Das Duell des Herrn Silberstein

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»Hat er aber nicht?«

»Nein.«

Rana schüttelte den Kopf. »Aber Hinckeldey hat doch bekanntermaßen ›ein schwaches Gesicht‹, wie die Berliner sagen.«

Frühbeis lachte. »Ja, kurzsichtig wie ein Maulwurf ist er, und meine Zugehfrau hat gesagt: ›Der sieht doch uff zwölf Schritte keen Möbelwagen.‹ Darum soll er sich ja auch mit dem König so gut verstehen: Der läuft ja auch öfter gegen die dicksten Bäume.«

Rana zog an seiner Zigarre. Den Rauch trinken, nannte er das. »Ja nun, wer weiß, wozu es gut ist … Wo und wann wollen sie sich denn duellieren?«

»Nächsten Montag um zehn Uhr morgens in der Jungfernheide, gleich am Forsthaus Königsdamm. Willst du hingehen?«

»Natürlich. Rein zufällig werde ich zur Stelle sein.« Seine Neugierde war größer als seine Angst, vielleicht in irgendwelche polizeilichen Ermittlungen verwickelt zu werden und dadurch womöglich den einen oder anderen Auftrag zu verlieren. »Ein Duell, wunderbar! Ein Leben ist ja so kurz, und wann hat man schon einmal Gelegenheit, ein solches Schauspiel zu verfolgen.«

»Apropos Schauspiel.« Frühbeis griff zur Rotweinflasche, um sich nachzuschenken. »Ich komme mit, denn wer weiß, vielleicht kriege ich bald einmal eine Rolle, in der ich mich duellieren muss, und dann ist es sicher von Vorteil, so etwas schon einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben.«

So saßen sie denn am 10. März schon frühmorgens in einer Droschke, um sich durch den Thiergarten nach Lietzow fahren zu lassen. Rechts hinter dem Charlottenburger Schloss ging es über die Spree hinweg. Auf der Holzablage hinter der Brücke entdeckten sie Louis Krimnitz, der gerade beim Löschen einer für ihn bestimmten Ladung Hand anlegte. Sie winkten ihm zu, sahen aber keinen Anlass, anzuhalten und mit ihm zu plaudern. Die Gefahr, zu spät zu kommen, war zu groß, und Krimnitz musste ja auch nicht unbedingt wissen, was sie zu dieser frühen Stunde in die Jungfernheide trieb.

»Ein komischer Kerl«, sagte Benno Frühbeis. »Ich traue ihm nicht so recht über den Weg.«

»Er hängt an mir wie eine Klette.«

»Eher wie ein Parasit«, korrigierte ihn Frühbeis.

»Wie auch immer – ohne mich kann er sich aufhängen, und ich möchte nicht schuld daran sein. Außerdem brauche ich ihn bei meinen Festen. Keiner singt so schön wie er die schauerlichsten Balladen, und keiner schleppt so schöne Frauen herbei.«

Knapp hinter dem Belvedere, wo die Spree einen scharfen Bogen nach Westen machte, ließen sie den Kutscher halten. Sie entlohnten ihn und wanderten dann einen staubigen Feldweg entlang, der zum Nonnendamm führte. Über die Nonnenwiesen, deren östlichen Zipfel sie gerade berührten, zogen feuchte Nebelschwaden.

»Welch eine Kulisse!« Benno Frühbeis geriet ins Schwärmen.

»Doch diese Morgenstunde hat nicht Gold, sie hat den Tod im Munde«, sagte Rana.

»Ist das nicht dasselbe? Nur der Tod nimmt uns die Angst vor ihm. Also ist er golden.«

»Verschon mich mit deiner verqueren Philosophie!«, rief Rana. »Das Einzige, was mir am Tod gefällt, sind die Todsünden, zwei vor allem: die Wollust und die Völlerei.«

So ging es noch eine Weile hin und her, bis sie auf ein breites Waldstück stießen, an dessen südlichem Rand sich der Königsdamm von Spandau Richtung Wedding zog. Bald entdeckten sie die beiden kleinen Gruppen um v. Rochow und um v. Hinckeldey und suchten Deckung hinter einem Wall aus aufgehäuften Feldsteinen, umgestürzten Bäumen und verfilzten Brombeerbüschen.

Die Lichtung wurde zur Bühne, und sie bekamen ein Drama zu sehen, wie es nicht mal das Königliche Schauspielhaus zu bieten hatte.

