Buch lesen: «Auf leisen Sohlen»

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Horst Bosetzky

Auf leisen Sohlen

Der 28. Kappe-Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit seiner mehrteiligen Familiensaga (schließend mit «Kartoffelsuppe oder Das Karussell des Lebens», 2012), dokumentarischen Spannungsromanen und biografischen Romanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Für die Krimiserie «Es geschah in Berlin», die er 2007 mit dem Jaron Verlag begründete, verfasste er mehrere Bände (zuletzt «Berliner Filz», 2016). Seine amüsanten Anekdoten zum Berliner Nahverkehr («Mit Genuss in Taxe, Bahn und Bus») erschienen 2016.

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95552-027-4

INHALT

Cover

Titel

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

Es geschah in Berlin …

EINS

AN DEN KANÄLEN /Auf den dunklen Bänken / Sitzen die Menschen, die / Sich morgens ertränken. So depressiv wie in Joachim Ringelnatz’ Gedicht Berlin aus dem Jahre 1927 hätte es 1964 im eingemauerten West-Berlin eigentlich zugehen müssen. Doch die Halbstadt sah die beste kollektive Therapie darin, von Januar bis Dezember zu lachen, zu singen, zu tanzen und zu feiern. Die Jugend vergnügte sich im Jazzklub «Eierschale», der in einem Keller am Breitenbachplatz zu finden war, oder in der «Badewanne» in der Nürnberger Straße. Die Erwachsenen bevorzugten die «Waldbühne», die «Stachelschweine» oder das «Ballhaus Resi». Letzteres lockte mit riesigen bunt beleuchteten Wasserspielen auf der Bühne, mit Tischtelefonen und einer Rohrpostanlage. Jeder Tisch verfügte über eine Platznummer, die schon von Weitem erkennbar war. Und so konnte jeder männliche Besucher jederzeit und ohne dass es ihm peinlich sein musste, die Dame anrufen, der er sich nähern wollte.

Uwe Dreetz ging oft ins «Resi». Weniger um sich zu amüsieren, sondern mehr aus beruflichen Gründen. Er war nur ein kleiner Gauner, wollte aber gern das werden, was man seit der Zeit Kaiser Wilhelms II. einen Gigolo nannte, das heißt sexuell geprägte Beziehungen zu älteren Damen unterhalten und sich von ihnen aushalten lassen. Dass er mehrfach vorbestraft war, auch wegen einiger Gewalttaten, störte ihn nicht, er empfand es eher als Ritterschlag. Über die Warnung eines Sozialarbeiters in der JVA Tegel –«Uwe, wenn du so weitermachst, bringst du noch mal jemanden um und landest lebenslänglich bei uns»– hatte er nur gelacht.

Heinz, der Freund, mit dem Dreetz an diesem Tag im «Resi» war, pflegte zu sagen, er sei ein so gutaussehender Mann, dass ihn die Polizei eigentlich einsperren müsse. Manche erinnerte er sogar an Gregory Peck. Auf dem Kurfürstendamm war er schon einmal mit dem Schauspieler verwechselt und um ein Autogramm gebeten worden.

Heinz wunderte sich, dass Uwe Dreetz noch nicht zum Telefon gegriffen hatte. «Na, noch keine ältere Dame mit viel Zaster im Visier?»

«Doch, die Blondine da an Tisch 52.»

«Wahrscheinlich bezeichnet die Nummer ihr Alter. Fette Beute!»

Die Frau, die Uwe Dreetz im Visier hatte, hatte sich nach der Trennung von ihrem Mann in eine Pension in der Konstanzer Straße geflüchtet, doch dort fiel ihr die Decke auf den Kopf. Ihr Name war Gisela Wittenbeck.

«Gehen Sie doch ins ‹Resi›», hatte ihr die Pensionsinhaberin Gerda Groß geraten. «Da ist immer was los, und Sie kommen auf andere Gedanken.»

«Nur, wenn Sie mitkommen.»

«Na schön, meine Tochter kann sich um die Gäste kümmern», hatte Gerda Groß geantwortet.

Nun saßen die beiden Frauen im «Resi», hatten sich eine Flasche Riesling bestellt und warteten voller Spannung darauf, dass etwas geschehe.

Da klingelte auch schon das Telefon. Die Pensionsinhaberin riss den Hörer von der Gabel, hörte einen Augenblick zu und gab ihn dann sichtlich enttäuscht an Gisela Wittenbeck weiter. «Für Sie. Ein Süßholzraspler.»

