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Das Holly Summer Lesebuch

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Warum geht mir diese Frau nicht mehr aus dem Kopf? Die ganze Strecke über hat sie meine Gedanken beherrscht. Sie ist eine von den Schüchternen, sicher mit einem exzellenten Schulabschluss, weil sie die meiste Zeit über ihren Büchern gesessen hat, anstatt wie die anderen das Leben zu genießen. Der Typ Frau, der mich noch nie sonderlich interessiert, geschweige denn in irgendeiner Weise erregt hätte. Aber heute hat mein kleiner Freund in der Hose reagiert. Sehr sogar. Das Kopfkino, das immer intensiver geworden ist, seit sie mir in die Augen geschaut hat, ist der beste Beweis dafür, dass ich diese kleine Göre gerne hinter die nächste Hecke gezogen hätte. Aber daran war überhaupt nicht zu denken. Sie ist ein Goodgirl! Keine von den Frauen, die sich beim Sex offen und experimentierfreudig zeigen. Sicher ist sie korrekt und durchorganisiert. Außer heute Morgen, da muss etwas in ihrem Fahrplan durcheinandergeraten sein.

Was für ein Schicksal es war, das uns zusammengebracht und sie in mein Leben katapultiert hat, kann ich nicht sagen. Aber ich bin überzeugt davon, sie wiederzusehen.

Im ersten Moment, als sie mich von unten keck angeschaut hat, war ich mir fast sicher, dass sie die richtige Partnerin für meine Spielchen sein könnte, aber spätestens ihre naiven Fragen haben mir gezeigt, dass sie keine Ahnung hat, wovon ich spreche. Da war mir bewusst, dass ich es mit einem scheuen Reh zu tun habe, von dem ich dringend die Finger lassen sollte.

Aber gerade aus diesem Grund muss ich immer wieder an sie denken. Wie sie versucht hat, mir das Ende des Unabhängigkeitskrieges näherzubringen, bringt mich zum Schmunzeln. Mein Gott, Kleine, wenn du wüsstest, welche schmutzigen Spielchen mir in dem Moment durch den Kopf gingen, als du ahnungslos zu mir aufgeschaut hast, würdest du schreiend davonlaufen. Ich würde ihr schon zeigen, wo bei mir der Unabhängigkeitskrieg aufhört und Unterwerfung beginnt. Zumindest, was den Sex betrifft.

Wie sie mich angesehen hat! Da war so ein trauriger Ausdruck in ihrem Gesicht, der zum ersten Mal in meinem Leben den Beschützerinstinkt in mir geweckt hat.Ich laufe um die letzte Ecke und biege in die Valentine Street ein. Mein Shirt klebt mir verschwitzt auf der Haut und mein Knöchel, der bei dem Zusammenstoß doch einiges abbekommen hat, fängt jetzt an zu schmerzen.

Beim Betreten meines Grundstücks höre ich Hundegebell von drinnen. Ich schließe die Haustür auf und werde von Charly begrüßt. Jeden Morgen begleitet er mich beim Joggen, heute musste er allerdings auf die große Runde verzichten, da er sich eine Verletzung an der Pfote zugezogen hat. Als ich die Tür öffne, kommt er mir schon entgegengesprungen. Ein Blick auf sein verletztes Bein und den Verband, der nur noch lose darum baumelt, sagt mir, dass er die letzte Stunde dazu genutzt hat, sich diese störende Binde herunterzureißen.

»Charly!«, rufe ich streng und zeige auf seine verletzte Pfote. Sofort hört er mit dem Gebell auf und gibt ein leises Jaulen von sich, schmiegt sich an mich und folgt mir ins Haus zurück.

»Wenn du immer diesen verdammten Verband abbeißt, ziehe ich dir doch noch einen von diesen Plastiktrichtern über den Kopf«, schimpfe ich mit ihm. Charly trottet hinter mir her ins Wohnzimmer. Ich lasse mich auf die Couch fallen, während er sich vor mich legt.

»Zeig mal her!« Ich greife nach seiner verletzten Pfote. Die Wunde ist fast verheilt, also beschließe ich, den Verband nicht zu erneuern. Dafür bleibt er heute im Haus, anstatt im Garten herumzutollen. Im oberen Stockwerk höre ich Margarita, meine Haushälterin, herumwerkeln. Ich stehe auf und gehe nach oben.

