Erich Kästner, Günter Grass, Uwe Johnson, Günther Weisenborn und Karl Schmidt-Rottluff als Mieter gesehen hatte, nicht zu vergessen die Comedian Harmonists. Ulrike klagte immer nur, sie würde in der Schwalbacher Straße ersticken, und entweder er zöge zu ihr hinaus nach Finkenkrug, was hinter Spandau im Brandenburgischen gelegen war, oder es wäre aus mit ihnen. Vielleicht hätte er nicht nachgegeben, aber da war ihm nach endlosen Streitereien vor mehreren Gerichten doch noch das ererbte Grundstück in Schmöckwitz zugefallen, und sie hatten beschlossen, das Haus am Imkerweg zu sanieren und auszubauen und dort einen Neustart zu wagen.

Es war nun viel zu planen und zu bedenken, so dass er sich zur Durchsicht zweier Hausarbeiten zum Thema Abnabelung von der Familie in den Zeiten des Nesthockers geradezu zwingen musste. «Und zwar mit der Pistole an der Schläfe», wie er Ulrike gegenüber betont hatte, denn er hasste es, wenn ihm junge Leute in umständlicher Art und Weise, in diesem Falle auch noch ziemlich unbeholfen, das mitzuteilen versuchten, was er schon lange wusste.

… ob die Abnabelung nach der Geburt wirklich zur Traumatisierung eines Menschen führt, wissen wir nicht so genau, weil man ja ein Baby nicht danach befragen kann, was es fühlt. Vielleicht ist es ja auch froh darüber, nun ein eigenständiger Mensch zu sein. Noch immer an der Nabelschnur hängend, könnte ja ein Mann kaum zum Torschützenkönig der Bundesliga werden.

Schwellnuss musste nun doch ein wenig schmunzeln, obwohl das Geschriebene mit Wissenschaft nicht viel zu tun hatte. An den Rand schrieb er: Sehr originell, aber ich bin nicht Mephistopheles, siehe Faust (Zeile 2009). Dort stand: Ich bin des trocknen Tons nun satt …

Die zweite Hausarbeit war ernsthafter angelegt, aber auch hier konnte er mitunter nur laut aufstöhnen und den Kopf schütteln.

Das Bestreben nach Neubelebung der kindlichen Einheit mit der Mutter in meinem Fallbeispiel kann man auch als Sucht verstehen. Er sucht/die Sucht – mit der Gleichheit der Worte ist schon alles gesagt. Der Volksmund sieht das auch so: Eifersucht ist, wenn man mit Eifer sucht. Einer meiner Freunde, 23 Jahre alt, verhält sich, wenn er betrunken ist, immer wie ein Baby und möchte sogar gewindelt werden, was voll in die Argumentationskette von Kernberg und anderen Autoren passt, dass Menschen nämlich mit pathologischer Mutterbindung dazu neigen, auf die Stufe eines Säuglings zu regredieren, um dadurch wieder mit der Mutter zu verschmelzen.

Fast hätte Schwellnuss an den Rand geschrieben: Ich hole meine Mutter auch zu mir ins Haus, ohne dass ich mich windeln lasse!

Was sollte er den beiden für Noten geben? Dieses Ringen um Gerechtigkeit war noch stressiger als die bloße Lektüre. Einerseits war er gern der milde Vater, andererseits mussten auch gewisse Standards der Profession beachtet werden. Am liebsten hätte er gewürfelt, aber Würfel ohne die Zahlen drei bis sechs gab es nun einmal nicht.

Sein Telefon sonderte die seltsamen Klingeltöne ab, die Ulrike so schön fand. Froh über die Störung, nahm er das schnurlose Gerät aus der Empfangsstation und meldete sich mit einem anonymen «Ja, bitte …?»

«Hier Grauen.»

«Hier auch …»

«Wie?»

«Nein, Schwellnuss, aber ich habe nur an meine Hausarbeiten gedacht.»

«Ah, Sie sind gerade beim Putzen?», fragte Günther Grauen.

«Hausarbeiten, nicht Hausarbeit», erklärte ihm Schwellnuss. «Was gibt es denn Neues?»

«Eher was Altes …», druckste Grauen.

«Wie?» Nun war es an Schwellnuss, nicht folgen zu können.

«In Schmöckwitz ist etwas Schreckliches passiert.»

