Der Lustmörder

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«Aber nicht unnütz brennen lassen und vor dem Einschlafen auspusten!»

Wasser gab es auch nicht mehr. Kappe hatte sich in weiser Voraussicht einen Eimer abgefüllt, um etwas zum Trinken zu haben und beim Harnlassen nachspülen zu können.

«Für das große Geschäft gehen wir aber zum Görlitzer Bahnhof oder in die Büsche!», mahnte Klara.

Es gibt Schlimmeres, sagte sich Kappe. Er brauchte nur daran zu denken, was Freunde und Kollegen im Krieg erlebt hatten. Dagegen waren die Tage im bestreikten Berlin die reinste Sommerfrische.

Er flüchtete sich ins Bett und schaffte es sogar, schnell einzuschlafen und das ganze Elend Deutschlands zu vergessen.

Der Montag zog herauf, der 15. März. Der Generalstreik lähmte alles gesellschaftliche Leben. Außer den Milchzügen und zwei Kohlentransporten kam in Berlin nichts mehr an. Auch die Post wurde nicht mehr zugestellt.

Kappe traf die Portiersfrau beim Anstehen vor dem Bäckerladen in der Manteuffelstraße.

«Beeil’n Se sich ma, sonst is allet ausvakooft.»

Neben Kappe wartete Anna Matuschewski, die Kohlenhändlerin von gegenüber. Sie berichtete, dass die Warenhäuser kurz nach der Eröffnung alle wieder geschlossen hatten. «O du mein himmlischer Herrgott, was soll nur aus uns werden?»

«Jetzt haben Se uns ooch noch det Jas abjedreht!», rief jemand oben aus dem Fenster.

«Scheibenkleister», murmelte Rylski, der Rentner, der hinter Kappe stand. «Ick wollte ma nachher jrade vajiften. Nicht mal den Spaß jönnen Se eim noch.»

Kappe bekam eines der letzten Brote, und da sie noch ein bisschen Butter und Marmelade aus Wendisch Rietz im Schrank stehen hatten, konnten sie einigermaßen feudal frühstücken.

Bei den Trampes, wo ein jedes der drei Kinder in die Kategorie «Fresssack» einzustufen war, gab es schon wieder Tränen. «Mama, ich hab noch so’n Hunger!»

Trampe zog los, um zu sehen, ob er irgendwo etwas organisieren konnte. Wieder schloss Kappe sich ihm an.

«Bei so vielen Soldaten auf einem Haufen kann ich die ja gleich mal fragen, ob sie den hier kennen.» Er zeigte Trampe das Photo, auf dem Erna Reczyns heißblütiger Liebhaber zu sehen war.

«Der hier … genannt Schluchti. Wir haben zwar Streik, aber … Bin ich nun gleich ein Streikbrecher?»

«An sich schon …»

Die Stimmung in Berlin schien immer explosiver zu werden. Den ersten Zusammenstoß erlebten sie am Görlitzer Bahnhof. Dort wollte eine Mannschaft der Technischen Nothilfe eine Wasserpumpe reparieren, doch die Anwohner ließen dies nicht zu, weil es sich dabei um deutschnationale Schüler und Studenten handelte.

«Haut ab hier, ihr Packzeug!» Die ersten Steine flogen.

Der Fahrer riss eine Pistole hervor und begann zu feuern. Kappe und Trampe schafften es nicht mehr, in den nächstgelegenen Hauseingang zu flüchten.

An diesem 15. März 1920 und an den nächsten beiden Tagen geschah noch viel in Berlin.

In der Steglitzer Schloßstraße wurden bei einem Streit zwischen Militär und Zivilisten acht Menschen getötet.

Am Halleschen Tor überfiel die Menge einen Militärlastwagen. Die Soldaten feuerten, mehrere Tote blieben am Platze, darunter ein junges Mädchen.

Ein scharfer Zusammenstoß erfolgte an der Ecke Invaliden- und Brunnenstraße. Eine Militärabteilung, die mit klingendem Spiel durch die Straßen zog, wurde von der Menge mit Steinen und Handgranaten beworfen, einigen Soldaten wurden die Waffen entrissen. Truppen mit Maschinengewehren und Flammenwerfern eilten zu Hilfe und eröffneten ein scharfes Gewehrfeuer. Vier Menschen wurden getötet.

In der Rheinstraße in Friedenau wurden nach einem Streit mit dem Militär vier Zivilisten von einem Maschinengewehr niedergemäht.

Am Dienstag, dem 16. März, ging es ruhiger zu, und es schien, als kämen alle ein wenig zur Besinnung.