»Ein bisschen absurd ist es schon«, flüsterte Benno Frühbeis. »Da lässt der Junkerclub auf einen schießen, der selber von Adel ist und, indem er die Opposition niederhält, doch nur dessen ureigenste Interessen vertritt.«

»Egal, ich bin für Rochow, denn Hinckeldey hat mich um ein Haar in den Ruin getrieben.« Worauf Rana da anspielte, war die Affäre um die »Einmann-Pissoirs«. Hinckeldey hatte sich schon lange über das wilde Plakatieren in der Stadt geärgert und den Unternehmer Ernst Litfaß über 150 Reklamesäulen aufstellen lassen. Die waren innen hohl und boten Platz für ein kleines Urinal. Zwang man die Männer dort hinein, war viel für die öffentliche Schicklichkeit wie die Hygiene getan. Die Berliner nannten ihren Polizeipräsidenten daraufhin »Pinkel-Bey« und reimten: »Ach, lieber Vater Hinckeldey, / mach uns für unsre Pinkelei / doch bitte einen Winkel frei.« Aber die Sache scheiterte schließlich, weil sie den einen zu albern und den anderen wegen des schwer zu installierenden Abflusses zu teuer erschien. Rana aber hatte schon einige Vorleistungen erbracht und war nun um einiges ärmer geworden.

Benno Frühbeis packte ihn am Arm. »Pass auf, Hinckeldey zielt schon.«

Als Beleidigter hatte der Polizeipräsident den ersten Schuss. Doch seine Pistole versagte. Als er mit seiner Waffe zum zweiten Mal anlegte, verhöhnte ihn Rochow auch noch, indem er ihm eine besonders breite Brust darbot. Die Kugel ging prompt um einiges daneben.

»Jetzt Rochow!« Benno Frühbeis duckte sich und schloss die Augen.

Rana dagegen reckte den Kopf in die Höhe. »Er wird so nobel sein und Pinkel-Bey am Leben lassen.«

»DIE BERLINER KIRCHHÖFE verdienen eine besondere Beachtung«, heißt es im 1861 erschienenen Berlin-Führer von Robert Springer, »nicht nur wegen ihrer freundlichen Anlagen und wegen der sorgfältigen Pflege der Gräber, sondern auch wegen der Denkmäler der merkwürdigen Männer, deren Überreste auf ihnen ruhen.« Auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof waren es der »Philosoph und Kanzelredner« Schleiermacher und Ludwig Tieck, der »Reigenführer der Romantiker«. Auf dem Kirchhof der Invaliden fanden sich die Gräber der Generale Scharnhorst, Tauentzien und Winterfeld, und der Dorotheenstädtische Kirchhof hatte Fichte, Hegel, Hufeland, Schinkel, Beuth und Borsig zu bieten. Der Hallesche Kirchhof, die alte Begräbnisstätte der Jerusalemer Gemeinde, stand ihm aber mit E. T. A. Hoffmann, Chamisso, Iffland und Heim kaum nach. »Auf zehn verschiedenen Kirchhöfen«, schließt Springer, »sind jetzt Leichenhäuser für Todte, zur Errettung vom Scheintode, eingerichtet …«

Nicht erwähnt ist der alte Friedhof der Nikolai- und Mariengemeinde an der Prenzlauer Allee, auf dem Carl Ludwig Friedrich v. Hinckeldey seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Und scheintot war er auch nicht gewesen, denn zu präzise, nämlich links zwischen der vierten und der fünften Rippe, war ihm Rochows Kugel in die Brust gedrungen. Der Arzt, der dem Duell beigewohnt hatte, konnte nichts mehr ausrichten.

Eine große Zahl von Berlinerinnen und Berlinern war herbeigeströmt, um dem Polizeipräsidenten die letzte Ehre zu geben.

»Die Berliner sind schon ein komisches Völkchen«, fand Benno Frühbeis, der aus dem Fränkischen kam. »Erst hassen sie diesen Hinckeldey, dann machen sie ihn zum Märtyrer. Und sogar die Freunde seines Mörders kommen zu seiner Beerdigung.« Das war auf Rana gemünzt, der neben ihm stand.