«Was!? Sind die beiden jungen Leute beim Buddeln auf eine Bombe gestoßen und …?»

«Eine Bombe schon, aber keine, wie Sie denken. Machen wir es kurz: An der Außenwand Ihres Hauses ist eine Leiche gefunden worden, das heißt ein Skelett, und es sieht ganz nach Mord aus.»

«Na, wunderbar!», rief Schwellnuss. «Das steigert ja den Wert der Immobilie ungemein, vor allem wenn die Tat auch noch im Haus geschehen ist.»

«Das weiß die Kripo noch nicht, man wird sich aber bald bei Ihnen melden.»

Schwellnuss variierte seine Ausrufe. «Wie schön!»

Günther Grauen wurde langsam ungehalten. «Was kann ich denn dafür?»

«Nichts, aber … Die weiteren Pläne für Schmöckwitz können wir ja dann besprechen, wenn Sie mich mal im Knast besuchen.»

Als er wieder aufgelegt hatte, stürzte Schwellnuss ins Bad, wo Ulrike in einem irgendwie indisch anmutenden Kräutersud lag und auf eine wohltuende Wirkung für Leib und Seele hoffte. Nichts liebte sie mehr als diese exotischen Düfte und die göttliche Stille ringsum.

«Ist das alles eine Scheiße!», schrie Schwellnuss.

«Bitte», bat Ulrike ganz sanft, «nimm dich bitte etwas zurück, Siegfried.»

«Na, ist doch wahr! Da kämpfe ich nun fünfzehn Jahre, um endlich an dieses Haus zu kommen, und nun stellt sich heraus, dass da drin jemand ermordet worden ist! Die Leiche liegt im Garten, die haben sie vorhin gefunden.»

«Ich fürchte, es liegt ein Fluch auf diesem Haus. Ob es wirklich gut ist, dort einzuziehen?»

 

Schwellnuss knallte die Badezimmertür hinter sich zu.

«Ich kann jeden verstehen, der ab und zu mal einen kleinen Mord begeht!»

Die Spezialisten hatten sich inzwischen die Leiche vom Imkerweg genauer angesehen und Mannhardt ihre ersten Erkenntnisse mitgeteilt. Er fasste die Nachricht mit eigenen Worten für Schönbier zusammen.

«Die erste Inaugenscheinnahme lässt die Annahme zu, dass wir es mit einer Frau zu tun haben. Das Skelett ist vergleichsweise grazil, die Muskelansatzpunkte sind geringer ausgeprägt als bei einem Mann, das Becken typisch. Alles muss aber noch mit den entsprechenden Tabellenwerten verglichen werden. Ein vorläufiges Messen der Röhrenknochen lässt auf eine Körpergröße von 1,65 bis 1,70 Meter schließen. Eine genau Altersschätzung der Person ist noch nicht möglich, aber der Schmelzabschliff der Zähne, die Randzackenbildungen an den Wirbelkörpern und die Verknöcherung des knorpeligen Kehlkopfgerüstes lassen eine erste Schätzung zu: um die zwanzig Jahre herum, vielleicht auch etwas älter. Zur Todesursache können noch keine Angaben gemacht werden. In Anbetracht der Bodenbeschaffenheit, des Pflanzenwuchses, der Verwitterung der Knochen und der Zerstörung der Kleidungsstücke kann eine erste Liegezeitschätzung vorgenommen werden: dreißig Jahre plus/minus fünf. DNA-Material konnte sichergestellt werden. Ebenso Reste der Bekleidung. Der skelettierte Schädel ist so gut erhalten, dass eine Gesichtsrekonstruktion über Computersuperpositionen gute Ergebnisse bringen müsste.»

«Das ist ja eine ganze Menge», sagte Schönbier.

«Dreißig Jahre plus/minus fünf», murmelte Mannhardt. «Dann läge der Tatzeitraum zwischen 1962 und 1972.»

«1972 und 1982», verbesserte ihn Schönbier. «2007 weniger dreißig ist 1977.»

«Ja, klar. Ohne Taschenrechner bin ich leider hilflos. 1977 …» Mannhardt überlegte. «Die DDR in ihrer Blüte und schon durch den antifaschistischen Schutzwall vom Westen getrennt. Wie soll es da in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft einen Mord gegeben haben?»