»Guten Morgen, Señor«, werde ich von ihr gut gelaunt begrüßt, während sie mit dem Wischmopp in der Hand den Eimer aus dem Raum schiebt.

»Guten Morgen, Margarita. Charly bleibt heute im Haus, außer den üblichen Gassirunden, die Sie mit ihm gehen«, rufe ich ihr nach, dann verschwinde ich im Bad und freue mich auf eine heiße Dusche.

Als das Wasser auf meinen Körper prasselt, ist sie wieder da. Das Goodgirl, wie ich sie in Gedanken getauft habe. Ob ich sie jemals wiedersehen werde? Seit mindestens einem Jahr laufe ich morgens diese Strecke, aber gesehen habe ich sie nie, nur heute.

Da ich bereits spät dran bin, vertreibe ich die Gedanken an sie, greife zum Duschgel und lasse das heiße Wasser über meinen Körper laufen. Von unten dringen die Geräusche des Staubsaugers und das Gebell von Charly nach oben. Dazwischen immer wieder Margaritas Verwünschungen. Als ich aus der Dusche steige, sehe ich im Geiste Charly vor mir, wie er versucht, Margarita und dem Staubsauger auszuweichen, während er gleichzeitig das laute Gerät in Grund und Boden bellt. Ich rufe Charlys Namen nach unten, damit er endlich mit dem schrecklichen Gebell aufhört, was aber nichts nützt. Ich bin selbst schuld, ich habe ihn zu sehr verwöhnt und jetzt tanzt er mir und Margarita auf der Nase herum.

In meinem begehbaren Schrank schnappe ich mir ein Businesshemd, einen meiner unzähligen Anzüge, Unterwäsche, Socken und schwarze italienische Schuhe. Meine Haare modelliere ich mit Gel nach hinten, und wenn ich die dunkle Hornbrille trage, könnte wirklich der Eindruck entstehen, die Menschen haben es mit einem nüchternen Unternehmer zu tun. Aber im Grunde bin ich alles andere als nüchtern. Ich bin ein Hai, ein unberechenbar harter Verhandlungspartner und kalter Geschäftsmann. Mein Äußeres ist nur Tarnung, um mein Gegenüber in Sicherheit zu wiegen und dann erbarmungslos zuzuschlagen.

In Gedanken bereits bei meinem ersten Termin heute, betrete ich mein Schlafzimmer. Auf dem großen Bett liegt hechelnd Charly und wirft mir einen von seinen berüchtigten Hundeblicken zu, da er genau weiß, dass das Bett für ihn tabu ist.

»Runter, aber schnell!«, schimpfe ich mit ihm, während ich das Schlafzimmer verlasse und die Treppe nach unten gehe. Er folgt mir.

Ich habe den Hund vor drei Jahren in einem Karton gefunden. Er war noch ein Baby. Als ich ein leises Winseln hörte, folgte ich dem Geräusch und fand ihn neben einer Mülltonne in einer verschlossenen Kiste. Ich öffnete sie und er schaute mich mit seinen großen Augen an. Dann griff ich hinein, zog ihn vorsichtig heraus und von diesem Moment an waren wir Freunde fürs Leben. Mir war sofort klar, dass ich ihn nicht zurücklassen konnte. Jemand hatte ihn ausgesetzt und ohne meine Hilfe wäre dieses kleine Bündel in der Nacht erfroren. Ich steckte ihn vorsichtig unter meine Jacke und ging mit ihm nach Hause.

Margarita ist mittlerweile in der Küche angelangt und bereitet für Charly das Fressen vor.

»Geben Sie dem Hund nicht zu viel extra«, rufe ich ihr zu, als ich die Küche betrete, den Kühlschrank öffne und eine kleine Flasche Wasser herausnehme.

Empört dreht sie sich zu mir um und versucht, sich in ihrer unschuldigen Art zu verteidigen. »Señor, ich würde nie ...«

Dabei weiß ich ganz genau, dass sie sich und Charly mit Leckereien verwöhnt. Mein versöhnliches Lächeln stimmt sie wieder gütig. »Und warum hat Charly wieder zugenommen?«, necke ich sie.