Gisela Wittenbeck nahm den Hörer, presste ihn ans Ohr und murmelte eher abwehrend: «Ja bitte?»

«Guten Abend! Hier ist Gregory Peck. Ich bin nur nach Berlin gekommen, um Sie zu treffen. Werfen Sie doch einen Blick zu mir herüber, ich sitze am Tisch zwölf.»

Als Gisela Wittenbeck tat, wie ihr geheißen, konnte sie nicht anders, als laut auszurufen: «O Gott, das ist er wirklich: Gregory Peck!»

Die alte Dame hatte mit gefalteten Händen kerzengerade auf dem Küchenstuhl gesessen. «Haltung bewahren!» war die Devise ihres Lebens gewesen, und die hatte sie auch im Tod beherzigt. Während das Gas aus den vier Kochstellen ihres Herdes geströmt war, hatte sie gebetet.

So hatte ihr Sohn sie gefunden, und obwohl er schnell alle Fenster aufgerissen und die Feuerwehr und den Notarzt gerufen hatte, war sie nicht mehr zu retten gewesen.

Dieses Bild hatte sich in Ludwig Wittenbecks Gedächtnis eingebrannt und zerfraß seine Seele. Mit 62 Jahren hatte seine Mutter den Gashahn aufgedreht. Sie sei schwermütig gewesen, hatten die Ärzte gesagt. Wegen ihrer gedrückten Stimmung hatte man ihr ein Sedativum verschrieben. Aber «das chemische Zeugs» hatte sie nicht nehmen wollen, und lauwarme Bäder und Baldriantropfen allein hatten nicht geholfen. Sie hatte zu viel erlebt: den Tod ihres Ältesten und ihres Mannes im Krieg, die Bombennächte im Luftschutzkeller, zudem war sie viele Stunden lang verschüttet gewesen, nachdem ihr Mietshaus getroffen worden war, dann die Vergewaltigungen durch die Russen, nach Kriegsende die Berliner Blockade und schließlich den Bau der Mauer. Zu ihrem geliebten Gartengrundstück in Ost-Berlin hatte sie keinen Zutritt mehr gehabt.

Wittenbeck fürchtete, die Schwermut von seiner Mutter geerbt zu haben. Als seine Frau nach einem heftigen Streit ausgezogen war, hatte er schon einen Abschiedsbrief begonnen, ihn aber nie zu Ende gebracht und in seinem neuen Haus in der Kaubstraße versteckt.

Seit mich meine über alles geliebte Frau verlassen hat, habe ich meine gesamte Lebensenergie verloren. Ich habe zu nichts mehr Lust, kann mich auf nichts mehr konzentrieren, bin andauernd müde, kann aber nicht richtig schlafen, habe Angst, in meinem Haus überfallen und erschlagen zu werden, sehe andauernd meine tote Mutter vor mir, glaube, Krebs zu haben, fühle mich trotz meines Reichtums als Versager, denn die eigentlichen Ziele meines Lebens habe ich nicht erreicht. Nicht einmal Kinder habe ich zeugen können.

Wittenbeck hatte sich schon einmal auf dem Bahnhof Zoo vor einen D-Zug werfen wollen, aber die Lokomotive war erst in der Ferne, am Savignyplatz zu sehen gewesen, da war Thomas Suthfeld, sein Geschäftspartner, neben ihm aufgetaucht. Gemeinsam hatten sie die Pharmafirma Pulmo Sanitatem Berlin GmbH, kurz PSB, gegründet. So war Wittenbeck doch nicht gesprungen. Im entscheidenden Augenblick hatte er wieder einmal versagt.

Niemand ahnte etwas von seinen inneren Nöten, für seine Mitmenschen war er der überaus erfolgreiche Pharmazeut und Geschäftsmann, der sein Glück gemacht hatte.

Es war Sonntag. Alle Welt freute sich auf diesen Wochentag, Wittenbeck dagegen fürchtete ihn. Da saß er mutterseelenallein in seiner alten Villa in Kladow und verfluchte Gott und die Welt. Kladow – er konnte das Wort nicht mehr hören. Das Haus sollte verkauft werden, aber sein Makler hatte noch keinen zahlungskräftigen Käufer gefunden. Sein neues Domizil in der Nähe des Fehrbelliner Platzes war noch nicht bezugsfertig, weshalb er immer noch einige Tage und Nächte in Kladow verbrachte. Das wollte er bis zum Ende des Herbstes durchhalten, da er bis dahin draußen in der Gatower Heide und unten an der Havel noch ausgedehnte Spaziergänge unternehmen konnte.