Der Streik hatte sich noch verschärft. Mit Ausnahme der Milchzüge erreichte kein Fernzug das Berliner Stadtgebiet. Fast alle Verkehrsmittel waren ausgefallen, selbst die «wilden» Fuhrwerke waren diesmal nur spärlich zu sehen. Die meisten wurden zum Umkehren gezwungen, oder die Pferde wurden ihnen ausgespannt. Wenige Droschken fuhren, und dies nur zu horrenden Preisen. Die Elektrizitätsversorgung funktionierte nur mangelhaft, die Gasversorgung in den Häusern stockte gänzlich.

In den Mittagsstunden wurde der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen. Es gelang der Polizei, ihn zu retten.

An der Oranienbrücke wurde der Revolverdreher Baltzuweit, der mit einem Offizier in Streit geraten war, von diesem erschossen.

Am Friedrich-Wilhelm-Platz warfen zwei Soldaten Handgranaten. Einem Zivilisten wurde bei der Explosion ein Arm zerrissen.

Am Mittwoch, dem 17. März, kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen dem Volk und dem Militär, obwohl die Gewissheit zunahm, dass die letzten Stunden der Säbelherrschaft angebrochen waren.

Ein heftiger Kampf entbrannte am Kottbusser Tor. Gegen neun Uhr versammelten sich hier sechshundert bis siebenhundert Menschen, die an der Admiralstraße eine Barrikade errichteten. Eine Patrouille der Sicherheitspolizei, die die Menge auseinandertreiben wollte, wurde zurückgeschlagen. Daraufhin erschien eine Patrouille der Reichswehr. Schnell war sie von der Menge umringt. Man griff sich einige Soldaten und warf sie in den Landwehrkanal. Hierauf wurde eine starke Abteilung der Reichswehr mit einem Minenwerfer entsandt. Aus fünfhundert Metern Entfernung feuerte das Geschütz eine schwere Mine ab, die unweit der Hochbahn auf das Straßenpflaster fiel und dort explodierte. Zwölf Menschen wurden auf der Stelle zerrissen, acht andere schwer verletzt. Alle, die in der Nähe standen, trugen Verletzungen durch Geschosssplitter davon. Unter furchtbaren Schreien stob die Menge auseinander. Zurück blieben ein Krater auf dem Fahrdamm, verbogene Straßenbahnschienen, herabgerissene Oberleitungen und verformte Träger des Hochbahnviadukts.

Hermann Kappe und Theodor Trampe umarmten sich auf dem Mariannenplatz. «Hurra, wir haben gesiegt!» Die nur hundert Stunden währende Herrschaft der Putschregierung war beendet, Dr. Wolfgang Kapp und General Freiherr von Lüttwitz waren von ihren Ämtern zurückgetreten.

«Wann werden die aufrührerischen Truppen abziehen?», fragte Kappe.

«Na, hoffentlich noch heute.»

Heute, das war Donnerstag, der 18. März. Nachdem ihnen am Montag die Kugeln dicht am Kopf vorbeigeflogen waren, wagten sie sich erst heute wieder auf die Straße hinunter.

Möglicherweise zu früh, denn gleich nebenan in der Wrangelkaserne gab es einen gewaltigen Tumult, als einige hundert Kommunisten versuchten, Waffen der dort einquartierten Sicherheitspolizei an sich zu bringen, was aber misslang.

«Los!», schrie einer beim Vorbeilaufen. «Zum Hermannplatz, da wird noch jekämpft!»

Kappe und Trampe ließen sich nicht mitreißen. Später erfuhren sie, dass bei den Auseinandersetzungen dort ein Offizier getötet und zwei Soldaten schwer verletzt worden waren.

Kappe holte das Photo aus der Tasche, das ihm Vera Orschel so liebevoll überlassen hatte. «Ich bin ja immer noch auf der Suche nach diesem Schluchti hier. Wie auch immer er heißt, er soll Soldat bei den Baltikumstruppen sein oder zumindest gewesen sein.»

«Eilen wir doch zu den Gebäuden, in denen sie untergebracht waren», schlug Trampe vor. «Fragen kostet ja nichts. Du solltest nur nicht sagen, dass du den Mann als Doppelmörder suchst.»

«Nein, nein, das ist mein Bruder, der als vermisst gemeldet worden ist.»

