Erweiterte Reflexionslogik

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Erweiterte Reflexionslogik

Eine Einführung in die Wissenschaft des Paradoxen

von Holger Wendelken

Inhaltsverzeichnis

Vorwort (zu dieser Ausgabe)

Teil I: Die Reflexionslogik

Einführung (zum Thema)

Die Identität

Antinomien und Unvollständigkeit

Der Dominante Operator

Das Paradoxon der Unendlichkeit

Der Apparat der Reflexionslogik

Bewusstsein und physikalische Realität

Grenzen der Reflexionslogik

Teil II: Kritik der Reflexionslogik

Über Beschränkung und Unmoral selektiver Logiksysteme

Dominanz und Evolution

Psychologie und freier Wille

Formen der Herrschaft

Der psychische Homunculus

Das Wahre Äußere

Anhang

Die Reflexionslogik in Kürze

Literaturhinweise

Vorwort

Diese Veröffentlichung soll als zweite, leicht erweiterte Auflage von »Reflexionslogik – Die Wissenschaft des Paradoxen und ihre Lösungen« aufgefasst werden. Die Erweiterungen, die allesamt im Kielwasser der Veröffentlichung der ersten Ausgabe entstanden sind (leider etwas zu spät!), betreffen eine etwas gründlichere Betrachtung der Begriffe Sein und Neutralität, die nun gewissermaßen in einem philosophischen Prolog behandelt werden. Daraus folgen einige Veränderungen in der Handhabung des Begriffes Identität, welcher in dieser Ausgabe nicht mehr axiomatisiert, sondern definiert wird. Die Behandlung des Begriffes Reflexion ist exakt die gleiche wie in der ersten Ausgabe – bis auf eine explizite Begründung der Entscheidbarkeit Abstrakter Reflexionen mit der Dominanz des Seins über die Neutralität, die in der ersten Ausgabe im Prinzip jedoch schon mit der (äquivalenten) Begründung der entscheidbaren Definition einer S-Reflexion als Dominanter Operator gegeben ist.

Außerdem ist diese Ausgabe um einen Aufsatz über eine kritische Betrachtung selektiver Logiksysteme, zu denen die Reflexionslogik wegen des Dominanzprinzips zählt, erweitert. Darin wird neben der Perspektive des menschlichen Bewusstseins als Reflexion und daraus resultierendes menschliches Handeln sowohl in psychologischer wie auch sozial-politischer Konsequenz auch die aus der Vollständigkeit und Abgeschlossenheit resultierende Beschränktheit der Reflexionslogik untersucht, die zu einigen Präzisierungen im Kapitel »Grenzen der Reflexionslogik« geführt hat.

Vorwort der Erstausgabe

Dieses Buch soll zunächst als eine populärwissenschaftliche Abhandlung über spezielle Themen der Metamathematik und Philosophie angesehen werden. Außer dem Interesse an den Themen Antinomien, Unvollständigkeit und Unendlichkeit – diese Begriffe werden im Rahmen der Reflexionslogik ausführlich erklärt – sind keine speziellen Fachkenntnisse erforderlich, um den Gedankengängen folgen zu können. Es richtet sich also grundsätzlich an interessierte Laien – aber natürlich auch an interessierte Akademiker.

In einigen Fällen beziehe ich mich auf Äußerungen oder Werke anderer Mathematiker, beispielsweise Bertrand Russel und Kurt Gödel. Diese beiden seien ausdrücklich genannt, weil sie bedeutende Werke zu jenen metamathematischen Themen verfasst haben, mit denen ich mich in dieser Abhandlung beschäftige. Es ist sicher gewinnbringend, sich mit Werken dieser oder anderer Mathematiker und Philosophen zu dem Thema zu beschäftigen, doch zum Verständnis der Reflexionslogik notwendig ist es nicht: Alles reflexionslogisch relevante zum Thema Russel-Antinomie oder Gödelsche Unvollständigkeit wird in diesem Buch behandelt.