Sie zuckt nur unwissend die Achseln, als hätte sie nichts damit zu tun, und widmet sich wieder ihrer Arbeit. Message angekommen, wenn Margarita nichts hören will, ist sie plötzlich taub und murmelt nur noch in ihrem spanischen Dialekt vor sich hin. Sie weiß nicht, dass ich mehr von ihrer Muttersprache verstehe, als sie denkt.

»Ich komme heute Abend erst spät nach Hause«, teile ich ihr noch mit, bevor ich die Küche verlasse.

»Machen Sie sich keine Gedanken, Señor. Ich habe viel zu erledigen im Haus und Charly ist dann nicht alleine«, ruft sie mir noch nach.

Ich nicke und bin wieder einmal froh, diese Frau zu haben. Sie kümmert sich rührend um meinen kleinen Freund, wenn ich ihn nicht mitnehmen kann, und ich vertraue ihr blind. Etwas, das ich bei sehr wenigen Menschen tue. Außerdem ist sie sehr verschwiegen und loyal, was meine häufig wechselnden Beziehungen betrifft.

Charly folgt mir aus der Küche zur Haustür. Ich beuge mich zu ihm hinunter und kraule seinen Kopf.

»Tut mir leid, Sportsfreund, heute nicht.«

Er bleibt zurück und schaut mir traurig nach. Mein Gott, wenn er das tut, bin ich fast versucht, ihn doch mitzunehmen. Aber heute ist das unmöglich, also schließe ich die Tür und atme die frische Luft ein.

Vor meiner Garage parkt mein Sportwagen. Ich steige ein und verlasse das Grundstück in Richtung der Bostoner Innenstadt, in der meine Büroräume liegen.

Leise fluche ich vor mich hin, als die nächste Ampel auf Rot umschaltet und ich gezwungen bin, zu halten. Eine junge Frau mit einer Lockenmähne überquert die Straße. Ich starre ihr hinterher. Mein Goodgirl! Da ist sie wieder. Dieser blonde Wuschelkopf, der mich heute Morgen tatsächlich von der Strecke gefegt hat. Ich bin fast versucht, die Scheibe herunterzulassen und ihr etwas nachzurufen. Als sie sich zu einem jungen Mann umdreht, der sie an der Hand nimmt, und beide eilig die Straße überqueren, muss ich feststellen, dass mir meine Fantasie einen Streich gespielt hat.

Hinter mir schreckt mich penetrantes Hupen aus den Gedanken. Die Ampel ist grün und das sicher schon eine ganze Weile. Ich werfe einen verärgerten Blick in den Rückspiegel, hebe die Hand und hätte dem Idioten hinter mir am liebsten den Mittelfinger gezeigt, entscheide mich aber dagegen und gebe stattdessen Gas.


»Hi, Sunday, lange nicht gesehen. Was trinkst du?«, fragt mich Cole, der Barkeeper in Jimmy’s Bar, während er über die Theke wischt. Cole ist ein guter Freund von Elijah und wir kennen uns aus meiner Zeit, als ich auch im Service gearbeitet habe. Elijah ist in der Garage mit seinem Fahrrad beschäftigt und später steht noch ein Gespräch mit seinem Teilhaber an, mit dem es gestern Nacht schon Ärger gab. Elijah will ihn ausbezahlen, aber die Verhandlungen scheinen sich schwierig zu gestalten. Also habe ich mich allein in diese Bar geschleppt, um einfach mal raus zu kommen.

 

»Einen Zombie«, bestelle ich gelangweilt den Drink. Cole schaut mich kritisch an, da ich ansonsten höchstens mal einen Sex on the Beach oder eine Pina Colada trinke, leichte Drinks mit wenig Alkohol. Er zieht seine gepiercte Augenbraue hoch und legt den Kopf schräg.

»Alles in Ordnung mit dir? Bist du sicher?«

»Vollkommen.«

»Scheißtag gehabt?«, fragt er, während er Eiswürfel in ein Glas füllt.