Sie machten sich auf den Weg in die Innenstadt. Die Nervosität der Menschen auf den Straßen war geradezu mit Händen greifbar. Zahllose Gerüchte über angeblich bevorstehende Aktionen der Kommunisten schwirrten umher. Die antisemitischen und nationalistischen Wanderredner waren allerdings von den Plätzen verschwunden, was Kappe und Trampe aufatmen ließ. Doch die Döberitzer Putschisten saßen noch immer - wie die beiden schnell feststellen konnten - in den öffentlichen Gebäuden, und ihre Fahnen wehten weiterhin von den Dächern der besetzten Häuser. Wenigstens standen auf dem Potsdamer Platz wieder blaue Schutzleute und keine Kapp-Soldaten mehr.

«Mir waren die Blauen nie sympathisch», sagte Trampe, «heute aber könnte ich ihnen um den Hals fallen.»

An der Potsdamer Brücke standen in langen Kolonnen und zum Abmarsch bereit Kanonen, hoch bepackte Lastwagen und mit Pferden bespannte Proviantwagen. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt und jubelte lauthals. Spott ergoss sich über die Soldaten. Einige verloren die Nerven und schossen über die Köpfe der Leute hinweg.

Kappe und Trampe warfen sich auf den Boden und verfluchten sich, dass sie nicht zu Hause geblieben waren. Am nördlichen Ufer des Landwehrkanals liefen sie zur Königin-Augusta-Straße, wo die Garnison des Reichsmarineamtes aufmarschierte. Offiziere, den Sturmhelm auf dem Kopf, die Pistolen im Gürtel, gingen an den Reihen der marschfertigen Truppen entlang.

«Wir ziehen jetzt nach Lichterfelde!», rief einer. «Wenn ihr unterwegs angepöbelt werdet, dann rücksichtslos schießen!»

Kappe und Trampe machten, dass sie weiterkamen. Irgendwie gelang es ihnen auch, der Menschenmenge, von der sie mitgerissen wurden wie Hölzchen in einem wild schäumenden Gebirgsbach, zu entkommen. Sie strebten ständig zum Rand hin. Schließlich waren sie frei und liefen durch den Tiergarten Richtung Brandenburger Tor und Unter den Linden.

Dort fanden sie gegen vier Uhr nachmittags verschiedene Militärabteilungen versammelt. Ein Kommandeur hielt gerade eine Ansprache, die mit einer Wendung endete, welche Trampe die Zornesröte ins Gesicht trieb: «Da die von der Mehrheit des Volkes gewählte Regierung unserer Dienste nicht mehr bedarf, wollen wir wieder in unsere Quartiere zurückkehren.»

 

Kappe wollte die günstige Gelegenheit nutzen und begann, Trampe immer neben sich, den wartenden Soldaten das mitgebrachte Photo zu zeigen.

«Das hier ist mein Bruder. Den suche ich ganz verzweifelt. Er war im Detachement von Randow, hat auch das Kreuz bekommen. Sie haben ihn alle Schluchti genannt.»

Die Soldaten reagierten nicht unfreundlich, niemand aber hatte den Mann gesehen oder irgendwann einmal den Spitznamen Schluchti gehört.

Nach einer Viertelstunde geriet Kappe an einen Bayern, der lauthals loslachte, als er hörte, dass nach einem Schluchti gesucht wurde.

«Davon gibt’s Hunderttausende!»

«Wieso?», fragte Kappe.

«Weil bei uns alle Österreicher so heißen.»

Kappe verstand noch immer nichts. «Alle Österreicher?»

«Ja, ein Schluchti ist ein Schluchtenscheißer.»

«Ah, danke.» Kappe steckte das Photo schnell wieder weg, um nicht auch als Schluchtenscheißer verspottet zu werden.

Was bedeutete das? Höchstwahrscheinlich, dass der Mann, den er suchte, Österreicher war und sich Erna Reczyn vielleicht über ihn lustig gemacht hatte, wie offenbar über alle Männer, die hinter ihr her und ihr hörig waren. Also mussten sie nicht nach einem Schlucht, Schluchter oder Schluchtermann suchen, sondern nach einem Österreicher, der dem Detachement von Randow angehört hatte.

Der Ausmarsch der Truppen erfolgte gegen sechs Uhr abends in geschlossenen Kolonnen und mit wehenden schwarz-weiß-roten Fahnen und Hakenkreuzen an den Helmen.

«Diese verdammten Schweine!», schrie Trampe.

Er war nicht der einzige, der sich nicht derart verhöhnen lassen wollte.

«Mörderbande, haut bloß ab aus Berlin!»

«Feige Hunde! Auf wehrlose Menschen schießen, das könnt ihr, aber mehr auch nicht!»

Es war unschwer zu erkennen, dass sich da noch einmal etwas zusammenbraute, und Kappe fürchtete, erneut in einen Kugelhagel zu geraten. Also stieß er Trampe beiseite.

