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FÜNF

DER OBERARZT erklärte Karl-Heinz Waschinsky, warum er trotz eines Bauchschusses überlebt hatte. «Sie hatten Glück im Unglück. Im Bauch verlaufen große Schlagadern, und wenn die zerrissen werden, verblutet man sehr schnell. Bei Ihnen aber hat die Kugel glücklicherweise keine dieser Adern getroffen. Auch die Leber ist Gott sei Dank verschont geblieben, eine Leberblutung führt innerhalb sehr kurzer Zeit zum Tod. Durch die Schusswunde sind zwar Magen- und Darminhalt in die Bauchhöhle gelangt, aber dadurch, dass wir schnell eingreifen konnten, haben wir eine Sepsis verhindert.»

Waschinsky versuchte zu lächeln. «Gut, dass es mich in der Muthesiusstraße erwischt hat und nicht auf den Schlachtfeldern von Smolensk, Kiew, Wjasma, Brjansk oder Rostow!»

«Man merkt, dass Sie Historiker sind. Hoffentlich gehören Sie nicht auch zu den Bergsteigern.»

«Nein. Wieso?»

«Weil wir Ihnen am linken Oberschenkel einiges vom Musculus rectus femoris wegschneiden mussten und Sie in Zukunft mit der Hebung des Beines einige Schwierigkeiten haben werden.»

Waschinsky nahm auch das mit Humor. «Oh, dann muss ich auf meine geplante Monographie über Bergfestungen wohl verzichten und meinen Besuch der Trutzburgen der Tuschen und Chewsuren im Kaukasus streichen.»

«Da haben Sie leider recht, aber die Burg Beeskow ist auch sehr schön.»

«Schon», merkte Franz Altmann an, einer von Waschinskys Bettnachbarn, «aber da kommt man schwerer hin als nach Tiflis.» West-Berlinern war seit Mai 1952 die Einreise in die DDR grundsätzlich verwehrt. «Man kann zwar eine Erlaubnis beantragen, in der Praxis wird sie aber immer abgelehnt.»

«Bei mir nicht», stellte Waschinsky fest. Er hatte sowjetische Kollegen, die einiges möglich machen konnten. «Bei mir nicht.»

«Dafür wird auf Sie geschossen, auf mich aber nicht», konterte Altmann. Er war altgedienter SPD-Funktionär und derzeit Kassierer eines Wilmersdorfer Ortsvereins. Wie alle seine Genossen war er im Moment ziemlich missgestimmt, denn zum ersten Mal nach Kriegsende stellte die CDU den Regierenden Bürgermeister. Dem charismatischen Ernst Reuter war der farblose Langweiler Walther Schreiber gefolgt. Die SPD war zwar immer noch die weitaus stärkste Partei in West-Berlin, aber CDU und FDP hatten zusammen ein paar Prozent mehr an Stimmen bekommen.

«Ja, ja, der Kreislauf der Eliten», spottete Waschinsky, «der Kreislauf der Eliten. Man denke nur an Vilfredo Paretos, der die Geschichte als Friedhof der Aristokratien bezeichnet hat. Jetzt sind Sie und Ihre Partei nur noch das, was er unter Reserve-Elite versteht, unter Reserve-Elite versteht.» Waschinsky registrierte genau, dass er seine letzten Worte wiederholte, schaffte es aber auch heute nicht, diesen Reflex zu unterdrücken.

«Hör’n Se uff mit der Reservebank!», rief der Mann im Bett gegenüber, der Fußballer Werner Eichhorn von Tasmania 1900. «Uff der hab ick so lange jesessen, bis ick mir Hämmerrieden jeholt habe.»

Ja, ja, dachte Waschinsky, von denen, die sie haben, wissen höchstens zehn Prozent, wie man sie schreibt.

Der vierte Mann im Zimmer war der Elektrohändler Helmut Haberkorn, der sich stundenlang darüber auslassen konnte, welches Fernsehgerät das beste war. «AEG-Telefunken und Metz sind nicht schlecht, der Rembrand vom Sachsenwerk ist auch in Ordnung, ebenso empfehlenswert ist die Fernsehtruhe F 2 von Graetz, aber an der Spitze liegt für mich eindeutig der WELTFUNK von Krefft aus Gevelsberg: Was heute in der Welt geschehen, kannst du im WELTFUNK abends sehen.»

«Zur Weltmeisterschaft muss ick unbedingt ’n Fernseher ham!», rief Eichhorn. «Det heißt, wenn ick bis dahin noch lebe.» Das war fraglich, denn die Ärzte fürchteten, dass sein Magenkrebs schon Tochterzellen gebildet hatte.