»Ich weiß nicht, was du unter einem Scheißtag verstehst. Aber wenn es reicht, dass ich von meinem Chef unter Druck gesetzt wurde und er mir mehr oder weniger die Kündigung unter die Nase gehalten hat, dann würde ich sagen, ja, es war ein Scheißtag. Außerdem habe ich einen Jogger mit dem Fahrrad über den Haufen gefahren.«

»Okay, ich denke, da hast du dir einen Zombie verdient. Hier wird es auch in nächster Zeit einige Veränderungen geben.«

»Wie meinst du das?«

»Der Club wird verkauft. Es gibt drei Interessenten, die ihn übernehmen wollen. Hat Elijah nichts davon erzählt?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, hat er nicht. Er hat im Moment andere Sorgen. Sein Partner macht ihm Probleme.«

»Ich dachte, es hat sich schon rumgesprochen. Ich hatte ja gehofft, Elijah würde diesen Club kaufen, gerade weil er so einige Schwierigkeiten mit seinem Teilhaber hat.«

»Elijah wird versuchen, ihn auszubezahlen.«

Cole nickt. »Kann ich verstehen. Das Black Sugar ist der In-Club. Hat eine super Lage und ist nicht nur bei den jungen Leuten angesagt. Die ganze Szene trifft sich dort. Außerdem müsste er hier in diesem Laden einen Haufen Geld investieren, wenn er neue Leute anziehen will.«

Ich schaue mich in der Bar um, dabei habe ich die Einrichtung schon viele Male gesehen. Aber es ist mir nie aufgefallen, wie heruntergekommen und veraltet hier alles ist.

»Vielleicht kommen die Leute gerade aus diesem Grund her.«

»Mag sein. Ich will mich auch gar nicht beschweren, aber ...« Cole unterbricht seinen Satz. Ich folge seinem ernsten Blick. »Da hinten kommen sie.« Er weist mit einem Kopfnicken zur Tür, die gerade aufgeht.

Drei Männer betreten die Bar. Sie tragen legere Kleidung und doch wirken sie wie die Sorte Businesstypen, die nur im Sinn haben, Geld zu verdienen. Ihre Blicke gleiten kurz durch die Bar, aber keiner der drei verzieht eine Miene. Die würden sich sicher nicht hinter die Bar stellen, wenn mal Not am Mann ist, so wie es Elijah in seinem Nachtclub des Öfteren tut.

»Aalglatte Businesstypen«, spuckt Cole verächtlich aus, dann wendet er sich wieder der Bestellung zu, die eine Angestellte über den Tresen geschoben hat.

»Drei Bier, Cole«, höre ich Judy, eine der Bedienungen, hinter mir über die Theke rufen.

»Kriegst du«, verspricht Cole. »Heute ist wieder die Hölle los. Ich sag dir, wer diesen Club übernimmt, bekommt eine Goldgrube. Der Laden braucht nur einen neuen Anstrich.«

Ich beachte die drei Neuankömmlinge nicht weiter und wende mich wieder Cole zu.

»Warum wird der Club überhaupt verkauft?«, will ich wissen.

»Der Boss ist zu alt. Er will alles hinter sich lassen und sich in den sonnigen Süden nach Florida absetzen.«

»Verstehe. Kennst du die neuen Besitzer schon?«

Cole schüttelt verneinend den Kopf. »Hab sie nur ein paar Mal hier ins Büro gehen sehen. Aber schau sie dir doch an.« Dabei nickt er Richtung Büro, hinter dessen Tür die Männer verschwinden.

»Glaubst du, die neuen Besitzer werden das Personal entlassen?«

Cole dreht sich um und greift nach den Flaschen, um einen Drink zu mixen, der neben mir bestellt wurde. Er zuckt mit den Achseln.

»Wer weiß das schon? Auf jeden Fall sehen sie nicht danach aus, als könnte man mit ihnen verhandeln. Die wissen doch ganz genau, was sie wollen. Und das ist Kohle machen.«

»Warte doch erst mal ab. Für meine Begriffe sehen sie nicht so aus, als wollten sie dir deinen Platz als Chef der Bar streitig machen.«

»Da könntest du recht haben. Die kommen nur zum Abkassieren.«

Die Frau neben mir greift zu ihrem Glas, das Cole vor sie gestellt hat. Sie stößt aus Versehen gegen die Flasche, die ebenfalls auf dem Tresen steht. Bevor ich überhaupt mitbekomme, was passiert ist, läuft der Inhalt über die Theke und mir auf meine Jeans. Erschrocken springe ich vom Barhocker hoch, aber es ist zu spät, meine Hose ist durch und durch nass, genau wie meine Bluse.