»Ich bin ja kein Berliner, ich bin Österreicher.« Der Architekt lachte und wies nach vorn, wo seine Majestät Friedrich Wilhelm IV. zu sehen war, und mit ihm waren General von Wrangel, früherer Vorgesetzter Hinckeldeys, und fast alle Kabinettsmitglieder anwesend. »Wo so viele noble Menschen sind, darf ich nicht fehlen. Schließlich war ich in meinem frühen Leben auch mal König, wenn auch nur Froschkönig.«

»Fehlt nur noch, dass Rochow selber die Grabrede hält.«

Der war aber in seiner Wohnung Unter den Linden verhaftet worden, nachdem man ihn, als der Duelltod des Polizeipräsidenten bekannt geworden war, im preußischen Herrenhaus kräftig gefeiert hatte.

Hunderttausend Menschen folgten dem Sarg vom Trauerhaus zum Beerdigungsplatz, denn die Berliner sahen das Ganze als politischen Mord, zumal das Gerücht ging, dass noch zwei »Ersatzleute« des Junkerclubs bereitgestanden hätten für den Fall, dass Hinckeldey der Gewinner des Duells gewesen wäre. Hinckeldey wurde nun als einer gesehen, der gegen die verhassten Junker Front gemacht hatte. Außerdem hatte er sich nie persönlich bereichert und der Stadt vieles Segensreiche beschert, so die erste Telegrafenanlage für Polizei und Feuerwehr, die längst nötige Kanalisation, ein Wasserwerk und eine nicht geringe Anzahl von Gesindeherbergen, Volksküchen, Bade- und Waschanstalten. Als der Sohn des Lokomotivkönigs August Borsig am Grab für die Familie Hinckeldeys sammelte – sieben Kinder waren zu versorgen –, kamen nahezu 11 000 Thaler zusammen.

»So viel würden es bei mir nicht werden«, sagte Rana.

Benno Frühbeis lächelte. »Du wirst ja auch nicht bei einem Duell enden, sondern im Bett einer Kurtisane.«

»Weiß man’s?« Rana zeigte auf Friedrich Silberstein, der gerade an der Seite seines Sohnes vorüberkam. »Dieser Hundsfott übt bestimmt schon jeden Tag.«

»Nun mal’s nicht an die Wand.«

»Warum nicht, es gäbe ein schönes Gemälde.«

Kapitel 5

IM JAHRE 1857 zeigte der Grundriss von Berlin mit nächster Umgebung – Entworfen und gezeichnet von Leopold Kraatz einen farbenfrohen Flickenteppich, der die Form einer Schildkröte hatte. Das Hinterteil bildete das orange schraffierte Stralauer Viertel, mit dem Stralauer Thor und der Oberbaumbrücke als Schwanz. Rücken und Oberteil setzten sich, von Ost nach West gesehen, aus der im Lavendelton schraffierten Königs- und dem mit schrägen hellblauen Linien durchzogenen Spandauer Viertel zusammen. Dahinter kam, sozusagen als Aufwölbung des Panzers, die weinrote Friedrich-Wilhelmstadt mit der Charité und dem erfolgreichen Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater. Aus dem Panzer ragte, westwärts gerichtet, ein großer Kopf heraus: der Thiergarten. Der Leib des Tieres bestand aus der blassgelben Dorotheenstadt mit dem Brandenburger Thor, dem Pariser Platz und der Straße Unter den Linden, aus Alt-Cölln, in dunklem Lila gehalten und recht eigentlich die Spreeinsel mit dem Schloss im Herzen, dann dem grünlich schraffierten Berlin mit der Königstraße und dem Rathaus, einem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden braunen Keil zwischen dem Werderschen und dem Spittelmarkt sowie dem Hausvogteiplatz, dem schmalen gelben Streifen mit dem Friedrichswerder links und rechts der Wallstraße, der dunkelblauen Friedrichstadt zwischen Behrenstraße und Belle-Alliance-Platz sowie der größten aller Flächen, der rot schraffierten Louisenstadt südlich der Spree. Die Beine des Tieres waren die Ausfallstraßen nach Schöneberg, zum Kreuzberg, in die Hasenheide und nach Rixdorf.

 

Der Hackesche Markt war am südlichen Ende des Spandauer Viertels gelegen und sozusagen der See, in den Rosenthaler, Oranienburger, Große Präsidenten und Spandauer Straße sowie die Neue Promenade mündeten. Es war keine schlechte Wohngegend, doch Sarah Silberstein hätte es gern noch ein wenig nobler gehabt. Auch war ihr Haus nicht eben zentral gelegen, mussten doch die meisten ihrer Gäste erst die Spree überqueren, ehe sie zu ihr gelangten. Ihre berühmte Vorgängerin Henriette Herz, die 1847 verstorben war, hatte es da mit ihrem schöngeistigen Salon in der Neuen Friedrichstraße 22, fast an der Ecke Königstraße gelegen, leichter gehabt. Auch mit der Qualität der dort verkehrenden Gäste, Berühmtheiten wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, Johann Gottfried Schadow, Jean Paul und Friedrich Schleiermacher, konnte Sarah Silberstein nicht konkurrieren, und doch war es ihr auch heute wieder gelungen, durchaus illustre Persönlichkeiten zu sich zu locken.