Heute war der 13. September. Im RIAS wurde schon den ganzen Morgen über den Besuch Martin Luther Kings berichtet. Der amerikanische Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer war für 48 Stunden nach Berlin gekommen. Wittenbeck ärgerte es, dass die Rundfunkleute nicht Martin Luther sagten, sondern «Martin Luser», als wäre der große Reformator ein Verlierer.

Eigentlich hatte Wittenbeck noch Friedrich Lufts Theaterkritik hören wollen – die Sätze, mit denen er seine Sendungen beschloss, waren in West-Berlin zu einer Standardwendung geworden: «Wie immer – gleiche Zeit, gleiche Stelle, gleiche Welle.» Doch bis drei viertel elf hielt es Wittenbeck in seinem einsamen Palast nicht mehr aus. Er holte seinen Mercedes aus der Garage, um in die Gatower Heide zu fahren. Der Große Glienicker See wäre näher gewesen, aber den hasste Wittenbeck, weil die Grenze zur DDR durch seine Mitte verlief und er das Elend der deutschen Spaltung dort allzu deutlich vor Augen hatte. Wittenbeck hatte seine Frau immer gewarnt, nicht zu weit hinauszuschwimmen, um nicht als Grenzverletzerin festgenommen zu werden.

Er wohnte in der Selbitzer Straße, die vom Ritterfelddamm abging. Nachdem er ein Stück in Richtung Havel gefahren war, bog er in den Kladower Damm ein, der über Gatow nach Spandau führte, vorbei an den Kasernen der Engländer und am Krankenhaus Havelhöhe. In ein paar Minuten war er am Windmühlenberg angekommen, parkte seinen Wagen in der Nähe eines Fußballplatzes und begann seinen Spaziergang. Rechts von ihm dehnten sich endlose Felder, links lag das Waldstück mit den Hellebergen und der Revierförsterei Gatow, geradeaus kam er zur Gatower Heide. Die bekannten Ausflugsziele der eingemauerten Frontstadt waren zumeist fürchterlich überlaufen, doch hier war West-Berlin noch ruhig und idyllisch. Wittenbeck liebte dieses Fleckchen Erde so sehr, dass seine Frau gelästert hatte, er wolle sicherlich auf dem nahen Landschaftsfriedhof Gatow begraben werden.

Gerade als er hoffte, keinem bekannten Gesicht zu begegnen, lief ihm Inge Bugsin über den Weg, die Tochter seines Saunafreundes Max, der mit Büromöbeln handelte und sich nach dem Mauerbau ein Grundstück mit Laube in Kladow gekauft hatte. Sie führte einen Dobermann an der Leine, der Wittenbeck aggressiv anbellte.

«Bronco, bist du wohl ruhig!» Inge riss heftig an der Leine. «Sitz!»

Wittenbeck lachte. «Ihr seid also auf den Hund gekommen …»

«Ja, Vati wollte einen haben, damit der den Garten bewachen kann.»

Inge ging auf die dreißig zu, war also sechzehn Jahre jünger als Wittenbeck und hätte an seiner Seite und in seinem Bett sicher besser gewirkt als alle erdenklichen Beruhigungsmittel.

«Haben Sie an die Salbe für meinen Vater gedacht?», wollte Inge wissen.

Wittenbeck fasste sich an den Kopf. «Was für eine Salbe?»

«Na, die gegen seine vielen Falten im Gesicht.»

«Ah, die Faltenfrei!», rief Wittenbeck. Seine Pharmafirma stellte zwar primär Mittel gegen Asthma her, entwickelte aber auch noch etliche Tabletten und Salben gegen andere Leiden. «Gott, die Salbe für Max! Die haben wir in letzter Zeit gar nicht mehr hergestellt. Die Produktion wird erst wieder am Montag aufgenommen. Es dauert dann noch eine Weile, bis die Salbe wieder zur Verfügung steht. Am besten, du kommst bei mir in der Kaubstraße vorbei und holst sie dir ab.»