»Oh, sorry Süße, das tut mir leid«, entschuldigt sie sich bei mir.

»Ist nicht schlimm. Außer, dass ich jetzt rieche wie ein ganzes Spirituosenlager, ist ja nichts passiert«, antworte ich sarkastisch.

Cole schüttelt den Kopf und reicht mir einige Papierservietten. Das ist wieder mal typisch. Die Bar ist voll mit Menschen, aber mich muss dieses Schicksal ereilen. Warum immer ich?, denke ich deprimiert. In jedes Fettnäpfchen muss ich treten. Ich wüsste nicht, was mir heute noch passieren könnte.

»Warte, ich habe ein Kleid in meiner Tasche, das kannst du anziehen«, bietet sie mir großzügig an.

Ich werfe ihr einen zweifelnden Blick zu. Sie sieht nicht gerade aus wie eine Büroangestellte. Eher wie eine der Prostituierten, die hier immer mal wieder einkehren. Was für ein Kleid soll das wohl sein? Schon zieht sie ein kurzes, enges Kunstleder-Ding aus ihrer Tasche, das mehr zeigt als verdeckt. Mir kommt sofort die Szene mit Julia Roberts in Pretty Woman in den Sinn, wie sie in dem kurzen blauen Rock und dem angedeuteten weißen Top, die mit einem Metallring verbunden sind, die Straße entlang flaniert und dann auf den reichen Geschäftsmann trifft, der sie aus dem Elend herausholt. Aschenputtel in modern! Aber eben leider nur eine Utopie.

»Hier, zieh das an. Bei deiner Figur sieht das richtig heiß aus.«

»Ich weiß nicht«, blocke ich ab.

»Warum denn nicht. Du kannst das tragen, Sunday«, bestärkt mich Cole lächelnd.

»Du spinnst ja«, sage ich lachend.

Doch irgendwie bin ich heute in der merkwürdigen Stimmung, so einen Blödsinn mitzumachen. Ich zögere noch kurz, dann nehme ich den kleinen Kunstlederfetzen und verschwinde nach hinten zu den Waschräumen. Von den Gästen in der Bar hat sonst keiner etwas von dem Fauxpas mitbekommen. Die Gespräche an den Tischen werden immer lauter, je mehr sich die Bar füllt, während ich mich an einer Gruppe junger Frauen vorbei dränge. Ich könnte auch einfach nach Hause gehen. Aber ich tue es nicht, betrete stattdessen eine der Kabinen, befreie mich von der nach Alkohol riechenden hellen Hose und der Bluse und streife mir das Lederkleid über.

Als ich aus der Kabine trete, fällt mein Blick in den großen Spiegel, der quer über der hinteren Wand hängt und ich muss zugeben, das Outfit sieht wirklich scharf aus, obwohl das so gar nicht mein Kleiderstil ist. Eine junge Frau tritt ebenfalls vor den Spiegel und überprüft ihr Make-up. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel.

»Sieht scharf aus«, bemerkt sie anerkennend. Ich lächle sie an, stopfe heute schon zum zweiten Mal verschmutzte Kleidung in meine große Handtasche und gehe wieder zurück in die Bar. Mittlerweile steht mein Zombie auf der Theke und die Prostituierte ist verschwunden.

»Wo ist sie hin?«, frage ich Cole, nachdem ich mich vorsichtig auf den Barhocker geschoben habe, sodass der kurze Rock wenigstens meinen Po bedeckt.

»Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Vielleicht ein Klient?«

Klient, wie sich das anhört. Wenn ich einen Klienten habe, dann zeige ich ihm Häuser oder Wohnungen in Beacon Hill oder Back Bay, aber mehr als einen Händedruck und ein Lächeln kann mein Kunde von mir nicht erwarten.