Teil I: Die Reflexionslogik

Einführung

1. Das von uns wahrgenommene Universum ist ein Paradoxon.

2. Jeder Mensch – oder genauer: jedes bewusstseinsfähige Wesen – ist in der Lage, Paradoxa zu erkennen und entscheidbar aufzulösen.

Diese zwei Behauptungen müssen natürlich erst einmal bewiesen werden. Und das ist leider keine triviale Angelegenheit. Die Standardlogik bietet keine Werkzeuge, um ein solches Vorhaben auszuführen. Wollen wir uns also mit Ungeheuern wie Antinomien und der Unendlichkeit anlegen, ist es unverzichtbar, eine erweiterte Logik zu konstruieren, die uns mit den notwendigen Werkzeugen versorgt, um Einblick in Aufbau und Wirkungsweise dieser Objekte zu erhalten.

Eine Warnung sei vorweg ausgesprochen: Die Thematik ist nicht wenig verwirrend. Um zu verstehen, wie eine Antinomie (diesen Begriff gebrauche ich übrigens synonym zum Begriff des Paradoxons) aufgelöst wird, muss man verstehen, was eine Antinomie ist, was durchaus verstörend sein kann. Doch wenn Sie sich, vielleicht mit ein wenig Mut und Abenteuerlust, dazu entscheiden, dieses Buch weiterzulesen, dann werden Sie es sicher – weitgehend – unbeschadet überstehen. Und wenn Sie die Reflexionslogik verstanden haben, dann wird Ihnen kein Paradoxon jemals wieder schlaflose Nächte bereiten.

Wie auf jeder Abenteuerreise werden Ihnen viele triviale Dinge begegnen, wie zum Beispiel einige Sätze über den Begriff der Identität; diese sind schon in der Antike genauso gebraucht worden, und sie werden Ihnen ganz intuitiv klar sein. Doch das soll nicht dazu verführen, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit verringern, denn ganz plötzlich werden Sie mit Objekten konfrontiert werden, die Ihre volle Aufmerksamkeit erfordern werden, etwa der Definition einer S-Identität, die ganz und gar nicht trivial ist, denn sie ist nichts Geringeres als ein Paradoxon, eines der Ungeheuer also, die es zu bezwingen gilt.

Die Reflexionslogik ist vor allem aus der Notwendigkeit der Beantwortung zweier Fragen her motiviert:

1. Gibt es ein logisches Modell, welches die Wirkungsweise des Bewusstseins zu beschreiben vermag?

2. Gibt es ein hinreichend mächtiges, logisches System, das sowohl vollständig als auch vollständig entscheidbar ist?

Die Antwort auf beide Fragen lautet: Ja, die Reflexionslogik.

Die Mathematik ist eine Wissenschaft des Entscheidens. Unentscheidbare Sätze, wie beispielsweise »Es existiert eine Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten.«, stören den Anspruch, alle Aussagen in der Mathematik entweder beweisen oder widerlegen zu können. Ziel der Reflexionslogik ist es, auftretende Antinomien lokal zu begrenzen und präzise vorauszusagen, an welchen Stellen Antinomien auftreten können.

Antinomien werden nicht vollständig verschwinden, was in dem Satz über die Unvollständigkeit von Reflexionsabbildern kumuliert. Dennoch lässt sich ein (entscheidbarer) Satz über Vollständigkeit und (globale) Entscheidbarkeit der Reflexionslogik formulieren. Mehr noch: Die Reflexionslogik verdeutlicht, dass Antinomien ein vitaler Bestandteil der modernen Mathematik sind, denn über sie lassen sich genau jene Räume konstruieren, mit denen sich die Standardmathematik beschreibend beschäftigt.