«Die Fußball-WM ist doch völlig unnötig», merkte Altmann an. «Die können den Ungarn auch sofort den Pokal überreichen.»

«Bloß nicht!», rief Haberkorn. «Dann kauft sich ja keiner mehr einen WELTFUNK-Apparat.»

Altmann hatte prinzipiell etwas gegen den Fußball. «Der ganze Rummel ist doch nur dazu da, um von der Politik abzulenken. Fußball ist Opium für das Volk. Anstatt diesem Globke und den anderen Obernazis, die noch in Amt und Würden sind, endlich den Prozess zu machen, haben die Deutschen nichts anderes im Kopf als ihren Fußball.»

«Besser, die Leute beten Fritz Walter an als Adolf Hitler», sagte Waschinsky. «Aber Sie haben schon recht, das ist das alte Prinzip von panem et circenses, Brot und Spiele, Brot und Spiele. Das stammt aus einer Satire des römischen Dichters Juvenal, Juvenal, der damit die Entpolitisierung des Volkes kritisiert, kritisiert. Kaiser Trajan hat besonderen Wert auf die Unterhaltung der Massen gelegt und gesagt: Populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri. Übersetzt bedeutet dieser Satz, dass sich das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge in Schach halten lasse: Getreide und Schauspiele. Getreide und Schauspiele.»

«Und Wagenrennen», fügte Altmann hinzu. «Den Roman konnte ich mal auswendig: Ben Hur.»

«Wat für ’ne Hure?», fragte der Fußballer.

Daraufhin arbeitete sich Waschinsky aus dem Bett und griff nach seinen Krücken, um ein wenig über den Flur zu humpeln. Das ging schon wieder, und er war sehr glücklich darüber. Sogar Treppen konnte er steigen, auch wenn er sich dabei teilweise am Geländer hochziehen musste. Ein wenig neidvoll blickte er auf Patienten, die gerade entlassen worden waren und von ihrer Familie abgeholt wurden. Waren kleine Kinder dabei, kamen ihm die Tränen. Sah er Männer, denen es sichtbar schlechter ging als ihm, verspürte er eine gewisse Freude. Waschinsky schämte sich zwar dafür, konnte dieses Gefühl aber nicht unterdrücken. Er schob keinen Wagen mit einem angehängten Tropf vor sich her, er war kein Einbeiniger, er saß nicht im Rollstuhl und war querschnittsgelähmt. Wie leicht hätte das alles geschehen können! Hätten ihm die Ärzte eine Kugel aus dem Gehirn herausoperieren müssen, wäre er jetzt vielleicht debil.

Aber hier im Krankenhaus geschah nun sogar das, was er nicht mehr für möglich gehalten hätte: Sein Geschlechtstrieb kehrte zurück. Das mochte an den schnuckligen Krankenschwestern liegen, vor allem aber wohl an der Frau, die die Apotheke des Salernitana-Krankenhauses leitete. Ihren Namen hatte er schon herausgefunden: Stefanie Burghardt. Und um der geisttötenden Langeweile des Krankenhausalltags zu entgehen, lauerte Waschinsky öfter an der Tür der Krankenhausapotheke und folgte Stefanie Burghardt in einiger Entfernung, wenn sie ihren Arbeitsplatz verließ. Leider verlor er sie, langsam wie er war, immer schnell aus den Augen, doch das machte ihn noch gieriger. Heute fand er sie am Eingang zur Kantine, wo sie in einer Schlange stand und wartete, bis ein Tisch frei wurde. Herb war sie, richtiggehend dominant, dabei aber mit ihren langen blonden Haaren durchaus eine schöne Frau. Aber – und das hielt ihn davon ab, sie anzusprechen – sie hatte auch etwas von einer KZ-Ärztin an sich. Sie erinnerte ihn an Herta Oberheuser, die im Konzentrationslager Ravensbrück an medizinischen Experimenten mit Häftlingen beteiligt gewesen war.