«Los, ins Adlon rein!»

«Ich habe geschworen, nie ins Adlon zu gehen!» Ein aufrechter Sozialdemokrat hasste die Leute, die im Adlon übernachteten, als Parasiten und Ausbeuter. Dennoch gab Trampe nach. «Ehe ich mich zu guter Letzt noch erschießen lasse!»

Kappe zog ihn mit durch die Drehtür. Kaum hatten sie in der Lounge Platz genommen, ging es draußen auch schon los. Die Menge hatte die Durchlässe des Brandenburger Tores völlig versperrt, kein Soldat kam durch. Die Mannschaften gaben zuerst Schreckschüsse ab, doch als die Menge gegen sie Front machte und sie zurückdrängen wollte, schwärmte eine Kompanie aus und gab scharfes Feuer. Zwölf Tote und über zwanzig Verletzte blieben auf dem Platze. Als nicht mehr geschossen wurde, trug man sie ins Adlon.

«Da hätten wir auch dabei sein können», sagte Trampe.

«Was nicht ist, kann ja noch werden.» Kappe liebte es in letzter Zeit, sarkastisch zu werden. «Die Nachwehen des Putsches werden wohl noch eine Weile anhalten.»

FÜNF

HERMSDORF wurde 1349 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt. Es wuchs, blühte und gedieh bis zum Dreißigjährigen Krieg, wurde zerstört und wieder aufgebaut, wechselte häufig den Besitzer und erlebte einen ersten Boom, als 1836 der Rentier Wernicke eine Fabrik für Tonwaren gründete. Sein Nachfolger erweiterte sie, wobei er den Wiesenkalk aus dem verlandeten Hermsdorfer See zur Herstellung von Ton- und Zementwaren nutzte. Terrakotten aus Hermsdorf schmückten sogar das neue Berliner Rathaus. 1877 erhielt Hermsdorf einen Bahnhof an der Nordbahn, und nach 1880 begann die Bebauung der Feldmark. Um den Waldsee herum entstand ein nobles Villenviertel. Eine Solquelle wurde gefunden, an der Kurhausstraße wurde eine Kneipp-Anstalt eröffnet. Hermsdorf entwickelte sich zur Gartenstadt und wurde an Sommersonntagen zum beliebten Ausflugsziel der Berliner. Etablissements mit so klangvollen Namen wie Bellevue, Kaiserhof, Paradiesgarten oder Waldschlößchen lockten die Ausflügler an. Am Vatertag kamen sie mit dem Kremser, zu Schützen- und Erntefesten mit der Bahn.

Mit Ausbruch des Krieges aber war es in Hermsdorf ruhig geworden. Die Militärkapelle hatte sich aufgelöst, die Menschen wollten nicht mehr im Konzertgarten sitzen und Walzer tanzen.

Friedrich Schulz, Jahrgang 1893, hatte die guten alten Zeiten noch lebhaft in Erinnerung, denn sein Vater hatte im besagten Waldschlößchen als eine Art Geschäftsführer fungiert. Über das Leben und Treiben dort heißt es bei Gerd Koischwitz in der Reinickendorfer Bezirksgeschichte Sechs Dörfer in Sumpf und Sand :

Hier gab es Bankette für die Vereine, Sommerfeste und Wintervergnügen. Den Garten mit seinen festlich gedeckten Tischen begrenzte die überdachte Galerie. Bis zu zwanzig Aushilfskellner flitzten hier draußen auf den Kieswegen herum, um die Bestellungen der Gäste entgegenzunehmen, und die Massen strömten herein, bei schönem Wetter manchmal 7000! Sie wiegten sich zu den Klängen der 50 Mann starken Militärkapelle auf der Tanzfläche vor der Konzertmuschel im Walzertakt.

In der Abenddämmerung leuchtete in der künstlichen Grotte ein bengalisches Feuer auf. Springbrunnen schickten ihre Fontänen zu den Kiefernwipfeln empor. Die Stimmung erreichte den Höhepunkt, wenn einige Bläser zum Hügel hinaufstiegen und auf den hölzernen Turm … Von der Höhe klang bedeutungsvoll und getragen «Die Post im Walde» zu den Lauschenden herab. Man war gerührt und kam gern wieder.