Die Mathematik ist auch eine Wissenschaft des Unterscheidens. Zentraler Begriff der Reflexionslogik hingegen ist die Identität. Wenn die Reflexionslogik in der Mathematik Gültigkeit besitzen soll, muss der Begriff der Identität rigoros angewendet werden können, das heißt: Es muss in einer logischen Operation der Bestimmung der Identität eines Objektes präzise entscheidbar sein, ob ein Objekt identisch mit einem anderen Objekt ist oder nicht – oder möglicherweise beides, was in der Standardlogik ein Paradoxon ergäbe, nicht jedoch in der Reflexionslogik.

Die Reflexion ist der Operator der Identität, welches in der Definition des Begriffes der Reflexion erklärt wird. Dadurch wird die Identität als aktive logische Operation herausgestellt, was der Bedeutung des Begriffes entspricht und sie aus dem Schattendasein der Nicht-Beachtung oder des nebenbedeutenden Implizierens befreit.

Eigentlich ist die Reflexionslogik aus der Erkenntnistheorie her motiviert: Ihr Initialgrund ist die Konstruktion eines mathematisch-logischen Modells zur Beschreibung von Erkenntnis und Bewusstsein. Das Bewusstsein ist eine Reflexion im Sinne der Reflexionslogik, welche den Raum unserer Erkenntnis vollständig zu beschreiben vermag: ein Zirkelschluss, ist doch unser Bewusstsein das zentrale – mehr noch: das einzige – Werkzeug, mittels dessen wir das uns umgebende Universum wahrnehmen. Daher sind die Hauptbegriffe, Reflexion und Identität, eher an Psychologie und Erkenntnistheorie gelehnt, als an die Mathematik. Manchem werden Begriffe wie Identität, Neutralität, Negativität, Reflexion und Antinomie. vielleicht eher der Philosophie zugehörig erscheinen. Wir werden jedoch sehen, dass diese Begriffe mit mathematisch-logischer Präzision bestimmbar und auswertbar sind.

 

Die Identität

Noch bevor wir zu unserer ersten Abenteuerreise aufbrechen können, sind es zwei andere Protagonisten, die in einer geradezu kosmischen und allesentscheidenden Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im Universum streiten: das Sein und das Nichts. Wenn wir die Frage danach stellen, ob das Sein existiert, dann wollen wir, seiner Natur entsprechend, gerne glauben, dass das Sein existiert – nicht aber das Nichts. Also halten wir fest:

Axiom (des Seins): Das Sein existiert.

Bezüglich der Neutralität legen wir fest:

Axiom (der Neutralität): Das Nichts ist (völlig) neutral.

Der neutralen Natur des Nichts und der existierenden Natur des Seins entsprechend kommen wir zur Definition zweier Operationen:

Definition: Die Negation ist die Operation der Neutralität.

Definition: Die Existenz ist die Operation des Seins.

Daraus ableitend kommen wir zu dem Schluss, dass das Nichts seltsamerweise nicht existiert: Die Anwendung des Existenzoperators auf die Neutralität würde folgende Aussage generieren: »Das Nichts existiert.« Doch wenn das Nichts existierte, dann würde es seiner neutralen Bestimmung folgen und also nicht existieren, also gilt:

Satz: Das Nichts existiert nicht.

Eine Operation des Seins auf der Neutralität impliziert also in gewisser Weise eine Operation der Negation auf der Operation des Seins, was aber nur ein Hieb der Neutralität gegen sich selbst ist – dies ist eine der Schlachten zwischen den beiden Titanen, bei der das Sein der Neutralität letztendlich einen tödlichen Treffer beibringt. (Wir haben es in diesem Fall bereits mit einer Antinomie zu tun, doch mehr dazu im nächsten Kapitel.)

Der Vollständigkeit halber fügen wir hinzu:

Satz: Das Sein ist nicht (völlig) neutral.

Aus diesem Streit wird, wir hörten es bereits, das Sein als glänzender Sieger hervorgehen und den Morgen der Existenz einläuten. Seine Hauptwaffe: die Gewissheit, dass es, das Sein, existiert. Und das Nichts – es ist seiner Neutralität wegen des Nicht-Seins überführt; es scheint, das Sein hätte gegen die einst langen und nun sich allmählich verkürzenden Schatten seiner selbst gekämpft, und das Nichts hätte tatsächlich nie existiert.