Waschinsky wandte sich ab und humpelte in sein Zimmer zurück. Und er hatte Glück, seine drei Zimmernachbarn waren eingeschlafen. Um sie nicht zu wecken, ließ er davon ab, das Fenster aufzureißen, obwohl es fürchterlich stank. Eichhorn hatte wieder kräftig flatiert, aber bei seiner Erkrankung war ihm deswegen kein Vorwurf zu machen. So hielt sich Waschinsky die Nase zu, als er sich wieder ins Bett bugsiert und zu seiner Pflichtlektüre gegriffen hatte: Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, erschienen 1946. Eine amerikanische Fachzeitschrift hatte ihn gebeten, Meineckes inneren Zwiespalt näher zu beleuchten. Obwohl Meinecke aus persönlicher wie aus politischer Überzeugung ein strikter Gegner der Nazis gewesen war, hatte er die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung des Deutschen Reiches als schmerzliche Katastrophe empfunden. Als Waschinsky mit dem Oberarzt darüber gesprochen hatte, nannte der Fußballer Eichhorn ein Beispiel aus seiner Lebenswelt, das diesen inneren Konflikt ganz gut veranschaulichte: «Ick als alta Tasmane hasse Union 06 und wünsche denen in jedet Spiel um die Berliner Meisterschaft die Pest an’n Hals, aba als sie in’a Vorrunde um die Deutsche Meisterschaft gegen den VfB Stuttgart, Borussia Dortmund und den HSV bis uff een Unentschieden imma valor’n ham, wat meinen Sie, wat ick da mit Union jelitten habe!»

Gerade überlegte Waschinsky, wie man aus diesem Gedanken auf einer abstrakten Ebene eine umfassende Theorie entwickeln könnte, da klopfte es an der Tür, und auf sein leises «Herein, ja bitte, herein!» erschienen wieder einmal diese beiden Kriminalbeamten, die ihn ausquetschen wollten. Der eine war ihm zu alt und zu sehr in seiner Routine befangen, der andere zu jung und zu forsch.

«Nun, Herr Waschinsky», begann Hermann Kappe, als beide sich neben seinem Bett niedergelassen hatten, «haben Sie sich in den letzten Tagen doch noch an etwas erinnern können, das uns weiterhelfen könnte?»

«Nein, nicht dass ich wüsste, nicht dass ich wüsste.»

«Aber jeder Mensch hat doch Feinde!», beharrte Kynast.

Waschinsky schüttelte den Kopf. «Nein, ich nicht, jedenfalls keine, die auf mich schießen würden, schießen würden.»

Kappe wollte ihm auf die Sprünge helfen. «Gibt es keinen Studenten, den Sie haben durchfallen lassen und der sich möglicherweise dafür rächen wollte?»

«Ich habe niemanden durchfallen lassen, durchfallen lassen. Man muss mich mit einem anderen verwechselt haben, verwechselt haben.»

 

Kynast verlor jetzt etwas die Contenance. «Herr Doktor Waschinsky, wenn Sie nicht im Krankenhaus liegen würden, könnte man fast annehmen, Sie hätten sich den Überfall nur ausgedacht.»

Nun fuhr auch Waschinsky auf. «Weil ich an diesem vokalen Tic leide, meinen Sie, dass ich ins Irrenhaus gehöre und nur spinne, nur spinne?»

Kappe wollte ihn beruhigen. «Nein, Herr Doktor Waschinsky, nein, denken Sie doch bitte so etwas nicht! Es ist nur alles sehr mysteriös für uns. Wir sind auf der Suche nach dem Täter – oder den Tätern – bis jetzt keinen Millimeter vorangekommen, und die Zeitungen und der Rundfunk hacken schon auf uns herum.»

SECHS

ALLE sprachen vom «Gründonnerstag», obwohl eigentlich keiner genau wusste, warum der Tag vor dem Karfreitag so hieß. Als Hermann Kappe von seiner Frau danach gefragt wurde, konnte er nur mit den Schultern zucken. «Keine Ahnung, wahrscheinlich weil die frommen Leute in der Fastenzeit nur Grünzeug essen dürfen. Vielleicht auch, weil die Bauern jetzt mit der Frühlingsaussaat beginnen.» Wie auch immer, am Gründonnerstag musste noch gearbeitet werden, auch wenn schon alles auf die Osterfeiertage ausgerichtet war.

Am liebsten hätte Kappe ausgerufen: «Der alte Brauch wird nicht gebrochen, wir fahren alle nach Wendisch Rietz zum Ostereiersuchen!» Doch die Familientradition war ihm als West-Berliner, noch dazu einem Polizeibeamten, «verunmöglicht» worden, wie er es gerne ausdrückte. So beschlossen sie, dass sich derjenige Teil der Kappe-Familie, der im westlichen Teil der Stadt ansässig war, in Heiligensee treffen sollte, wo Kappes Schwester Pauline und ihr Mann Max sich gerade ein Grundstück gekauft hatten.