Ferdinand Schulz hatte in den Glanzzeiten des Waldschlößchens so viel verdient, dass er sich in der Roonstraße, nicht weit entfernt vom Bahnhof Hermsdorf, ein Mietshaus kaufen konnte, in dessen Erdgeschoss der Sohn später seinen Elektroladen einrichten sollte. Fleißig und strebsam wie er war, hatte es Friedrich Schulz bald zum Meister gebracht und war ringsum als Elektroinstallateur ein ebenso beliebter wie gefragter Mann. War er auf Montage, dann verkaufte seine Frau Ursula, die etwas älter als er war, vorn im Laden all den Kleinkram, den die Leute so brauchten. Nebenbei betreute sie die beiden Kinder, unterstützt von ihrer Mutter, die im selben Hause wohnte. Niemand verstand, warum sie bei der vielen Arbeit, die sie hatte, so «auslegen» konnte - damit war ihre beträchtliche Korpulenz gemeint. Wer voller Neid war, nannte sie auch nach alter Berliner Art eine «Maschine». Sie nahm es mit Humor.

In den drei Wochen, die Friedrich Schulz in der Charité hatte zubringen müssen, und in der Zeit danach, als er gezwungen gewesen war sich zu schonen, hatte sein Geselle Max Nohra den Laden «geschmissen». Dies nicht immer zur Zufriedenheit aller, denn er war im Umgang mit den Kunden, insbesondere den Hausfrauen, ein wenig unbeholfen, aber immerhin hatte er keine spektakulären Kurzschlüsse ausgelöst, und die Firma Elektro-Schulz schrieb noch immer schwarze Zahlen.

Gegen Mittag kam Schulz aus Berlin zurück, wo er bei seinem Großhändler Lötzinn, Kabel, Steckdosen und Schalter geordert hatte. Er brachte auch freudige Kunde mit.

«Gestern haben sie in fast allen Kraftwerken die Arbeit wiederaufgenommen, und heute Nachmittag soll es überall wieder Strom geben!»

«Das muss ich mir dick auf dem Kalender anstreichen», sagte Ursula Schulz und machte tatsächlich auf dem Blatt Donnerstag, 25. März mit ihrem Kopierstift ein dickes rotes Kreuz.

«Was liegt heute noch alles an?», fragte ihr Mann.

Sie sah in ihr Auftragsbuch. «In der Bäckerei Drahtzug hat ein Maurer ein Kabel durchtrennt, und in Alt-Heiligensee bei Greppin, das ist gleich neben der Straßenbahnremise, sollen auf dem Dachboden Leitungen verlegt werden.»

Schulz nickte. «Sehr schön. Dann soll Nohra nach Heiligensee fahren, während ich mich um Drahtzug kümmere.»

«Aber erst wird mal Mittag gegessen, du sollst wieder richtig auf die Beine kommen.»

Schulz dankte ihr für ihre Fürsorge. So ganz hundertprozentig war er noch immer nicht auf dem Damm. Beim Fahrradfahren musste er mitunter abbremsen, weil ihm schwindlig wurde, und immer, wenn das Wetter abrupt wechselte, litt er unter starken Kopfschmerzen. Zudem war er etwas vergesslich geworden. Äußerlich sah man ihm nichts mehr an. Die Wunden am Kopf ließen sich kaschieren, wenn er die Haare etwas länger trug und sie geschickt nach hinten kämmte. Zwar sah er dann eher aus wie ein wild gewordener Dirigent in der Philharmonie, aber die Leute kannten ihn ja und vertrauten weiterhin seinen elektrotechnischen Künsten.

Punkt dreizehn Uhr schlossen die Schulz den Laden und gingen in den zweiten Stock hinauf, um in der Küche von Friedrichs Mutter zu essen. Max Nohra hatte sich schon eingefunden, und Lieselotte, die fünfjährige Tochter, saß auf ihrem Schaukelpferd und gab sich alle Mühe, dem Kater Mau die Pfoten einzuklemmen. Als Letzter erschien Sohn Wilhelm am Mittagstisch. Er spielte mit seinen Freunden nach der Schule immer «Kapp-Putsch in Berlin». Dabei bewarfen sie sich - Ende März gab es kaum andere Wurfgeschosse - mit Pferdeäpfeln. Bekam Wilhelm einen Volltreffer mitten ins Gesicht, bei dem Krümel auch noch vorn ins Hemd rutschten, stank dann die ganze Wohnung wie ein Pferdestall. So wie heute. Aber Schulz trug es mit Fassung.

Emma Schulz, die lange Jahre als Beiköchin im Waldschlößchen gearbeitet hatte, war Meisterin im Zubereiten guter deutscher Hausmannskost. Jeden Donnerstag gab es gebratene Blutwurst mit Sauerkraut und Salzkartoffeln, wonach sich alle schon seit dem Morgen die Lippen leckten.

«Was gibt’s denn Neues in Berlin?», fragte Emma Schulz, als sie das Essen auf den Tisch gestellt hatte und alle zulangen konnten.