Yaiza Teetzmann, gerade hereingekommen, hatte die Antwort: «Als ob der Sozialismus die Menschen besser machte.» Sie schloss die Tür hinter sich. «Das ist nicht von mir, sondern stammt von einem Leipziger Schriftsteller: Steffen Mohr. Der hat es in einem Heft unserer Blaulicht- Reihe geschrieben, die Zensur hat es übersehen – und meine Schwester hat es in einem Aufsatz zitiert. Mann, gab das ein Theater bei uns zu Hause in Marzahn!»

«Was würde denn über den Schmöckwitzer Leichenfund im Neuen Deutschland stehen, wenn die DDR bei der deutschen Wiedervereinigung gesiegt hätte und Egon Krenz Bundeskanzler wäre?», fragte sich Mannhardt. «Wahrscheinlich: Antifaschistische Widerstandskämpferin in den letzten Kriegstagen von der SS ermordet und an einer Hauswand verscharrt.»

Yaiza Teetzmann schüttelte den Kopf. «Das hätten unsere Leute wegen der über dreißig Jahre Unterschied nicht mitgemacht. Eher hätte man versucht, die Sache einem Westler in die Schuhe zu schieben, rüber konnten ja die meisten von euch.»

«Hoffentlich habe ich für die Jahre 1972 bis 1982 ein lückenloses Alibi», sagte Mannhardt.

«Warten wir ab, bis wir Genaueres wissen», sagte Schönbier. Wenn ihn etwas anödete, dann waren es Dialoge wie der zwischen den beiden Kollegen. Alles zu unpräzise. Was zählte, waren allein die Fakten. Fakten, Fakten, Fakten. Das hatte er aus der Werbung, nicht aus dem Focus.

«Wann können wir denn selber mal unter die Lupe nehmen, was bei der Toten alles so gefunden wurde?», fragte Mannhardt.

Yaiza Teetzmann zuckte mit den Schultern. «Morgen oder übermorgen. Aber fahrt doch zu diesem Schwellnuss, und fragt den.»

«Wer ist Schwellnuss?», fragte Mannhardt.

«Der Eigentümer des Grundstückes. Wenn der nicht den Auftrag gegeben hätte, das Haus zu sanieren, dann wäre die Sache nie ans Licht gekommen.»

«Wenn er den Auftrag dazu gegeben hat, kann er selber schwerlich der Täter sein», merkte Schönbier an.

Yaiza Teetzmann grinste. «Er kommt jedenfalls aus West-Berlin.»

Mannhardt und Schönbier fuhren mit der U9 nach Friedenau, da sie wussten, wie nervig es war, dort nach einem Parkplatz zu suchen. Vom Zoologischen Garten bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz brauchten sie gerade einmal acht Minuten. Sie standen so dicht nebeneinander, dass es schwer war, nur zu schweigen. Mannhardt erinnerte sich an eine alte Weisheit seiner Mutter: «Durch Reden kommt eine Unterhaltung zustande.» Also redete er.

«Trifft ein Psychologe den anderen und sagt: ‹Dir geht es gut – und wie geht es mir?›»

Als sie ausgestiegen waren, brauchten sie eine Weile, um sich zu orientieren. Die Gegend um den Friedrich-Wilhelm-Platz war ein wenig unübersichtlich, und prompt erwischten sie den Ausgang auf der falschen Seite. Dort war keine Schwalbacher Straße.

«Fragen wir mal jemanden», sagte Schönbier. Mannhardt wehrte ab. «Das geht gegen meine Ehre als Kriminalbeamter. Steigen wir noch mal in die U-Bahn runter und sehen auf dem Stadtplan nach.»

«Nicht mit mir!», erklärte Schönbier.

Da keiner nachgeben wollte, blieb ihnen nur das Prinzip trial and error, und so zogen sie eine halbe Stunde lang immer weitere Kreise um den Friedrich-Wilhelm-Platz, bis sie die Schwalbacher Straße gefunden hatten.

Danach konnte Mannhardt nicht mehr ernsthaft bestreiten, dass Psychologen und Psychiater in dieser seiner Gesellschaft unerlässlich waren.

Als Professor Dr. Siegfried Schwellnuss ihnen die Haustür öffnete, drohte Mannhardts Impulskontrolle zu versagen, und er hätte um ein Haar laut losgelacht, denn der Mann sah so sehr nach einer Parodie seines Berufsstandes aus, dass man glauben konnte, in eine Comedy-Serie geraten zu sein. Ein bisschen Ähnlichkeit hatte er mit Albert Einstein, ein bisschen mit Sigmund Freud und ein bisschen mit dem letzten Neandertaler.