In der Kaubstraße stand die Stadtvilla, die er gekauft hatte, bevor seine Frau ihn verlassen hatte. Gemeinsam hatten sie hier einen neuen Lebensabschnitt beginnen wollen. Nun zog Wittenbeck alleine in das Haus ein. Immerhin blieb ihm auf diese Weise der tägliche lange Weg zu seiner Firma erspart, die sich am Südstern befand, und er kam endlich aus Kladow raus.

Die Bugsins wohnten in der Koblenzer Straße, also nicht allzu weit entfernt von der Kaubstraße. Den kleinen Fußmarsch konnte er Inge durchaus zumuten, zumal sie mit dem Hund ohnehin spazieren gehen musste. «Ich sag dir mal, wann ich in den nächsten Tagen abends in der Kaubstraße sein werde.» Er zog den Taschenkalender hervor und wollte ihr die Termine nennen.

In diesem Augenblick entdeckte der Dobermann in der Nähe ein Eichhörnchen, sprang auf und riss Inge mit sich.

Wittenbeck sah ihr lange hinterher. Das wäre die richtige Frau für ein zweites Leben gewesen. Sie wollte in Kürze heiraten und mit ihrem zukünftigen Ehemann zusammenziehen. Aber was hieß das heutzutage schon?

Er setzte seinen Spaziergang fort und hoffte, dabei in eine Art Trancezustand zu fallen und alles, was ihn derzeit belastete, vergessen zu können. Er wollte eigentlich nichts anderes als die fließende, sonnenhelle Leere, doch immer wieder kamen unangenehme Erinnerungen in ihm hoch, sei es von einer Prüfung, die er in jungen Jahren nicht bestanden hatte, oder von einer Auseinandersetzung mit seiner Frau.

Wittenbeck gelangte zur Gatower Heide, die an der Potsdamer Chaussee endete und hinter der sich viele Kilometer lang Grenzzäune und Todesstreifen erstreckten. Auch hier hatte er das ganze deutsche Elend wieder vor Augen. Auf Höhe des britischen Schießplatzes machte er kehrt.

Als er wieder in seinen Wagen gestiegen war, zögerte er, den Zündschlüssel herumzudrehen. Es grauste ihn davor, in sein einsames Haus zurückzukehren. Und so machte er sich auf den Weg in die Firma. Fürs Theater, ein Konzert oder die Oper war es noch zu früh, und allein in einem Restaurant zu sitzen und zu speisen war nichts für ihn.

Von Gatow bis zum Südstern brauchte man auch an einem Sonntag eine gute Dreiviertelstunde. Wittenbeck fuhr die Gatower Straße hinauf Richtung Norden. Obwohl die Straße parallel zur Havel verlief, konnte er nur selten einen Blick auf den Fluss erhaschen, der hier die Breite eines Sees hatte und auf dem Ruderregatten ausgetragen wurden, seitdem den West-Berlinern und den bundesdeutschen Vereinen die olympische Strecke von 1936 in Grünau nicht mehr zur Verfügung stand. Vom anderen Ufer grüßten die Hügel des Grunewalds und der Kaiser-Wilhelm-Turm. Es war schon Jahre her, dass Wittenbeck den zusammen mit seinem Neffen Siegfried Heideblick bestiegen hatte.

Er erreichte die endlos lange Heerstraße. Bald war links die Pichelsdorfer Straße zu sehen, die in die Spandauer Altstadt führte. Während es in verschiedenen Stadtteilen, auch im Zentrum, schon das große Straßenbahnsterben gegeben hatte – denn weitsichtige Kommunalpolitiker hatten das große Ziel vor Augen, West-Berlin zu einer autogerechten Stadt zu machen –, zogen auf der Heerstraße die Züge der Linien 75 und 76 auf einem Nebenstreifen noch tapfer ihre Bahn. Auf der Freybrücke ging es nun hoch über die Havel hinweg, auf der noch immer viele Ausflugsdampfer und Sportboote zu sehen waren. Man lästerte, im eingemauerten West-Berlin könne man auf Wannsee und Havel trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen, man bräuchte nur von einem Boot zum anderen zu springen. Unter ihm lag der dichtbewaldete Pichelswerder mit dem Siemens-Erholungsheim und seinen Ruderklubs.