«Am schlimmsten ist es wohl nebenan in Hennigsdorf gewesen. Da haben die Rotgardisten die Eisengießerei der AEG besetzt gehabt, und die Truppen haben Artillerie und Panzerkraftwagen eingesetzt. Die Kommunisten hatten Maschinengewehre und Handgranaten, von denen sie immer sechs zu einem Bündel zusammengeschnürt haben. 35 Tote soll es gegeben haben.»

Wilhelm machte große Ohren. «Wir haben uns auch Handgranaten geschnitzt. Aus Kiefernholz. Georg hat eine an den Kopf gekriegt und war auch wie tot.»

«Hört endlich auf mit dem Unfug!», rief Ursula Schulz. «Sonst wird dir auch noch’n Auge ausgeschossen wie dem Rudi.»

«Macht doch nichts, ich hab ja zwei.»

Seine Oma hob den Arm. «Das stimmt, aber wenn du weiterhin so freche Reden führst, wirst du aus dem einen bald nichts mehr sehen, weil es nämlich zugeschwollen ist.»

«Mutter, bitte!» Schulz suchte sie zu besänftigen. «Geschlagen wird hier nur die Sahne. Ich bin froh, dass der Junge nicht auf den Mund gefallen ist.»

«Was sagst du dazu, Ursel?»

Ursula Schulz sagte gar nichts. Eigentlich hatte sie sich jetzt bei Tisch den Gesellen, der ihr gegenübersaß, zur Brust nehmen wollen, aber was sie ihm zu sagen hatte, ließ sich wohl doch nicht im Beisein ihrer Kinder abhandeln. Eine Kundin aus Lübars, bei der Max Nohra am Montag gewesen war, hatte angerufen und den Verdacht geäußert, er habe ihr einen Büstenhalter und ein paar Seidenstrümpfe von der Wäscheleine gestohlen. Und auch sonst sei er komisch gewesen. Sie hatte die Frau beruhigt und ihr gesagt, sie hätte bei Nohra nie ein Interesse für das andere Geschlecht wahrgenommen.

«Im Gegenteil, den könnte man glatt als Haremswächter einsetzen.»

«Und wo, meinen Sie, sind meine Kleidungsstücke geblieben?»

«Die sind mit Sicherheit vom Wind weggeweht worden.»

«Dann meinen Sie also, ich sei eine Lügnerin?!»

«Nein, Entschuldigung, Frau Kästner.» Doch insgeheim glaubte Ursula Schulz, dass die einsame Witwe sich das Ganze wegen des damit verbundenen Kitzels ausgedacht hatte.

Lieselotte nutzte die geistige Abwesenheit ihrer Mutter, um der Puppe Klara ein Stück Blutwurst an den Po zu kleben.

«Mutti, guck mal, Klara hat Kacka gemacht.»

Ihre Oma lachte. «Da müssen wir aber mal zum Arzt gehen, ob sie nicht Hämorrhoiden hat … mit Blut im Stuhl …»

«Mutter, bitte, die Kinder!» Schulz zeigte sich wieder einmal entsetzt über die drastische Art seiner Mutter.

«Was sind Humoriden?», fragte Wilhelm, immer auf der Suche nach neuem Spielzeug.

«Nichts für Kinder!», rief Ursula Schulz. «Kinder haben noch keine.»

«Sag es ihm doch.» Emma Schulz ließ nicht locker. «Schließlich will der Junge mal Arzt werden.»

«So Pickel am Po», erklärte ihm seine Mutter schließlich.

«Das sind Arschknödel, Wilhelm», flüsterte Max Nohra dem Jungen ins Ohr.

 

«Wie, Aschenbrödel?», fragte Emma Schulz. «Hatte die auch welche?»

«Schön, dass es in diesen trüben Zeiten noch was zu lachen gibt», sagte Ursula Schulz.

Wollte man von der Roonstraße am Bahnhof Hermsdorf zum Heiligenseer Dorfanger, der auf einer schmalen Landzunge zwischen Heiligem See und der Havel beziehungsweise dem Nieder-Neuendorfer See gelegen war, ging das am schnellsten, wenn man auf dem Fahrrad den Tegeler Forst durchquerte, was aber wegen der sandigen Wege und diverser Steigungen und Abfahrten nicht ganz einfach war. Man konnte aber auch einen Umweg über feste Straßen machen, das heißt auf der Bismarckstraße bis zum Humboldt-Schloss radeln, um dann nach einem kurzen Stück auf der Carolinenstraße auf der Chaussee über Heiligensee, Konradshöhe und Tegelort ans Ziel zu kommen.