«Ah, die Herren von der sehr verehrten Kriminalpolizei!», rief er. «Treten Sie bitte ein, aber möglichst nicht meine Tür, wie es Ihre Kollegen vom Sondereinsatzkommando so an sich haben.»

«War das bei Ihnen schon einmal der Fall?», fragte Schönbier.

«Nein, aber man muss ja heutzutage mit allem rechnen.»

«Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Mannhardt, als sie ins Wohnzimmer traten.

«Wegen Schmöckwitz, mein Architekt hat mich schon angerufen, der Herr Grauen. Schrecklich alles!» Schwellnuss fiel in einen seiner Sessel. «Aber ich werde Ihnen da auch nicht weiterhelfen können.»

«Es ist doch aber Ihr Haus?», wollte sich Mannhardt vergewissern.

«Das schon, aber erst seit Beginn dieses Jahres. Das heißt, eigentlich haben wir es schon 1975 geerbt, also meine Mutter, weil es deren Schwester gehört hat, meiner Tante, aber wir waren ja West-Berliner und damit rechtlos. Wenn ich Ihnen das mal erklären darf …»

Diese Erklärung dauerte gut zwanzig Minuten, denn wegen einer angeblichen Tätigkeit der Tante für die CIA hatte die DDR Haus und Grundstück in Staatseigentum übergehen lassen. «… und der Einigungsvertrag hat solche Tatbestände außen vor gelassen, so dass wir seit 1990 pausenlos prozessiert haben. Ein Gerichtsverfahren nach dem anderen hat es gegeben, mein Anwalt ist dadurch ein reicher Mann geworden, und erst Anfang dieses Jahres ist es uns gelungen, den üblen Grundstücksbesetzer wieder zu vertreiben und in Besitz zu nehmen, was unserer Familie seit 1924 gehört hat.» Mannhardt rechnete. Die Tat war zwischen 1972 und 1982 begangen worden, also kam Schwellnuss doch noch als Täter in Frage. «Sie sind Jahrgang …?»

«1955», antwortete der Professor.

«Danke!» Mannhardt tat sich bei der Rechnung mit Jahreszahlen auch diesmal wieder schwer, und so dauerte es ein paar Sekunden, bis er herausgefunden hatte, dass Schwellnuss im Jahre 1974 alt genug gewesen war, um einen Mord zu begehen oder zumindest im Affekt zum Totschläger zu werden.

Schwellnuss nutzte die kleine Gesprächspause, um allen ein Glas Mineralwasser einzugießen.

«Prost!» Er trank so hastig, dass er rülpsen musste.

«Oh, Pardon! Mal ganz direkt gefragt: Sind Sie eigentlich hier, weil sie mich für den Täter halten?»

«Wie kommen Sie denn darauf?», fragte Mannhardt zurück.

«Wozu bin ich Psychologe, ich spüre das.»

Schönbier lachte. «Wenn Sie wollen, dass Sie dadurch ins Fernsehen kommen, dann gerne.»

Mannhardt begann, laut zu denken. «Seit 1974 gab es Passierscheine für West-Berliner … Und Sie haben Ihre Tante sicherlich öfter besucht?»

«Ja, natürlich!», rief Schwellnuss. «Um mich am Imkerweg mit meinen Geliebten aus der DDR zu treffen. Und eine von denen habe ich dann umgebracht und im Garten verbuddelt.»

«War das schon ein Geständnis?», fragte Schönbier.

Da fuhr Schwellnuss auf und verlor die Contenance. «Ich verbitte mir das! Da stecken doch die alten SED-Seilschaften dahinter, dieses Arschloch von Oybin. Das ist seine Rache, weil es mir schließlich doch noch gelungen ist, ihn von dem Land zu vertreiben, das er und sein Verbrecherstaat uns geraubt hatten!»

Mannhardt war geradezu entsetzt über diesen Wutausbruch des Intellektuellen. «Wer bitte ist Oybin?»

«Bernhard Oybin ist ein gänzlich unbedeutender, aber vom DDR-Regime hochgejubelter Schriftsteller, der dafür, dass er Honecker und Co. in den Arsch gekrochen ist, mit dem Grundstück am Imkerweg belohnt worden war. Er soll ein fürchterlicher Blaubart gewesen sein. Kein Wunder, dass da auch eine Leiche zurückgeblieben ist.»