Wittenbeck überfuhr die Brücke über den Stößensee und die Havelchaussee. Rechts gab es vor dem Scholzplatz noch immer ein Stück echten Grunewald. Hier hatte man im letzten Jahr einen 230 Meter hohen Sendeturm errichtet, damit die westlichen Programme besser in der DDR zu empfangen waren, als es mit dem alten Funkturm ermöglicht gewesen war. Hinter dem Scholzplatz gelangte man zum Postfenn mit seinem Schullandheim und dahinter zum Teufelsberg mit der Abhörstation der Alliierten. Bald sollte dieser aus Trümmern entstandene Berg mit Rodelbahn, Slalomstrecke und Sprungschanze ein bedeutendes Highlight West-Berlins werden. Ein solches war bereits das Le-Corbusier-Haus nahe dem Olympiastadion – West-Berlins Antwort auf Ost-Berlins Neubauten rund um die Karl-Marx-Allee. Es gab so viel zu sehen und zu entdecken, dass Wittenbeck eine Weile von seinen psychischen Nöten abgelenkt wurde.

Bald kam er zum ehemaligen Reichskanzlerplatz, der im Dezember des letzten Jahres nach dem gerade verstorbenen Theodor Heuss benannt worden war. Dort brannte die «Ewige Flamme» als Denkmal für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Wittenbeck bog in die Masurenallee ein, und zwischen dem dunkelrot geklinkerten Funkhaus des Senders Freies Berlin und den Messehallen am Funkturm hindurch fuhr er auf die Neue Kantstraße. Weiter unten zog sich schon ein Stummel der neuen Stadtautobahn entlang, aber die reichte im Süden nur bis zum Hohenzollerndamm und brachte ihm nicht viel, wenn er nach Kreuzberg wollte. So musste er die West-Berliner Innenstadt durchqueren. Die Straßenschilder flogen an ihm vorüber: Savignyplatz, Tauentzien-, Kleist-, Bülow-, Goeben-, Yorck- und Gneisenaustraße. Endlich war er am Südstern angelangt.

Seine Firma, die Pulmo Sanitatem Berlin GmbH, befand sich in den Höfen, die in dem Winkel zwischen der Hasenheide und der Körtestraße lagen und von beiden Straßen aus betreten werden konnten. Hier waren um die Jahrhundertwende mächtige Fabrikgebäude entstanden, die recht schlicht gehalten und mit weißglasiertem Klinker verkleidet waren, der von Ornamenten aus grünen Kacheln durchbrochen wurde. Insgesamt gab es vier Innenhöfe. Dem Besucher fielen zuerst eine Villa im zweiten Hof und ein Glasgang im dritten Hof auf, der auf Höhe der ersten Etage die Gewerbehöfe mit der Villa verband. Und hoch über diesem Glasgang in der dritten und vierten Etage waren die Büro- und Fabrikationsräume der PSB untergebracht.

Wittenbeck suchte die nötigen Schlüssel heraus, um mit dem Außenfahrstuhl nach oben zu fahren. In seinem kleinen Reich angekommen, war ihm die sonntägliche Stille ganz ungewohnt, weil hier doch sonst große Geschäftigkeit herrschte. Er ging einen langen Flur hinunter, um sein Büro aufzuschließen, sich an den Schreibtisch zu setzen und die Liste mit den Apotheken durchzugehen, die man demnächst als Kunden gewinnen wollte.

Da sah er plötzlich einen Schatten die Wand entlanghuschen – und Sekundenbruchteile später auch den, der ihn geworfen hatte. Ein Einbrecher. Maskiert. «Halt! Oder …», rief er und verstellte dem Mann den Weg. Der zögerte nicht, ihn mit seinem Messer niederzustechen.

ZWEI

SIEGFRIED HEIDEBLICK war 1929 in Neukölln auf die Welt gekommen und hatte den Kiez um den Hermannplatz auch nie verlassen, obwohl er wusste, dass Neukölln auf der Skala der zwölf West-Berliner Bezirke ganz weit unten stand, nur Kreuzberg und Wedding galten weniger. Früher hatte man noch auf die Menschen herabblicken können, die im Scheunenviertel am Alexanderplatz, den Straßen um den Schlesischen Bahnhof und in der «Parochialritze» gelebt hatten. Doch das lag ja nun alles in Ost-Berlin, also sozusagen im Ausland, und zählte nicht mehr. Bis 1912 hatte Neukölln den Namen Rixdorf getragen. Dann hatten einige Rixdorfer Bürger gemeint, der Name ihres Ortes sei zu sehr mit proletarischen Vergnügungen verbunden, und man hatte beschlossen, sich in Neukölln umzubenennen.