Kappe hatte sich anfangs geweigert, seinen Fuß auf dieses Stückchen Erde zu setzen, denn sein Schwager Max Achtow war ein alter Nazi und ehemaliger SA-Mann, aber Klara hatte ihn doch noch überzeugt. «Denk doch bitte an das Vaterunser! Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern

Kappe verfluchte sich wieder einmal wegen seiner Inkonsequenz. Aber waren nicht die meisten Deutschen so? Einige NS-Verbrecher hatte man bei den Nürnberger Prozessen zwar zum Tode oder zu lebenslanger Haft verurteilt, aber es hatte sich nur um 44 Personen gehandelt. Rechnete man noch die 98 dazu, die Freiheitsstrafen zwischen 18 Monaten und 20 Jahren bekommen hatten, dann waren gerade einmal 142 von 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern, die es 1945 gegeben hatte, zur Rechenschaft gezogen worden. Wenn er daran dachte, wurde Kappe unheimlich wütend, zumal nun auch noch ehemalige Nazi-Obere wieder in höhere Beamtenpositionen einrücken durften. Das 131er-Gesetz besagte, dass alle Beamten, die beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder beamtet werden durften. Und den sogenannten Persilschein konnte man sich so leicht verschaffen wie eine Fahrkarte für die S-Bahn.

«Wann kaufen wir uns endlich ein Auto?», fragte ihn Klara, als er sich fertig machte, um ins Büro zu fahren.

«Wenn ich pensioniert bin», brummte Kappe. Bis dahin konnte er von seiner Wohnung in der Wartburgstraße, dicht am Rathaus Schöneberg gelegen, bis zum Polizeipräsidium in der Friesenstraße entweder zu Fuß gehen, das waren knapp vier Kilometer, oder mit dem Bus fahren. Meist entschied er sich für einen Kompromiss: Hinwärts, wenn er sich noch frisch fühlte, zu Fuß, und zurück, wenn er müde war, mit dem Bus. So auch heute. Von der Wartburg-kam er über die Eisenacher und die Hauptstraße zum Kaiser-Wilhelm-Platz, dann ging es auf der Kolonnen- und der ewig langen Dudenstraße bis zum Flughafen Tempelhof und so lange den Mehringdamm hinunter, bis er rechts in die Schwiebusser Straße abbog. Die mündete in die Friesenstraße.

Als er den Flur zu seinem Büro entlangging, war er doch ein wenig erschöpft. Sein Neffe Otto kam ihm entgegen und meinte, er solle in seinem Alter solche Fußmärsche lieber vermeiden.

«Ach was!», brummte Kappe. «Für mich gilt: Kerngesund in die Urne.»

«Hör auf! Deine Pensionierung bedeutet nicht gleich deine Einäscherung.»

Sie wollten kurz das österliche Familientreffen in Heiligensee besprechen, da kam Günter Kynast auf sie zu.

«K und K wollen wieder ans Werk gehen», spottete Otto Kappe.

Hermann Kappe nickte. «Ja, k. u. k. hatten wir schließlich seit 1918 nicht mehr.»

Otto Kappe lachte. «Du bist also ein verkappter Monarchist.»

«Selbstverständlich, immerhin bin ich im Dreikaiserjahr auf die Welt gekommen, 1888. Da war die Welt noch in Ordnung.»

«Wieso das?», fragte Otto Kappe.

«Weil Adolf Hitler erst 1889 geboren wurde.»

«Können wir das alles nicht endlich mal vergessen?», rief Kynast. «Ich kann nichts dafür, und diese ständige Erinnerung an die Vergangenheit verdirbt uns Jungen nur das Leben.»

«So ist die Jugend», stellte Hermann Kappe fest. «Nicht nur das Rad will sie neu erfinden, sondern auch die Geschichte. Eine Geschichte ohne Hitler und ohne Auschwitz.»

Darauf sagte niemand etwas. Schließlich kamen sie auf den Fall Waschinsky zu sprechen. «Ich finde es seltsam, dass dem Mann absolut niemand einfallen will, der ihm feindlich gesonnen sein könnte», stellte Hermann Kappe fest. «Ein Mensch ohne Feinde ist doch kaum denkbar.»

«Möglicherweise will Waschinsky keine Namen nennen, weil er Angst hat, dass seine Feinde noch einmal zuschlagen», mutmaßte sein Neffe.

«Das erinnert mich stark an die Mafia», sagte Kynast. «Nach dem, was ich so alles gelesen habe.»