»Du siehst wirklich heiß aus, Sunday«, gibt Cole nickend von sich.

Ich schlage die Beine übereinander und ernte dafür von einigen jungen Männern an den Tischen aufmerksame Blicke und Pfiffe. Durch die Schnüre, die sich über meine Brüste ziehen und sie optisch so richtig in Szene setzen, trifft der Begriff »heiß« absolut zu. Im normalen Leben trage ich Körbchengröße B, aber in dieser Korsage könnte man annehmen, ich hätte Titten in Doppel-C. Ich schaue an mir herunter und muss feststellen, dass die Schnürer so gar nicht zum Kleid passen. Ein Stilbruch, der schon mehrere Male auf den internationalen Laufstegen gezeigt wurde. Ich bin keine Modeikone, aber meine Freundin Tyler hat einen ähnlichen Style erst vor kurzem für ein Modelabel getragen.

»Ich soll dir sagen, du sollst das Kleid einfach in den nächsten Tagen hier abgeben. Sie holt es sich dann wieder ab«, unterbricht Cole meine Gedankengänge.

»Ist gut. Ich hatte auch nicht vor, dieses Teil zu behalten. Ist schon peinlich genug, hier an der Bar in so einer Aufmachung zu sitzen.« Dabei schaue ich an mir herunter.

»Ich pass schon auf dich auf, Sunday.«

Dann rollt Cole genervt die Augen, als er von seinem Chef ins Hinterzimmer gerufen wird.

»Tut mir leid, ich muss mal kurz nach hinten. Das war es dann wohl? War schön, dich kennengelernt zu haben«, sagt er zu mir, legt das Handtuch auf die Theke und verschwindet nach hinten ins Büro.

Ich greife zu meinem Glas und trinke den Cocktail, der unwahrscheinlich viel Alkohol enthält, zu schnell. Aber irgendwie fühle ich mich unter den Blicken der Typen hinter mir gar nicht wohl. Die erregende Stimmung, die ich gerade noch in den Waschräumen empfunden habe, ist wie weggewischt und jetzt ärgere ich mich, diesen Fetzen überhaupt angezogen zu haben. Bin ich denn total verrückt geworden?

Ich kann die Männer im Spiegel vor mir beobachten, wie sie scherzend zu mir schauen. Jetzt stehen zwei von ihnen auf und kommen auf mich zu. Ich will schnell die Bar verlassen und krame in meiner Handtasche, um das Geld für den Drink auf den Tresen zu legen. Aber leider zu spät. Der eine stellt sich rechts von mir an die Bar, der andere quetscht sich auf der anderen Seite zwischen die Barhocker.

»So allein?«

»Das kann man in einer voll besetzten Bar wohl nicht behaupten«, antworte ich reserviert, drehe mich erst gar nicht um und starre weiter geradeaus auf das Regal mit den Flaschen vor dem Spiegel. Ich hoffe, sie haben verstanden und verschwinden wieder.

»Für 20 Piepen, Bunny, kannst du mir einen blasen.« Dabei zieht er einen Geldschein aus seiner Hosentasche und wedelt damit vor meinem Gesicht herum.

Ich ziehe scharf die Luft ein und verziehe angeekelt das Gesicht. Das darf doch nicht wahr sein. Mal ganz abgesehen davon, dass ich diesen widerlichen Typen nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter, wenn ich mir vorstelle, ihn mit meinem Mund an einer Stelle zu berühren, die in mir nur einen Würgereiz hervorruft. Ich kenne die Preise in der Branche nicht, aber für lumpige 20 Dollar kann er nicht mal erwarten, dass ich es ihm mit der Hand besorge, geschweige denn, meine Lippen um seinen Schwanz lege. Allein der abgestandene Zigarettengeruch, der ihn umgibt und der ihm bei jedem Wort aus dem Mund schleicht, vermischt mit Schweiß, der an seinem Körper klebt, und den Ausdünstungen des Alkohols, ekelt mich an. Jetzt legt er seine große, raue Hand auf meine Schulter und lässt seine Finger über meine nackte Haut wandern. Unter der Gänsehaut, die sich sofort ausbreitet, zucke ich angewidert zusammen.

Jetzt reicht es!