Da war zuerst Samuel Holdheim, der Rabbiner des »Tempels der Jüdischen Reformgemeinde« in der Johannisstraße, auf dessen Einladung ihr Sohn großen Wert gelegt hatte.

Aus der jüdischen Gemeinde kam auch Gerson, der Sohn des Banquiers Samuel Bleichröder. Er war 1822 in Berlin geboren worden und mit siebzehn Jahren in das väterliche Bankhaus in der Behrenstraße 62/63 eingetreten. Man sagte ihm exzellente Kontakte zu Otto von Bismarck und Kronprinz Wilhelm nach.

Eine Einladung war auch an den berühmten Komponisten Giacomo Meyerbeer, eigentlich Jakob Liebmann Meyer Beer, gegangen, doch der weilte gerade wieder in Paris.

Seine Stelle nahm nun ein anderer Künstler ein, der zwar in einem ganz anderen Genre zu Ruhm gekommen, aber ebenfalls als Berliner Berühmtheit anzusehen war: der Schau- und Puppenspieler Julius Linde.

Eine gewisse Prominenz konnte aber auch Wilhelm Raabe zugesprochen werden, der in der Spreestraße hinterm Schloss zu Hause war und mit seinem Roman Die Chronik der Sperlingsgasse gerade einiges Aufsehen erregt hatte.

Nahm man die Nähe zum König als Maßstab für die Bedeutung eines Mannes, so war der Leutnant Friedrich v. Treppeln als Flügeladjutant Friedrich Wilhelms IV. allen anderen voraus. Er kam aus der Neumark und war dem Hause verbunden, seitdem Friedrich Silberstein ihm ein wunderschönes Herrenhaus errichtet hatte. Am meisten fiel er durch seine Körpergröße auf, denn mit der hätte er jeden der Langen Kerls des ersten Friedrich Wilhelm glatt in den Schatten gestellt.

Von ganz anderer Herkunft und Statur waren die nächsten Gäste, die Sarah Silberstein begrüßen durfte: Monsieur Chaumont und seine Charlotte. Die Chaumonts waren unter Friedrich I. zwar nicht von der Insel Korsika nach Berlin gekommen, sondern aus der Gegend von LaRochelle, und doch hatte Maurice Chaumont, was die Physiognomie betraf, eine erhebliche Ähnlichkeit mit Napoleon Bonaparte. Ihm war es recht, denn schließlich war auch er ein Herrscher, wenn auch nicht über das halbe Europa, sondern nur über ein Handelshaus, dessen Angebot von Rotwein, mediterranen Leckerbissen aller Art und indischen Gewürzen über Tuche und Tapeten bis hin zu antiken Kunstwerken und Marmor aus Carrara reichte. Durch letztere Spezialität hatte er dann auch die Bekanntschaft von Friedrich Silberstein machen dürfen. Aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen erwog er immer wieder einmal, seinen Namen einzudeutschen, aber »Schauberg«, wie ihm vorgeschlagen worden war, gefiel ihm nicht, und so hatte er es dabei belassen, aus dem Maurice ein Moritz zu machen.

Die Frau an seiner Seite hielten viele, da er sie sichtlich anhimmelte, für eine neue Eroberung, wenn nicht gar – typisch Franzose! – für seine Maitresse, doch sie war seine Tochter Charlotte, eine beauté, wie sie im Buche stand. Sie trug ein Kleid aus taubenblauer Seide, das ihr langes schwarzes Haar besonders wirkungsvoll zur Geltung brachte. Sie war schlank und hielt sich stets kerzengerade, was sie ein wenig hochmütig erscheinen ließ. Zu diesem Eindruck trug auch bei, dass sie, wo sie auch war, gelangweilt wirkte – unter dem Leben, das sie führen musste. Sie hatte sich den schönen Künsten verschrieben und wäre am liebsten Malerin oder Schauspielerin geworden, war aber am Widerstand ihres Vater wie dem Zeitgeist gescheitert.