«Dieser unscheinbare Historiker aus Berlin-Steglitz und die Mafia aus Sizilien – ich weiß nicht …» Hermann Kappe verwarf diesen Gedanken auf der Stelle. «Das gibt’s doch nicht mal in schlechten Filmen.»

«Und – was werdet ihr nun machen?», wollte Otto Kappe wissen.

«Erst einmal zu diesem Tischler gehen, der das Tatfahrzeug gesehen haben will. Der wird ja nun ausgenüchtert sein. Wo ist dieser Friemel noch mal zu finden?»

Kynast musste nicht lange nachdenken. «Herbert Friemel arbeitet als Tischler bei der Büromöbelhandlung Bugsin & Co. in der Hedemannstraße.»

Hermann Kappe zuckte unwillkürlich zusammen, als er diesen Straßennamen hörte. «In der Hedemannstraße 23/24 hat das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS gesessen. Wer bei der SS war und heiraten wollte, musste sein Heiratsgesuch dort einreichen. Damit sollte die Auslese und Erhaltung des rassisch und erbgesundheitlich guten Blutes sichergestellt werden.»

«Bei deinem Schwager Max scheint das aber nicht so recht geklappt zu haben», lästerte Otto Kappe, denn die Kinder, die er mit Pauline gezeugt hatte, waren entweder dick wie Pfannkuchen oder dumm wie Bohnenstroh.

«Laufen wir in die Hedemannstraße, oder fahren wir mit der U-Bahn?», fragte Hermann Kappe seinen Assistenten, als sein Neffe sich von ihnen verabschiedet hatte.

«Weder noch.»

«Wie – sollen wir fliegen? Haben wir jetzt einen Hubschrauber zur Verfügung?»

Kynast lachte. «Nein, aber mein Osterei steht unten: meine NSU Max Standard, Halbnabenbremsen, kleiner Tank. Offizielle Typenbezeichnung: NSU 251 OSB. Das OSB steht für Obengesteuert, Sport, Blockmotor. Die Zahl 251 gibt Auskunft über den Hubraum sowie die Anzahl der Zylinder. 251 bedeutet 250 Kubikmeter, 1 Zylinder.»

So ausführlich hätte es Hermann Kappe gar nicht wissen wollen. Dass die NSU-Motorenwerke in Neckarsulm zu Hause waren und sich «NSU» aus den Namen der beiden Flüsse Neckar und Sulm ableitete, hatte er schon als Kind gelernt, aber nie das Bedürfnis verspürt, einmal auf einem Kraftrad zu fahren. Und jetzt fand er es schrecklich, hinter Kynast auf dem Sozius zu sitzen und ihn affenartig zu umklammern. Auch war er sich nicht ganz sicher, ob eine Motorradfahrt im Dienst aus rechtlichen Gründen erst hätte genehmigt werden müssen, sie aber abzulehnen, hätte ihm Kynast bestimmt als Feigheit ausgelegt. Also fügte sich Kappe ins Unvermeidliche. Als sich Kynast dann in die Kurve legte und so tat, als seien der Mehringdamm und das Rondell am Bahnhof Hallesches Tor der Nürnburgring, kam Kappe gehörig ins Schwitzen. Todesangst war es noch nicht, was er da verspürte, aber es war nahe dran. Doch alles ging gut, sie kamen lebend ans Ziel, und als sie die Verkaufsräume der Büromöbelhandlung betraten, hatte sich Kappe schon wieder halbwegs erholt. Als der Inhaber auf sie zukam und sich als Max Bugsin vorstellte, zückte Kappe in gewohnter Manier seine Marke und stellte sich und Kynast vor.

Max Bugsin freute sich. «Ah, die Herren aus der Friesenstraße! Ich hatte Ihnen mein Angebot zugeschickt, und nun wollen Sie sich die Schreibtische und Aktenschränke selber einmal ansehen? Dann folgen Sie mir doch bitte in unsere Ausstellungsräume!»

«Nein, nein!», rief Kappe abwehrend. «Wir sind von der Mordkommission.»

Da riss Max Bugsin die Hände hoch und rief, dass er es gewesen sei. «Ich gestehe alles, Herr Kommissar!»

«Nehmen Sie das bitte nicht so ernst!», kam eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. «Er ist der geborene Komiker und spielt immer den Käsebier nach, aus Käsebier erobert den Kurfürstendamm

«Das ist meine Frau», erklärte ihnen Max Bugsin und ließ die Hände wieder sinken. «Aber die war es auch nicht.»