VIER
2007

HANS-JÜRGEN MANNHARDT hatte zwar das Abitur gemacht, dann aber nicht studiert, sondern es vorgezogen, die Kommissarslaufbahn einzuschlagen und Beamter des gehobenen Dienstes zu werden. Lilo, seine Ex-Ehefrau, hatte ihm das immer wieder vorgehalten: «Was hätte aus dir nicht alles werden können, wenn du Volljurist geworden wärst!» In der Tat, dann würde er jetzt als Polizeidirektor in den Ruhestand gehen und nicht als Erster Kriminalhauptkommissar.

«Aber ob du damit glücklicher sein würdest?», wurde er immer wieder gefragt.

«Ja, sicher.»

Je höher jemand in einer Hierarchie nach oben stieg, desto näher war er dem Himmel.

Zu wissen, dass er aus seinem Leben nicht das gemacht hatte, was möglich gewesen wäre, schmerzte umso mehr, je älter er wurde. Am besten verstanden alte Skatspieler, was er meinte: «Da hast du das Blatt für einen Grand in der Hand und spielst aus lauter Angst nur Karo.» Das brachte achtzehn Punkte ein, ein gewonnener Grand aber sechzig.

Was seine Allgemeinbildung anging, da konnte er es mit Leuten aufnehmen, die ein Prof. Dr. vor dem Namen stehen hatten, und beim Trivial Pursuit galt er als unschlagbar. Das lag daran, dass man sich als Kriminalkommissar pausenlos in andere Lebens- und Wissensbereiche hineinfinden musste, wenn man Erfolg haben wollte. Diesmal war es die Literatur der DDR. Als West-Berliner hatte er von Anna Seghers Das siebte Kreuz gelesen, von Hermann Kant Die Aula, ebenso ein, zwei Werke von Stefan Heym, und auch die Namen Christa Wolf, Christoph Hein und Jurek Becker kannte er, aber damit hörte es auch schon auf. Wer um Himmels willen war nur Bernhard Oybin?

Bevor sie sich näher mit ihm befassten, gab er den Namen bei Google ein und erfuhr immerhin einiges.

Bernhard Oybin war 1929 in Rathenow als Sohn eines Anstreichers geboren worden und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater hatte der KPD angehört und mehrere Jahre im KZ gesessen. Das bewog den jungen Bernhard Oybin dazu, in die SED einzutreten. Nachdem man ihm ermöglicht hatte, das Abitur an der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät, in Greifswald nachzuholen, studierte er Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte mit einer Arbeit zum Thema Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Romane. Schon während seiner Studienzeit hatte er zu schreiben begonnen und mit seinem ersten Roman Der Fährmann von Ketzin einiges an Aufsehen erregt. Sein größter Erfolg aber sei Der Dispatcher gewesen, der von der DEFA auch verfilmt wurde. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte Oybin als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften gearbeitet, gefürchtete Kritiken geschrieben und der Volkskammer der DDR angehört. Die Liste seiner Preise war lang. Bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Ausschluss von Jurek Becker, Erich Loest und Stefan Heym aus dem Schriftstellerverband der DDR hatte er auf der Seite der Herrschenden gestanden. Laut Unterlagen der Gauck-Behörde hatte er als IM, also Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berliner Schriftsteller ausgeforscht.

 

Nachfragen bei den verschiedenen Berliner Behörden ergaben, dass Oybin in einem Altenheim in Friedrichshagen untergebracht war. Sein Sohn lebte auf Kuba, seine Ex-Ehefrau, die Schauspielerin Katja Koschlick, in Karolinenhof. Mannhardt hielt es für besser, erst mit ihr zu sprechen, denn je mehr Informationen er im Vorfeld bekam, desto größere Chancen hatte er, Oybins Aussagen kritisch zu durchleuchten und ihn gegebenenfalls zu Fehlern zu verleiten. Der Sohn wäre auch nicht schlecht gewesen, aber … Mannhardt rief seinen Vorgesetzten an und fragte, ob der ihm eine kleine Dienstreise nach Havanna genehmigen würde.

«Nicht mal eine Havanna!»

«Aber einen Dienstfahrschein nach Karolinenhof bekommen wir doch bewilligt?»