Im ersten Falle waren es knapp siebeneinhalb Kilometer, die zurückzulegen waren, im zweiten Falle neun, doch wenn Max Nohra einen Kilometerzähler an seinem Fahrrad gehabt hätte, dann hätte dieser fünfzehn Kilometer angezeigt. Der Grund dafür war, dass er in Hermsdorf, Schulzendorf und Heiligensee gewaltige Schlenker machte, ja manchmal auch die abgelegene nördliche Route über Frohnau und Stolpe nahm, um über die Zäune zu gucken und Menschen zu beobachten - genauer gesagt: Frauen. Wenn sie am Boden knieten, um Unkraut zu jäten, oder auf einer Leiter standen, um Kirschen zu pflücken, dann verspürte er so heftig wie sonst nie seinen Trieb. Und wenn er einmal ein Wäschestück auf einer Leine flattern sah, das seine Fantasie anregte, dann nahm er es herunter, um es später zu Hause zu benutzen. Das war allerdings nicht das, worauf er eigentlich aus war.

Doch es half alles nichts, er konnte nicht ewig herumfahren und nach einer günstigen Gelegenheit suchen, irgendwann musste er an seiner Arbeitsstelle auftauchen. Was hatte die Chefin ihm aufgeschrieben? Er suchte, nur die linke Hand am Lenker, in der rechten Seitentasche seiner braunen Joppe. Ah ja, da war der Zettel: Alt-Heiligensee bei Greppin, gleich neben der Straßenbahnremise. Auf dem Dachboden Leitungen verlegen.

Als er den kleinen gelbbraunen Backsteinbau erreicht hatte und klingelte, tat sich lange gar nichts. Max Nohra fluchte leise vor sich hin. Da saß er nun stundenlang auf dem Rad, und dann waren diese Armleuchter nicht zu Hause. Er entschloss sich, Sturm zu klingeln.

Endlich ging oben im ersten Stockwerk ein Fenster auf, und ein Mann von etwa dreißig Jahren fragte, was denn los sei.

«Los is, wat nich anjebunden is!», knurrte Max Nohra, besann sich dann aber seiner Chefin zuliebe und wurde freundlicher. «Sie haben uns doch angerufen. Elektro-Schulz aus Hermsdorf.»

«Ich habe niemanden angerufen.»

Max Nohra sah noch einmal auf seinen Zettel. «Hier ist doch Greppin?»

«Nein, ich … Doch, warten Sie mal einen Augenblick.»

Eine junge Frau, die nur schnell einen Bademantel übergeworfen hatte, schob ihn zur Seite. «Ja, was ist denn? Ich bin die Tochter von Herrn Greppin.»

«Und ich bin der Geselle von Elektro-Schulz. Ich soll bei Ihnen Leitungen auf ’m Dachboden verlegen.»

«Das passt aber schlecht heute!», rief der Mann nach unten. Klar, dachte Max Nohra, weil ihr die nächste Nummer schieben wollt. Dass das unter ihm im Schlafzimmer geschah, wenn er darüber auf dem Dachboden seine Strippen zog, erregte ihn über alle Maßen.

«Ich bin ja oben unterm Dach, juchhe, und störe keinen!», schrie er deshalb nach oben.

Fräulein Greppin sagte darauf zu ihrem Liebhaber etwas, das er vorn am Gartentor nicht verstehen konnte. Der Mann nickte, wenn auch anscheinend etwas unwillig. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ihr Vater wütend würde, wenn sie den Monteur wieder nach Hause schickte und die Arbeit auf dem Dachboden liegenblieb.

«Kommen Sie, aber wir möchten nicht bei der Arbeit gestört werden.»

Schöne Arbeit, dachte Max Nohra, und nahm seinen Monteurkasten, um einzutreten. Als er auf dem Dachboden angekommen war, suchte er sofort nach einer Möglichkeit, sich ein Guckloch nach unten zu verschaffen.

Friedrich Schulz konnte zu Fuß zur Bäckerei Drahtzug gehen, denn bis zum Kaiserplatz, der später Fellbacher Platz heißen sollte, waren es keine dreihundert Meter. Seine Familie und die Drahtzugs waren seit langem befreundet, insbesondere die beiden Frauen, Ursula und Dora, saßen oft beieinander, obwohl Dora Drahtzug zwanzig Jahre älter war. Als er seinen Monteurkasten geschultert hatte, kam seine Frau noch einmal auf ihn zu.

«Dora macht sich in letzter Zeit Sorgen um Theo …» Ursula Schulz seufzte bedeutungsvoll.