Heideblick wohnte in einem alten Wohnhaus in der Hobrechtstraße, Ecke Lenaustraße, das den Krieg überstanden hatte. Schon vor einiger Zeit hatte er sich ein Grundstück draußen in Rudow gekauft, und seine Frau drängte ihn, dort endlich zu bauen. Doch er vertröstete sie Jahr für Jahr mit den Worten: «Wenn es mit der Firma wieder besser geht.»

Er hatte das Unternehmen Möbel-Heideblick in der Karl-Marx-Straße von seinem Vater geerbt. Doch im Augenblick liefen die Geschäfte schlecht. Wer im Krieg ausgebombt worden war, hatte sich schon längst neue Möbel gekauft, später auch noch Musiktruhe, Fernseher, Kühlschrank und Waschmaschine. Jetzt boomten das Auto- und das Reisegeschäft. Zudem war die Konkurrenz zu stark geworden. Heideblick versuchte es seit einiger Zeit mit der Bestuhlung von Kino- und Theatersälen, aber das hatte ihm die leeren Kassen auch noch nicht gefüllt. Die Werbesprüche Heideblick verhilft auch dir zum häuslichen Glück oder Möbelglück durch Heideblick hatten nicht den erhofften Erfolg eingebracht. Seine Frau Ute machte sich hin und wieder darüber lustig. Auch heute fragte sie spöttisch: «Siegfried Heideblick, verhilfst du mir mal wieder zum häuslichen Glück?»

«Das werde ich tun», brummte er, «und zwar, indem ich dich gleich verlasse und zum Fußball gehe.»

Ute lachte bitter. «Gut, dann kann ich ja in Ruhe zu meiner Mutter gehen.»

Mit Letzterer war Ute sowieso zum Kaffeetrinken verabredet. Sie verabschiedete sich mit einem Küsschen und machte sich auf den Weg. Heideblick blieb allein zurück und nahm sich noch einmal die Baupläne und Kalkulationen für «Bad Rudow» vor, wie er das geplante Eigenheim gern nannte. Gott, das war im Augenblick kaum finanzierbar! Doch Ute freute sich so auf ein Haus im Grünen.

Nach einer guten halben Stunde angestrengten Brütens packte er schließlich alle Unterlagen wieder zusammen und verließ die Wohnung, um zum Fußball zu gehen. Fußball war sein Lebensinhalt. Das wussten auch seine Angestellten, die ihm zum fünfzigjährigen Firmenjubiläum eine Zeichnung geschenkt hatten, auf der sein Kopf aus einem Fußball bestand. Als geborener Neuköllner war er eigentlich verpflichtet, Fan von Tasmania 1900 zu sein, die auch gerade wieder Berliner Meister geworden waren. Doch sein Herz schlug mehr für den 1. FC Neukölln, für den er einmal selbst gespielt hatte. Von der Bundesliga hielt er nicht viel, denn Hertha BSC war in der Saison 1963 / 64 gerade einmal auf Platz vierzehn gelandet. Eine Schande für West-Berlin! Deutscher Meister war der 1. FC Köln geworden. Wenn schon nicht Neukölln, dann immerhin Köln, dachte sich Heideblick. Die Ost-Berliner hatte es auch nicht besser getroffen, denn in der DDR war die BSG Chemie Leipzig Meister geworden.

Heideblick erreichte die Haustür und wollte sie schwungvoll aufreißen, doch irgendein Scherzbold hatte sie am helllichten Tage abgeschlossen. Um sie zu öffnen, musste er sein Schlüsselbund aus der Hosentasche ziehen und den Durchsteckschlüssel aus der Halterung lösen. Er verfluchte das Ding, das typisch für Berlin war. Nach dem Aufschließen musste man den Schlüssel durch das Schloss hindurchschieben und die Tür von der anderen Seite wieder abschließen, sonst bekam man den Schlüssel nicht wieder heraus. Nur der Hauswart hatte einen Spezialschlüssel. Also ging der Scherz wohl auf Konto dessen Sohns.