«Dafür sperrt der Finanzsenator mich ein. Lasst die Dame doch zu euch kommen, das spart uns Kosten.» Mannhardt murrte. «Ich bin ein altmodischer Mensch, ich sehe mir gerne das Ambiente an, in dem die Leute leben.»

«Na schön, fahrt hin, seht aber zu, dass ihr einen Billigflug bekommt.»

«Einen Billigflug nach Kuba?», fragte Mannhardt, denn Hartnäckigkeit war ja eine große Tugend seines Berufsstandes.

«Einen Stehplatz in der Straßenbahn nach Karolinenhof. Bei unserem ausgeknautschten Etat sind keine Platzkarten mehr drin.»

«Soll ich allein zu der Koschlick fahren oder Rico mitnehmen?», fragte Mannhardt.

«Nimm ihn mit, er soll sich schließlich einarbeiten. Und euch beide wird ja die Diva nicht vernaschen, bei einem alleine aber hätte ich da größte Bedenken, nach allem, was man so hört. Sie soll ja noch immer ein ziemlicher Vulkan sein.»

Und das war sie tatsächlich, denn kaum war sie auf das Klingeln der Beamten hin nach vorn an den Gartenzaun gekommen und hatte gehört, dass die Herren von der Kripo kamen und etwas über Bernhard Oybin in Erfahrung bringen wollten, da schrie sie auch schon los.

«Darauf habe ich dreißig Jahre lang gewartet, dass endlich einer kommt und dieses Schwein hinter Schloss und Riegel bringt!»

Mannhardt fühlte sich bei solchen Entgleisungen immer peinlich berührt und im Umgang mit Furien wie dieser schlichtweg überfordert, Schönbier aber registrierte den Ausbruch cool und ziemlich amüsiert und holte sein Handy hervor.

«Soll ich noch schnell beim rbb anrufen, damit die ein Kamerateam herschicken?»

Sie sah ihn böse an und konterte mit einem Filmzitat. « Junge, so, wie du aussiehst, brauchst du keinen Strafzettel mehr. Du bist gestraft genug. Polizist in Mit Vollgas nach San Fernando, USA 1980, Regie: Buddy Van Horn. Ich kenne Tausende von Filmen.»

«Haben Sie eigentlich im Dispatcher selber mitgespielt?», fragte Mannhardt.

Katja Koschlick riss die Augen auf. «Sie sind ja bestens informiert!»

«Wenn es um Mord geht, kann man nie genug wissen.»

«Nichts ist verjährt!», rief Katja Koschlick. «Und ein Mord schon gar nicht. Kommen Sie rein, meine Herren, setzen wir uns auf die Terrasse. In diesem April ist es ja wärmer als manchmal im August. Da können wir stundenlang über dieses Arschloch reden.»

«Ich bitte Sie, gnädige Frau», sagte Mannhardt, um sie ein wenig zu bremsen.

Katja Koschlick sah ihn scharf an. « Ich möchte nicht gerne unterbrochen werden, wenn ich jemanden anpöbel. Charles Laughton als Richter Horfield in Der Fall Paradin, USA 1947, Regie: Alfred Hitchcock.»

«Hitchcock passt immer», merkte Schönbier an, während er die leeren Bier-, Wein- und Schnapsflaschen musterte, die neben der Mülltonne aufgereiht waren.

Katja Koschlick hatte seinen Blick verfolgt. «Der Rest ist Saufen, wenn man keine richtigen Rollen mehr kriegt. Mal ein bisschen Synchron, mal ein bisschen Werbung, wer soll das aushalten können. Aber wer nimmt heute noch eine Schauspielerin, die einen IQ von 160 und ein abgeschlossenes Hochschulstudium hat?»

Damit waren sie auf der Terrasse angekommen und setzten sich. Mannhardt sah sich um.

«So richtig schlecht zu gehen scheint es Ihnen aber auch nicht?» Das Haus an der Vetschauer Allee war zwar keine Villa, aber immerhin mehr als eine Hütte.

Katja Koschlick ließ das kehlige Lachen hören, das einst ihr Markenzeichen gewesen war. «Ja, ja, Oybin musste ganz schön bluten, nachdem er mich abserviert hatte.»

«Wann sind Sie denn geschieden worden?», fragte Schönbier.