«Wir sind wegen Ihres Tischlers hier, Herrn Friemel», erklärte ihm Kynast.

«Der soll es gewesen sein?» Max Bugsin tat entsetzt.

«Max, du weißt doch, dass Herbert Zeuge bei der Schießerei in der Muthesiusstraße gewesen ist!»

«Ja, natürlich. Und was sage ich als alter Soldat immer? Besser Scheißerei als Schießerei.» Damit führte er Kappe und Kynast endlich in die Werkstatt zu Herbert Friemel. Der war in nüchternem Zustand gar nicht wiederzuerkennen, zumal er nicht mehr in einem zerknitterten und beschmutzten Anzug steckte, sondern in Arbeitshemd und blauer Latzhose.

«Herr Friemel», begann Kynast, «ich habe mir inzwischen Photographien von fast allen Automarken besorgt, die bei uns in West-Berlin auf den Straßen zu finden sind. Sehen Sie sich die Bilder bitte genau an, und sagen Sie uns, ob Sie den Wagen wiedererkennen, aus dem in der Muthesiusstraße auf Doktor Waschinsky geschossen worden ist!»

Friemel legte seinen Hobel beiseite und begann, in Kynasts Katalog zu blättern. Gespannt sahen sie ihm zu. «Der Opel Olympia könnte es gewesen sein. Allerdings steht hier Außenfarbe: grün, Interieur/Stoff: braun. Der Wagen, den ich gesehen habe, war aber hell, fast weiß, und innen schwarz.» Er blätterte weiter. «Der Chevrolet Bel Air …Vielleicht …Nein, der hat als Außenfarbe aubergine. Was is’n das?»

Da er «aubergine» deutsch aussprach, hatten Kappe und Kynast Mühe, nicht zu grinsen. Eine Antwort allerdings wussten sie nicht zu geben, da beide noch keine Aubergine gesehen hatten. Ganz im Gegenteil zu Max Bugsin. «Ich war im Krieg Kurier und für meinen Oberst oft in Paris. Eine Aubergine ist dunkelviolett bis braun.»

«Dann war es kein Chevrolet», entschied Friemel. «Ich bleibe dabei, dass das Tatfahrzeug fast weiß war.» Nun ging er weiter alle Photos durch, und als Kappe die Hoffnung fast schon aufgegeben hatte, schrie Friemel plötzlich auf. «Hier, das ist er, ein Pontiac Chieftain, cremeweiß!»

Kappe und Kynast sahen sich an und dachten dasselbe: Ein amerikanischer Schlitten – wie konnte das sein? Selbst jemand, der den US-Amerikanern nur Schlechtes nachsagte – und dazu gehörten sie beide nicht –, hätte es für ausgeschlossen gehalten, dass sie einen gegnerischen Agenten auf offener Straße eliminierten.

«Es soll auch Deutsche geben, die große amerikanische Autos fahren», sagte Kynast deshalb, als sie sich von Friemel und Max Bugsin verabschiedet hatten und wieder draußen auf der Hedemannstraße standen. «Also fahren wir zur Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle und notieren uns alle reichen Berliner, die einen Pontiac Chieftain fahren.»

«Das werden eher die neureichen sein», vermutete Kappe. Dann wechselte er das Thema. «Sehen Sie es einem alten Mann nach, Herr Kollege, wenn ich lieber mit Bahn und Bus reise statt auf Ihrem Feuerstuhl?»

Kappe lief zum Bahnhof Hallesches Tor, wartete auf einen Zug der Linie C, fuhr bis zum Bahnhof Flughafen, hatte von dort noch ein ganzes Stück Weg zu Fuß zurückzulegen – und war dennoch vor Kynast in der Kfz-Zulassungsstelle in der Jüterboger Straße. Kappe ließ sich die entsprechenden Unterlagen geben, um schon einmal anzufangen. Allerdings hatte man die Pkw-Besitzer nicht nach Autotypen geordnet – und in West-Berlin waren, wie man ihm sagte, rund 43 000 Autos zugelassen.

 

Kynast erschien erst knapp eine Stunde später in der Jüterboger Straße. Seine Zündkerzen waren verschmutzt gewesen, und er hatte sein Motorrad mehr als einen Kilometer zur nächsten Werkstatt schieben müssen.

«Schieber haben wir gern», brummte Kappe und wandte sich von seinen Karteikarten ab. «Kommen Sie, diese Sucherei bringt doch nichts! Ich will nicht bis zum Tage meiner Pensionierung hier sitzen und in den Karteien blättern. Man muss auch mal aufgeben können.»