Nach ihr war Isaak Hirsch in die Diele getreten, Friedrich Silbersteins bester Freund und fast auf den Tag genauso alt wie er, Inhaber einer Nähmanufaktur in Moabit am Rande der Stadt und einer, von dem sich sagen ließ, dass er für seine Firma lebte. Die beiden verstanden sich auch deswegen so gut, weil sie eines gemeinsam hatten: Bei aller nach außen hin gezeigten Festigkeit waren doch beide von einer geheimen Angst zerfressen – der nämlich, keine Aufträge mehr zu bekommen und zu Bettlern zu werden. Und seit der Zeit der Schutzjuden glaubten sie zu wissen, dass sie sich um so sicherer fühlen konnten, je reicher sie waren: »Hast du Geld, kannst du ihnen immer noch entkommen, wenn sie Jagd auf dich machen, entweder durch ein besseres Pferd oder dadurch, dass du sie bestichst.«

In Begleitung von Hirsch war Katharina Rosentreter gekommen. Sie sah sich weiterhin als heimliche Verlobte von Aaron, obwohl die Dinge formal nicht vorangekommen waren, seit sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sarah Silberstein hatte ihr zugesagt, ihren Sohn davon zu überzeugen, dass die Ehe mit Katharina das Beste für ihn sei. »Jetzt, da wir sie als Vollwaise sehen müssen, gebieten es Mitgefühl und Anstand.«

Als nächster Gast wurde Sigismund Stern begrüßt, der zusammen mit Aaron Bernstein die »Genossenschaft für Reform im Judenthume« gegründet hatte, die spätere Jüdische Reform Gemeinde. Man orientierte sich im Gottesdienst stark an der protestantischen Liturgie und Praxis. Die meisten Gebete, die Lieder und die Predigt waren deutschsprachig, und aus der Liturgie waren alle Passagen entfernt worden, die eine Rückkehr nach Palästina zum Inhalt hatten. Da die Gebete nicht mehr gesungen wurden, brauchte man keinen Kantor. Kopfbedeckung und Gebetsriemen waren abgeschafft, und Männer und Frauen saßen und beteten gemeinsam. Begonnen hatte man in einem provisorischen Betsaal in der Georgenstraße, 1854 war man in den sogenannten Tempel in der Johannisstraße 16 gezogen.

Als Letzter erschien Jason Silberstein, der Schwager der Gastgeberin. Er war so ziemlich das genaue Gegenteil seines Bruders. Konnte man Friedrich Silberstein Eigenschaften wie pragmatisch, zuverlässig und zielstrebig zuschreiben, so war Jason verträumt und chaotisch, konnte ganze Tage vertrödeln und wusste auch mit seinen fast fünfzig Jahren nicht so recht, was er einmal werden wollte. Hielt man ihm vor, Müßiggang sei aller Laster Anfang, dann lachte er nur und sagte, die ja gerade reizten ihn. Er trank, er trieb sich in Spielsalons herum, er ließ sich von reichen Witwen aushalten. Alle liebten ihn, bei allen galt er als äußerst unterhaltsam. Er konnte recht geistreich sein und war dabei ein Spötter sondergleichen, einer, der vor nichts zurückschreckte. Eine umfassende Bildung konnte ihm niemand absprechen. Einen Brotberuf hatte er nicht, er lebte von dem, was das Erbe seines Vaters abwarf. Das hatte er gut angelegt, und die Zinsen gab er Meir Rosentreter. »Da jungen die Silbergroschen dann wie die Karnickel.«

Nicht angetreten war der jüdische Musiker Louis Lewandowski, Leiter des Chores in der Synagoge Heidereutergasse und Komponist moderner Synagogalmusik. Er hatte kein Billett geschickt, um sein Fernbleiben bei Sarah Silberstein zu entschuldigen, sodass sich einige schon Sorgen um ihn machten. Seit Meir Rosentreter verschwunden war, musste man mit allem rechnen.

Sogleich wurde dessen Tochter nach dem neuesten Stand der Dinge befragt.

»Ich weiß leider nichts Neues«, antwortete Katharina Rosentreter. »Von Kommissarius Schlötel habe ich schon lange nichts mehr gehört. Der Tischlermeister aus Cöpenick, den er verdächtigt hatte, meinen Vater …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen, das sie eigentlich hatte sagen wollen. »… also, den hat er wieder laufen lassen müssen, weil sich dessen Frau und mehrere Nachbarn dafür verbürgten, ihn zur Tatzeit bei sich im Haus gesehen zu haben.«

»Ohne Leiche kein Mord«, sagte Leutnant v. Treppeln, der das Direkte liebte.