«So?» Friedrich Schulz liebte solche kryptischen Einleitungen nicht sonderlich. «Was ist denn mit ihm?»

«Sie sagt, dass er so komisch sei.»

«Jeder Mensch ist mal komisch», brummte Schulz und sah ostentativ auf die Uhr. «Wieso ist er denn komisch?»

«Er schenkt ihr andauernd was, das hat er früher nie getan.»

«Da soll sie sich doch freuen.»

Ursula Schulz ließ nicht locker. «Das ist doch meistens nur das schlechte Gewissen.»

«Warum soll er das haben?»

«Er spricht so wenig.»

Schulz lachte. «Dafür spricht sie umso mehr.»

«Fritz, bitte! Wenn ein Mann sich so verhält wie Theo, dann steckt meistens eine Andere dahinter.»

«Eine andere Frau?»

«Ja, was denn sonst?»

Schulz prüfte, ob auch Isolierband in seinem Monteurkasten steckte. «Woher soll ich das wissen?»

«Ihr spielt doch alle vierzehn Tage Skat miteinander.»

«Da ist aber keine Frau dabei, nur noch Ballmann.» Das war der Orts-Gendarm. «Außerdem sind wir keine Busenfreunde, keiner duzt den anderen.»

«Trotzdem … Hat er denn nie was von einer Frau erzählt?» Schulz überlegte. «Doch …»

«Von wem denn?»

«Von Fritzi Massary.»

«Komm, hör auf!» Ursula Schulz stieß ihrem Mann den Ellenbogen in die Rippen.

Er schrie auf. «Mensch, aua!» Seine Wunden waren zwar verheilt, die Rippen waren aber noch schmerzempfindlich.

Sie küsste ihn. «Entschuldige bitte.»

«Du, ich muss wirklich, sonst …»

Theodor Drahtzug wartete in der Tat schon auf ihn. Er war stämmig und so drahtig, wie es sein Name versprach, dabei aber von so mehlig-grauer Gesichtsfarbe, dass ihn die Schulkinder als «Teigaffen» verspotteten.

«Schön, dass Sie doch noch kommen.»

«Es hat doch in den letzten Tagen sowieso keinen Strom gegeben», sagte Schulz.

«Da sieht man’s mal: Ohne Strom kann der Mensch zwar leben, aber nicht ohne Brot.»

«Doch. Meine Mutter sagt immer: In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot.» Schulz setzte seinen Monteurkasten ab.

«Wie sind Sie denn die letzten Wochen so über die Runden gekommen?»

«Ganz gut, aber Kuchen und Torten kann ich keine mehr backen, für Eier muss man heute drei Mark das Stück bezahlen und für das Pfund Butter 45 bis 60 Mark - da wird ja ’n Stück Torte so teuer, dass die Leute es in den Tresor legen müssten.»

«Sie hätten es wohl gerne gesehen, wenn Kapp Reichskanzler geblieben wäre», meinte Schulz.

«Ja, und ich bin auch dafür, dass unser Kaiser wiederkommt!», bekannte Drahtzug.

«Öfter mal was Neues ist doch auch nicht schlecht», sagte Schulz.

Drahtzug sah ihn böse an. «Wie meinen Sie denn das?»

«Hier in Hermsdorf wird so allerlei gemunkelt …»

«Was denn zum Beispiel?» Drahtzug steckte sich eine Zigarette an, und auch der Dümmste hätte ihm angemerkt, dass ihm dieses Thema gar nicht schmeckte.

Schulz schaffte es nicht, Drahtzug ins Gesicht zu sehen.

«Dass Sie … Ach, wissen Sie, ich verliere nicht gerne einen guten Kunden.»

«Ich weiß doch, was die Leute reden: dass ich in Tegel ’ne Geliebte habe und dass meine Frau mich auf die Straße setzt, wenn sie das hört.»

«Wie - Sie auf die Straße setzen …?»

«Na, ihr gehört doch die Bäckerei, nicht mir. Sie hat sie von ihrem Vater geerbt, ich hab nur eingeheiratet. Und darum kann sie sich alles rausnehmen und mir das Leben zur Hölle machen mit ihrer krankhaften Eifersucht! Nur weil ich mal ’ne Kundin anlächle. Wenn Sie, lieber Schulz, nicht von dem Liebespaarmörder niedergeschlagen worden wären, dann würde sie noch denken, ich wäre derjenige, der da am Dohnensteig und früher auch schon ein paar Mal … ich mit meinen Trieben!» Drahtzug schwieg, offensichtlich erschrocken darüber, viel mehr gesagt zu haben, als eigentlich angebracht gewesen wäre.

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