«Noch vor der Wende, 1988. Es war mit seinen vielen Weibern nicht mehr auszuhalten. Es gab immer wieder mal ’ne Abtreibung, und eine hat sogar ein Kind von ihm bekommen. Einmal hat er wegen seines unsittlichen Lebenswandels auch ’nen mächtigen Rüffel von der Partei bekommen.»

Mannhardt kam vorsichtig zum Grund ihres Besuches. «Sie wissen ja, was nebenan in Schmöckwitz passiert ist?»

Sie fuhr ihn an. «Nein, junger Mann, aber wissen Sie es denn?»

«Na sicher, wegen der skelettierten Leiche auf dem Grundstück Ihres Mannes sind wir doch hier.»

«Witzbold, das weiß ich natürlich auch. Aber wie soll ich denn wissen, was damals in Schmöckwitz passiert ist? Ich war ja nicht dabei, als er eine von seinen Miezen umgebracht hat.»

«Aber zu der Zeit waren Sie doch noch verheiratet mit ihm?», wollte sich Schönbier vergewissern.

«Zu welcher Zeit?», fragte Katja Koschlick zurück.

«Der Mord ist irgendwann zwischen 1972 und 1982 geschehen.»

«Verheiratet waren wir noch, ja, aber ich war selten in Schmöckwitz draußen. Mal war ich zu Dreharbeiten unterwegs, mal an der Ostsee, mal am Balaton.» Sie fixierte Mannhardt und Schönbier. «Sind Sie etwa hier, weil Sie mich in Verdacht haben?»

Mannhardt fürchtete ihren Gefühlsausbruch, wenn er die Frage bejahte, und schwieg deshalb nur beredt.

Schönbier hingegen hielt sich nicht zurück und nahm lediglich seine Sonnenbrille ab, um nicht am Auge verletzt zu werden, wenn sie mit dem Aschenbecher nach ihm werfen sollte.

«Es ist unsere Pflicht, jeder Spur nachzugehen, und die Rache einer betrogenen Ehefrau ist ein Motiv, dem wir öfter mal begegnen.»

Katja Koschlick sprang auf. «Das Schwein hat Sie also auf mich gehetzt.»

«Wir waren ja noch gar nicht bei ihm», sagte Schönbier.

«Dann war es sein Freund, dieser Schwachkopf Mutsch.»

«Welcher Mutsch?», fragte Mannhardt.

«Na, Martin Mutsch, der Krimischreiber, den er immer gefördert hat.»

Mannhardt horchte auf. «Ein Krimischreiber?»

«Ja, der war mal Kriminalkommissar bei irgendeiner MuK, einer Morduntersuchungskommission, hier im Umland und hat sich zu Höherem berufen gefühlt. So schwul, wie er sei, sagt er, habe er es bei der Polizei nicht mehr ausgehalten. Sich immer verstellen. Ich mag ihn, aber …»

«Was aber?», fragte Mannhardt. «Sie denken da an ein Tauschgeschäft? Ihr Mann hilft Mutsch, damit der als Schriftsteller reüssiert, Mutsch revanchiert sich dann, als es darum geht, eine Leiche verschwinden zu lassen?»

Katja Koschlick nickte. «Sie sagen es, junger Mann. Die Menschen sind nicht nur menschlich. Verstehst du? In ihnen drin lebt auch ein Tier. Der Blinde Jon Voight in U-Turn – Kein Weg zurück, USA und Frankreich 1997, Regie: Oliver Stone.»

Martin Mutsch wohnte in der Schönhauser Allee, und da es dort eine Hochbahn gab, konnten Mannhardt und Schönbier auch in diesem Falle auf ein Dienstfahrzeug verzichten und einen weiteren Beitrag zur Entschuldung ihres bettelarmen Bundeslandes leisten.

Mannhardt fuhr nicht gern mit der Hochbahn, insbesondere wenn er in einem Wagen saß, der zur Baureihe Gisela gehörte und noch in der DDR gebaut worden war, in Hennigsdorf. Die Gisela -Züge waren zwar alle «ertüchtigt« worden, wie das in der Fachsprache hieß, aber dennoch … Als West-Berliner stand er allen Produkten aus der DDR mehr als skeptisch gegenüber. Was aus einem VEB, einem Volkseigenen Betrieb, kam, das konnte a priori nichts taugen, wo es denen doch an allem gefehlt hatte. War er mit alten Freunden zusammen, wurden über die DDR-Wirtschaft ständig Witze gerissen.