Rabbiner Holdheim war da einfühlsamer. »Ich gehe ja noch immer davon aus, dass Ihr Vater aus Gründen, die uns bisher verschlossen geblieben sind, das Land verlassen hat und irgendwo, vermutlich in den Staaten jenseits des Atlantiks, als ein anderer lebt und Ihnen, ist die Zeit dazu gekommen, Nachricht geben wird.«

»Das wäre meines Herzens Freude und Wonne«, kam prompt der Einwurf von Jason Silberstein. »Das ist ja seine Lieblingswendung. Beziehungsweise: Mit Jubellippen lobsingt mein Mund.«

Katharina nickte. »Ja, und wie gern würde ich sie wieder aus seinem Munde hören. Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass er Berlin verlassen hat, ohne mir vorher etwas davon zu sagen.«

»Vielleicht war er auch geistig umnachtet«, sagte Jason Silberstein mit hintergründigem Lächeln. »Wie so manch anderer in diesen Zeiten …« Das war ein Seitenhieb auf Friedrich Wilhelm IV.

Leutnant v. Treppeln guckte böse. »Ich darf doch bitten, Herr …«

Auch der Rabbiner übte Kritik an Jason Silberstein. »Sie wissen doch, mein Lieber: ›Der Spötter sucht nach Weisheit, sie ist nicht da …‹ Er findet sie nicht.«

Jason Silberstein konterte mit einer jiddischen Weisheit: »Ernsst redn nor lejzim« – Ernst reden nur Spötter. »Also sind wir dankbar für jene unserer Adligen, die nicht geistig umnachtet sind, sondern sich eines klaren Verstandes erfreuen, auch wenn ihr Horizont im Augenblick etwas begrenzt ist.« Diese Spitze war gegen Hans v. Rochow gerichtet, den man nach dem Duell mit Hinckeldey zu vier Jahren Festungshaft verurteilt hatte.

»Aber Rochow wird seine Strafe nicht absitzen müssen«, merkte Aaron Silberstein an. »Denn man ist schon dabei, Druck auf Hinckeldeys Witwe auszuüben, sie solle den König bitten, ihn zu begnadigen.«

»Das wird er auch.« Moritz Chaumont setzte zu einer tiefschürfenden weltpolitischen Analyse an. »Weil er jeden Offizier braucht, wenn es zum Krieg mit Österreich kommt. Und zu dem muss es kommen, denn einer kann nur das Sagen haben: Wien oder Berlin. Die deutsche Frage!«

Jason Silberstein sah Gerson Bleichröder an. »Sicher kommt der Krieg, denn an dem lässt sich am besten verdienen, und wenn eine Bank einem Staat seinen Krieg finanziert, hat sie ihn später um so sicherer in der Hand.«

Der Banquier machte eine Geste der Hilflosigkeit. »Nebbich … Was können wir dafür, dass das Geld stärker ist als alles andere! Wir müssen sehen, dass sich das Geld vermehrt, denn eine Gesellschaft braucht das Geld, damit sie existiert, wie unser Körper nicht ohne Blut existieren kann. Geld ist Leben.«

»Und es zu verprassen ist eine der sieben Todsünden«, sagte Friedrich Silberstein in Richtung seines Bruders.

»Bin ich Katholik?«, fragte der mit einer kleinen Spitze in Richtung von Moritz Chaumont. »Trägheit, Völlerei, Unkeuschheit – all das wäre einem untersagt. Schrecklich!«

Sarah Silberstein beeilte sich, das Niveau des Gespräches wieder etwas anzuheben, indem sie darauf verwies, welch wunderbare Hervorbringungen im Bereiche der Dichtung man doch dem letzten Jahre zu verdanken habe.

Ihr Schwager tat empört. »Bezeichnest du den Tod Heinrich Heines als wunderbare Hervorbringung?«

»Nein, aber Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Eduard Mörickes Mozart auf der Reise nach Prag, vor allem aber Jacob Corvinus’ Die Chronik der Sperlingsgasse.«

»Corvus, der Rabe«, murmelte Charlotte Chaumont.

Wilhelm Raabe, der seinen ersten Roman unter einem leicht durchschaubaren Pseudonym veröffentlicht hatte, reagierte mit einer leichten Verbeugung in ihre Richtung. Ein bisschen schüchtern war er schon, kam er doch aus einem kleinen Nest im Weserbergland, aus Eschershausen, und war noch kein gemachter Mann wie die anderen im Salon, sondern ein gelernter Buchhändler, der jetzt an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität seine Studien betrieb. Gerson Bleichröder fragte ihn, an wem er sich denn beim Schreiben orientiert habe.