Der Neue lächelte. «Vielleicht suchen wir hier sowieso vergeblich.»

«Warum?»

«Es könnte auch einer von den GIs gewesen sein», so Kynasts Vermutung. «Die Amis fahren wohl alle in amerikanischen Wagen durch Berlin.»

Kappe verzog das Gesicht. «Aber warum sollte ein amerikanischer Soldat einen unscheinbaren deutschen Uni-Assistenten erschießen?»

«Da fielen mir schon ein paar Gründe ein.»

«Auf alle Fälle müssen wir mit Keunitz besprechen, ob es opportun ist, bei den Amerikanern nachzufragen, wer von ihnen einen Pontiac Chieftain besitzt. Die werden da sehr empfindlich sein.»

Nun setzte sich Kappe doch wieder aufs Motorrad, denn bis zum Polizeipräsidium war es nur ein kurzes Stück, da konnte nicht viel passieren.

Kriminalrat Friedhelm Keunitz war höchst interessiert am Fall Waschinsky, denn das, was man bislang wusste – Schüsse aus einem amerikanischen Wagen und ein Opfer mit Ostkontakten – ließ der Phantasie breiten Raum.

Nachdem der Chef sich angehört hatte, was Kappe und Kynast zu berichten hatte, stimmte er ihnen zu. «Bitte, lassen Sie die Amerikaner so lange wie möglich aus dem Spiel! Das könnte nur böses Blut geben. Wie wäre es, wenn Sie alle Händler aufsuchen, die bei uns in West-Berlin Wagen von General Motors verkaufen?»

Kappe nickte. «Das ist eine gute Idee. Mühselige Arbeiten gehören bei uns nun mal zum Handwerk.»

Bevor sie anfingen, im Branchenbuch nach besagten Händlern zu suchen, gingen sie erst einmal in die Kantine, um das Mittagessen einzunehmen. Sie saßen an einem großem Tisch mit Kollegen aus anderen Kriminalinspektionen zusammen, und als Kappe von ihrer Suche nach dem Besitzer eines Pontiac Chieftain erzählte, fiel Meier VII, der in der Inspektion E II Diebstähle bearbeitete, fast die Gabel aus der Hand. «Bei uns ist ein Pontiac Chieftain als gestohlen gemeldet worden! Und wisst ihr, von wem?»

«Vom amerikanischen Stadtkommandanten?»

«Nein, von einem Bordellbetreiber aus der Giesebrechtstraße mit dem schönen Namen Otto Löchner.» Alle lachten schallend.

«Dann auf ins Bordell!», rief Kynast, als sie ihre Teller geleert hatten.

Ein älterer Kollege von der Inspektion M II, zuständig für Sittlichkeitsdelikte und Erpressung auf sexueller Grundlage, hob die Hände, um ihn zu bremsen. «Vorsicht, lasst euch bloß nicht in einem Bordell sehen! Dann heißt es hinterher nur wieder, zwei Kriminalbeamte hätten die Dienste der Damen in Anspruch genommen und als Gegenleistung eine Gesetzesübertretung vertuschen helfen.»

Kappe nickte. «Da ist was dran. Rufen wir diesen Löchner lieber an.»

«Auch Telefonverkehr ist Verkehr», lachte Meier VII.

Nun, Kappe fand es nicht eben lustvoll, mit dem Bordellbetreiber zu telefonieren.

Löchner war nicht besonders freundlich. «In der Tat, mein Pontiac Chieftain ist mir am 3. April hier vor meinem Etablissement in der Giesebrechtstraße gestohlen worden. Haben Sie den Schlitten endlich gefunden? Ich brauche den Wagen dringend, denn es gibt Kunden, die …»

«Nein, wir haben ihn noch nicht gefunden», unterbrach Kappe ihn. «Und hier ist, wie schon gesagt, die Mordkommission und nicht das Dezernat für Autodiebstähle.»

«Wieso denn das?», fragte Löchner. «Ist in meinem Wagen etwa jemand ermordet worden?»

«Nein, das nicht, aber man hat aus Ihrem Fahrzeug mit einiger Sicherheit mehrere Schüsse auf einen Assistenten der FU abgegeben.»

«Ah, auf diesen Doktor Waschinsky? Davon habe ich in der Zeitung gelesen.»