Heideblick besaß zwar zwei mit Reklame verzierte Lieferwagen, doch er hatte nie Lust gehabt, einen Führerschein zu machen. Und seinen Fahrer am Sonntag von Reinickendorf, wo der wohnte, nach Neukölln zu bestellen, hätte nur Ärger gebracht. Heideblick mochte auch nicht zur Haltestelle Sonnenallee, Ecke Hermannplatz gehen, um mit der Straßenbahn 95 zu fahren. Deshalb entschied er sich fürs Laufen. Schließlich tat er somit auch etwas für seine Gesundheit. Die Strecke von seinem Mietshaus bis zum Hertzbergplatz betrug gut zweieinhalb Kilometer. Die schaffte er spielend. Doch die Weserstraße, in die er nach ein paar Schritten einbog, war das, was sein Verkäufer, der aus Bremen stammte, einen «langen Jammer» nannte. Fast schnurgerade zog sie sich vom Kottbusser Damm bis zur Ringbahn am Bahnhof Sonnenallee.

Endlich hatte Heideblick den Hertzbergplatz und mit ihm das mehr als bescheidene «Stadion» des 1. FC Neukölln erreicht und seinen Stammplatz auf der westlichen «Tribüne» eingenommen, einen Stehplatz natürlich. Von hier aus hatte man einen weiten Blick Richtung Osten. Alle naselang tauchten die Maschinen der Pan Am und der BEA am Berliner Himmel auf, scheinbar aus dem Nichts kommend, und hatten schon die Räder ausgefahren, um wenig später in Tempelhof zu landen. Nachdem man West-Berlin eingemauert hatte, waren die drei Luftkorridore in Richtung Nord, West und Süd fast wieder so wichtig wie zu Blockadezeiten.

Jedes Flugzeug habe damit, so hatte es ihm seine vielseitig gebildete Tante Gisela aus Kladow einmal erklärt, die gleiche Bedeutung wie beim Cargo-Kult der Melanesier. Die hätten nämlich, als die ersten Flugzeuge hoch über ihren Köpfen aufgetaucht waren, geglaubt, ihre Ahnen wären aus Gräbern gestiegen, um ihnen wertvolle Waren aus dem Westen zu bringen.

Das Spiel begann, und Heideblick feuerte die «95er» in ihren blauen Hosen und gelben Hemden nach Kräften an. Bei jeder Spielunterbrechung wanderte sein Blick zum riesigen Komplex des Gaswerks Neukölln, das sich von der Sonnenallee bis zum Neuköllner Schifffahrtskanal zwischen dem Bahndamm und einer Laubenkolonie erstreckte. Gas brauchte man für die Herde und Thermen in den Wohnungen, für die Straßenlaternen, und wer unglücklich war … Doch an diese Einsatzmöglichkeit wollte er lieber nicht denken.

Kriminaloberkommissar Otto Kappe war eigens zum Zeitungskiosk am Kaiserdamm gelaufen, um sich den Telegraf zu kaufen. Denn heute sollte endlich der lange geplante Artikel über ihn und die Berliner Kripo erscheinen. Er konnte es nicht abwarten, bis er wieder zu Hause war, sondern fing schon auf dem Heimweg zu blättern an. Und tatsächlich fand er den Artikel mit dem Foto. Die Überschrift lautete: Die Verbrecherjagd liegt den Kappes im Blut Wie Hermann Kappe, so der Neffe Otto.

Wir besuchen Kriminaloberkommissar Otto Kappe, 53, in seinem Büro in der Gothaer Straße. Er beugt sich nicht über einen Mann, der gerade erschossen worden ist, sondern über einen dicken Aktenordner. «Ich kümmere mich gerade um einige nasse Fische», erklärt er uns mit dem ihm eigenen Humor. «Das liegt daran, dass ich aus einer Fischerfamilie stamme, Wendisch-Rietz am Scharmützelsee.» Was «nasse Fische» sind, erfahren wir später: ungelöste Fälle. Immer wenn kein aktueller Mordfall anliegt, befassen sich die Beamten der Mordkommission mit ungelösten Fällen – vielleicht ist ja von den Kollegen doch etwas übersehen worden. Otto Kappe ist in Berlin geboren. Wie sein Onkel Hermann, Kriminalober kommissar a. D., ist er zuerst zur Schutzpolizei gegangen und von dort dann zur Kripo gekommen. 1938 hat er den Kommissarslehrgang in Charlottenburg absolviert, ist dann aber ins Abseits geraten, weil er nicht in die NSDAP und die SS eintreten wollte, und hat seinen Dienst in Litzmannstadt, heute Łódź, antreten müssen. Als seine Frau Gertrud dann schwanger wurde, durften sie wieder nach Berlin zurückkehren, wo auch der Sohn Peter zur Welt gekommen ist. Nach dem Krieg hat Otto Kappe zuerst beim englischen Sektorassistenten am Kaiserdamm gearbeitet, 1952 ist er dann zu einer der Mordkommissionen versetzt worden, sozusagen als Belohnung dafür, dass er mit einem Kollegen zusammen einen der Ganoven fassen konnte, der am Raub in der Eisenbahnverkehrskasse Unter den Linden beteiligt gewesen war.