 

»Ein wenig schon an Jean Paul.«

»Ein bisschen fühle ich mich auch an Charles Dickens erinnert«, sagte Sarah Silberstein mit Hinweis auf die gesellschafts- und bildungskritischen Aussagen Raabes.

Jason Silberstein lachte. »Sein Dr. Wimmer ist ja sogar ein schlimmer Revolutionär und muss vor der Polizei in die böhmischen Wälder fliehen. Da kann man einmal sehen, wo es hinführt, wenn einer Schopenhauers pessimistischer Philosophie anhängt. Ich für mich kann da nur ausrufen: Es lebe der König! Mag er noch so schwachsinnig sein.«

Leutnant v. Treppeln verbat sich solche Bemerkungen, und Gerson Bleichröder gab seiner Zuversicht Ausdruck, dass, wenn Kronprinz Wilhelm erst die Regentschaft angetreten habe, in Preußen eine liberale Ära anbrechen werde. »So hat auch dies eine gute Seite.«

»Das klingt mir mehr nach Hegel als nach Schopenhauer«, sagte Jason Silberstein.

Charlotte Chaumont bekannte, dass ihr an der Chronik der Sperlingsgasse die stimmungsvollen und sentimentalen Passagen am besten gefielen, und sie zitierte eines der vielen abgedruckten Gedichte: »Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles …«

Aaron Silberstein konnte nicht anders, als sie, von einem nie gekannten Zauber umfangen, anzustarren. »Ich muss das alles heute noch lesen.«

Sein Onkel Jason stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Das Lesen alleine macht es nicht, mein Lieber.«

Sarah Silberstein stellte sich so vor ihren Sohn, dass ihm der Blickkontakt zu Mademoiselle Chaumont verloren ging, und schob ihn unauffällig wieder in die Nähe der Tochter Meir Rosentreters.

»Vor allem die Stelle, wo die Tänzerin vor dem König auftreten muss, obwohl ihr Kind im Sterben liegt, hat es mir angetan«, sagte Charlotte Chaumont. »Wer da nicht weinen muss, der hat kein Herz.«

»Ach …« Wilhelm Raabe seufzte. »Wie oft durchkreuzt die Furcht vor dem Lächerlichwerden unsere innigsten, zartesten Gefühle! Man schämt sich der Träne und spottet.«

»Recht haben Sie, junger Mann!«, rief da Jason Silberstein mit einem vermeintlichen Ernst, der viele gar nicht merken ließ, dass er Spott in Vollendung war. »Gefühl ist alles. Wie sagte mein Großvater selig immer: Wen der bojre schel ojlom wil emezn baschtrofn, git er im dem ssejchel. Auf Deutsch: Wenn Gott jemanden bestrafen will, gibt er ihm Verstand.«

Das löste eine kleine Gesprächspause aus, weil alle erst einmal überlegen mussten, wie das wohl gemeint gewesen sein könnte und in welchem Maße sich jeder Einzelne persönlich betroffen fühlen musste.

»Ist man also dumm, wenn man glücklich lächelt?«, fragte schließlich Isaak Hirsch, der ständig strahlte, warf doch seine Manufaktur so viel ab, dass er leben konnte wie ein Fürst.

Man sah Jason Silberstein an, dass er die an ihn gerichtete Frage am liebsten mit einem deutlichen Ja beantwortete hätte, hielt er doch den Freund seines Bruders für recht einfältig. Doch er wollte ihn und die Gastgeber nicht kränken, und so beeilte er sich zu versichern, dass das eine das andere nicht a priori ausschließe. »Und was hat mein Großvater noch gesagt: As got nemt ejnem zu doss gelt, nemt er im dem ssejchel ojch zu.«

Sigismund Stern, der Reformer, war nicht eben beglückt, wenn jemand jiddisch sprach, und brummte: »In Preußen ist Deutsch die Landessprache.«

»Ich würde ja gern preußisch sprechen, wenn es so etwas nur gäbe!«, rief Jason Silberstein, durch den Einwurf kaum irritiert. »Aber gut, dann übersetze ich es kurz: Wenn Gott einem das Geld nimmt, nimmt er ihm auch den Verstand. Daraus lernen wir im Umkehrschluss: Wenn Gott einem viel Geld gibt, gibt er ihm auch viel Verstand. Also, Onkel Isaak, du kannst ganz beruhigt sein.«

Das war Hirsch aber ganz und gar nicht, und Sarah Silberstein musste eingreifen, um ihm weitere Pein zu ersparen. Sie lenkte vom Thema ab, indem sie den jungen Dichter bat, sich doch zu setzen und aus seinem viel gelobten Roman die berühmteste Stelle, die mit der Tänzerin und dem Kind, vorzulesen. Ein Exemplar seines Romans liege bereit.