«Waschinsky war doch sicher ein Kunde von Ihnen?», versuchte es Kappe auf gut Glück. Schweigen am anderen Ende der Leitung. «Keine Antwort ist auch eine Antwort. Es wäre dennoch schön, wenn Sie etwas zur Aufklärung des Mordanschlages beitragen könnten.»

«Kann ich nicht.»

Kappe überlegte einen Augenblick. Die Arroganz dieses Mannes ärgerte ihn. Aber wahrscheinlich hatte der so viele hochrangige Politiker, Staatsanwälte und Journalisten bei sich zu Gast, dass er sich aufgrund seiner Beziehungen für unangreifbar hielt. Und eine Rechtsgrundlage für eine Hausdurchsuchung gab es nicht. Also blieb Kappe nichts weiter übrig, als klein beizugeben. «Gut, Herr Löchner, das war’s dann, danke. Sollte Ihnen zu Doktor Waschinsky noch etwas einfallen, rufen Sie uns bitte an!»

«Ich will meinen Pontiac wiederhaben, sonst nichts! Guten Tag!»

Kappe hielt den Hörer noch in der Hand, als Löchner längst aufgelegt hatte. «Es gehört zu den Pflichten eines deutschen Beamten, die Überheblichkeit eines einflussreichen Gernegroß wortlos zu ertragen.»

Kynast, der das Gespräch mitgehört hatte, erwiderte: «Hoffen wir auf einen Mord bei ihm im Puff – dann gibt’s Rache.»

Kappe rief erst einmal Keunitz an, um ihn über das Gespräch mit Löchner zu unterrichten. Der Chef versprach ihm, ab sofort alle Funkwagenbesatzungen nach Löchners gestohlenem Pontiac Ausschau halten zu lassen. Und schon nach einer Stunde kam die Erfolgsmeldung: «Wir haben ihn gefunden! An der Ecke Unter den Eichen und Fabeckstraße. Da, wo die Amerikaner ihr Militärhospital haben. Die Spurensicherung ist schon am Werke.»

Die aber fand nichts, was für Kappe und Kynast von Interesse war. «Nur zwei gebrauchte Kondome unter dem Rücksitz, aber keine Fingerabdrücke, Haare oder Fasern. Euer Täter scheint gewusst zu haben, was man alles beachten muss. Oder es handelt sich doch nicht um den Wagen, aus dem auf diesen Waschinsky geschossen wurde.»

Kappe antwortete mit einem Goethe-Zitat. «Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.»

Dieses Gefühl sollte jedoch schon kurz vor Feierabend ein Ende haben, denn da stand, nachdem höflich angeklopft worden war, ein Mann in der Tür, der sich mit einer knappen Verbeugung vorstellte. «Fusgänger.»

Kappe lachte. «Bin ich auch, freut mich!»

«Nein, ich heiße so: Friedrich Wilhelm Fusgänger.»

«Oh, Entschuldigung!»

«Macht nichts, ich bin’s gewohnt.»

«Ich kenne Sie doch», stellte Kynast fest. «Sie schreiben im Telegraf immer die bissigen Kommentare über alles, was in der DDR schiefgeht.»

«Ja, und das ist eine Menge.» Fusgänger sah sich nach einem Stuhl um. «Darf ich?»

«Aber gerne!» Kynast sprang auf, um ihm den Besucherstuhl aus der Ecke zu holen.

Der Journalist setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und begann dann von der permanenten Angst zu reden, mit der er zu leben habe. «Seit das mit Walter Linse passiert ist, fühle ich mich nicht mehr sicher. Kennen Sie auch die Geschichte von diesem Krützke?» Kappe und Kynast verneinten. «Nun gut, ich erzähle sie Ihnen kurz. Wolfgang Krützke, Germanistikstudent an der FU, gründete 1951 gemeinsam mit einem Kommilitonen eine Presseagentur, die Informationen über wirtschaftliche und politische Probleme in der DDR und den Ostblockstaaten sammelte. Die verkauften sie dann als Meldungen an Zeitungen und Rundfunksender. Krützke wurde im Januar 1953 von einem Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit in den Ostsektor gelockt, dort festgenommen und vom Bezirksgericht Potsdam wegen ‹Boykotthetze› zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Auf dem Transport in die Haftanstalt wurde Krütze dann, soweit wir das wissen, bei einem ‹Fluchtversuch› erschossen.»

«Wie bei den Nazis», war Kappes Kommentar. Jetzt konnte er sich auch wieder an den Vorfall erinnern. Er sah den Journalisten an. «Und nun glauben Sie, dass auch Sie in Gefahr sind?»

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