1956 wurde Otto Kappe vom Dienst suspendiert, weil man ihn verdächtigte, bei einer Polizeirazzia aus niederen Beweggründen eine Frau niedergeschossen zu haben. Zusammen mit seinem Onkel Hermann stellte er aber Nachforschungen an und konnte seine Unschuld beweisen.

Hermann Kappe, Jahrgang 1888 und schon lange pensioniert, lobt seinen Neffen in den höchsten Tönen. Er sei intelligent, redegewandt und feinfühlig. Der Meinung sind auch Otto Kappes Kollegen, zum Beispiel sein Kriminalassistent Hans-Gert Galgenberg, dessen Großvater Gustav schon bei der Kripo gewesen ist.

Otto Kappe freute sich über das, was über ihn geschrieben worden war. Und am Kaffeetisch pflichtete ihm seine Frau Gertrud, nachdem sie alles überflogen hatte, bei. Schmunzelnd variierte sie den berühmten Spruch von Descartes: «Ich stehe in der Zeitung, also bin ich.»

«Nun ja …» Otto machte eine etwas hilflose Geste und gebrauchte einen Begriff, den sein Sohn Peter schon öfter verwendet hatte, der an der FU Psychologie studierte. «Das ist nun mal meine narzisstische Bedürftigkeit.»

Gertrud konnte sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen. «Dabei magst du doch den SPD-nahen Telegraf eigentlich gar nicht, die Morgenpost ist schließlich dein Leib- und Magenblatt.»

Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Wohnungstür, und Otto brauchte den Dialog, der ihm doch ein wenig peinlich war, nicht fortzusetzen. Es war Peter, der bei einem Freund übernachtet hatte und sie nun zum gemeinsamen Zoobesuch abholen wollte, aber auch noch gern eine Tasse Kaffee mit ihnen trank.

Peter erzählte ihnen, dass er eigentlich gar keine Zeit für einen Ausflug habe, da er an einem Referat über David McClelland sitze.

Sein Vater sah ihn lächelnd an. «Spielt der in London bei Tottenham oder Arsenal?»

«Vater, das ist ein US-amerikanischer Sozialpsychologe, der in seinem Buch The Achieving Society herausarbeitet, dass die menschliche Motivation drei dominante Bedürfnisse umfasse: erstens das Bedürfnis nach Erfolg, zweitens das Bedürfnis nach Macht und drittens das Bedürfnis der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Die subjektive Bedeutung jedes Bedürfnisses variiert von Individuum zu Individuum und hängt auch vom kulturellen Hintergrund des Einzelnen ab.»

«Das hätte ich auch ohne jahrelanges Psychologiestudium an der FU zusammenbekommen», murmelte Otto.

Sein Sohn grinste. «Und was ist der TAT?»

Da musste Otto nicht lange überlegen. «Der Tathergang aus Tätersicht.»

«Denkste! TAT ist der Thematische Auffassungstest von Murray und Morgan, den McClelland weiterentwickelt hat. Bei diesem Test werden den Probanden Schwarz-Weiß-Fotografien vorgelegt, zu denen sie sich Geschichten ausdenken sollen: Was führte zu der gezeigten Situation? Was geschieht gerade? Was fühlen und denken die abgebildeten Personen? Wie ist der Ausgang der Geschichte? Ein Beispiel: Man zeigt zwei Probanden ein Bild von einem Paar, das sich gerade streitet. Der eine äußert: ‹Sie werden sich gleich wieder versöhnen und miteinander ins Bett gehen.› Und der andere sagt: ‹Der Mann wird die Frau gleich umbringen.› Die Antworten erlauben Rückschlüsse zur Psyche der beiden.»

€5,99
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
211 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783955520274
Verleger:
Rechteinhaber:
Автор
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