Wilhelm Raabe leistete dieser Bitte auch Folge, wobei ihn seine Schüchternheit noch sympathischer machte. Unsicher und mit schwacher Stimme begann er und brauchte einige Zeit, sich zu fangen, ohne auch dann die Ausstrahlung eines gelernten Schauspielers zu erreichen:

»Arme, arme Mutter! Mit geschminkten Wangen und den Tod im Herzen zu tanzen! Du hörst nicht die tausend jubelnden Stimmen der Menge, du hörst nicht die rauschende Musik: das Ächzen des winzigen, sterbenden Wesens in der fernen Dachstube übertönt alles.«

Sarah Silberstein registrierte mit heimlicher Zufriedenheit, dass da kein Auge trocken blieb, auch so hartgesottene Männer wie der Leutnant, der Banquier und allen voran ihr Schwager kamen gegen ihre Rührung nicht an. Erst recht nicht an der Stelle, wo die Tänzerin nach Ende der Vorstellung mit der Droschke nach Hause fährt und die Treppe hinaufläuft. Totenbleich ist sie, wirft den nassen Mantel zu Boden und stürzt im fantastischen Kostüm einer Teufelin auf das Kinderbettchen zu.

»Mein Kind! Mein Kind!«, flüstert sie, in grässlicher Angst den Doktor ansehend. Sie beugt sich, sie hört den leisen Atem des Kindes: Es lebt noch! – Das schwarze Lockenhaupt mit dem Flitterputz von Glasdiamanten und feuerroten Bändern sinkt auf das ärmliche Kissen.

»Mama, liebe Mama!«, stöhnt das sterbende Kind, mit den kleinen fieberheißen Händchen durch die schwarzen Haare der Mutter greifend, dass die Steine darin blitzen und funkeln. – – Jetzt läuft ein Schauer über den kleinen Körper – – –

»Vorüber!« – sagt der alte Doktor dumpf …

Als Wilhelm Raabe geendet hatte, folgten lange Sekunden ergriffenen Schweigens, bis Sarah Silberstein, die anderen gleichsam erlösend, zu klatschen begann und nacheinander alle mit einfielen. Nach Ende der Beifallskundgebung wurde zu Tisch gebeten.

»Alles fertig machen zur Abfütterung!«, rief Jason Silberstein. »Wer bis jetzt gelitten hat, weil er nicht mitreden konnte, wenn es um Magen- und Gallenleiden ging, der freue sich auf den fetten Lachs und den holländischen Beiguss.«

»Wir haben Roulettes von Seezungen, lieber Schwager«, wurde er postwendend korrigiert. »Das Krebsragout, das eigentlich dazu gehört, habe ich aber weglassen müssen, da es nicht koscher ist.«

»Wer ausschließlich geistige Nahrung möchte, kann gern in die Bibliothek gehen«, sagte Friedrich Silberstein.

»Nein, lieber nicht, die hast du selber gebaut.«

»Onkel Jason!«, warnte Aaron Silberstein den Spötter und beeilte sich, ihn zur Seite zu drängen und den Platz neben Charlotte Chaumont zu ergattern. Das gelang, und er war froh, dass Katharina Rosentreter zu sehr im Gespräch mit Leutnant v. Treppeln vertieft war, um diesen kleinen Affront zu registrieren.

Der Lohndiener tat sein Bestes, um alle zu versorgen. Richtig feierlich wurde es nun. Im hellen Kerzenschimmer kam alles wirkungsvoll zur Geltung, was auf der Tischwäsche aus weißem Damast zu sehen war: die grünen Römer, das helle Kristall, das feine Porzellan und die Blumenschalen, die Rheinweinflaschen mit ihren schlanken Hälsen und die bauchigen Rotweinkaraffen.

Die Gespräche kreisten um das Ende des Krimkrieges, um den Einfluss Moses Mendelssohns und die Frage, wie einem bedeutenden Dichter wie Joseph von Eichendorff die Rolle eines unbedeutenden preußischen Beamten gefallen haben mochte.