Nach Anbruch des Morgens der Existenz ist also der Konflikt endgültig entschieden, und das Licht des Seins ist in alle dunklen Winkel des Nichts eingedrungen, seine Finsternis einfach überstrahlend. Also dominiert in einer Welt der Existenz das Sein über das Nicht-Sein:

Satz (über das Dominanzprinzip): Das Sein ist (bezüglich der Existenz) dominant gegenüber der Neutralität.

Anmerkung: Normalerweise sind wir vor allem an Objekten interessiert, deren Existenz wir eindeutig feststellen können, und eben nicht an solchen, die nicht existieren und daher auch keinerlei Relevanz für uns haben. Nach dieser Argumentation ist das Dominanzprinzip das völlig korrekte Ergebnis des Abwägens zwischen dem Sein und der Neutralität. Doch der Gebrauch einer Formulierung, wie: » ... wir sind daran interessiert ...«, läuft verständlicherweise Gefahr, der Willkür bezichtigt zu werden. Genausogut könnten wir der Neutralität den Vorzug geben und ein Dominanzprinzip formulieren, wie »Die Neutralität ist (in Bezug auf Neutralität) dominant gegenüber dem Sein« – was auch immer das bedeuten mag. Dies sollten wir bei jeder Anwendung des Dominanzprinzips (bezüglich des Seins) im Sinn behalten.

In solcher Morgendämmerung erwachen wir in einer fremden Umgebung: Wir wissen nicht, wo wir sind – wir wissen noch nicht einmal, wer wir sind. Alles, was wir sehen, ist uns fremd, und die Verwirrung über die Situation, in der wir uns befinden, ist sicher nachvollziehbar. Doch nicht allzulange Zeit später, wir haben die Befremdlichkeit überwunden, bemerken wir, dass die Situation nicht so aussichtslos ist, denn zumindest einige Aussagen darüber lassen sich sofort formulieren: Durch welchen Umstand wir auch immer in diese phantastische Umgebung versetzt wurden, wir haben diese Transformation überlebt – wir existieren. Und wir werden – je nachdem, wie komplex dieses Abenteuerland strukturiert ist – einer Unzahl von Dingen gewahr, die genauso existieren wie wir: Berge, Flüsse, Wälder, oder vielleicht eher Straßen, Häuser, Automobile, Fußgänger – auf jeden Fall stehen uns all diese Objekte in Sachen Existenz nichts nach.

Und noch eines bemerken wir: Alle diese existierenden Objekte, die uns vorkommen, lassen sich ohne große Mühe voneinander unterscheiden, vor allem anhand ihrer räumlichen Position. Insbesondere, bemerken wir am Ende erstaunt, lassen sie sich von uns, dem Betrachter, unterscheiden. Und nachdem nun alle diese Erkenntnisse gesammelt und geordnet wurden, gewissermaßen als erste Pioniertat in der Erkundung des fremden Landes, haben wir den vielleicht wichtigsten Begriff sowohl der Philosophie als auch der Naturwissenschaften verstanden: die Identität.

Die Erkenntnis, dass jedes Objekt (und Subjekt) eine Identität besitzt, mag uns trivial erscheinen, doch in Wirklichkeit ist sie von derart phänomenaler Art, dass sie gar nicht unterschätzt werden kann. Sie ist so fundamental, und viel bedeutender als die Beherrschung des Feuers oder die Erfindung des Rades, dass wir sie als erste Identitätsdefinition der Reflexionslogik festhalten wollen:

Definition (der 1. Identität): Die Identität ist eine Eigenschaft, die jedem existierenden Objekt durch den Existenzoperator des Seins zugewiesen wird.

Aufgrund der Tatsache, dass wir existierende Objekte unterscheiden können, folgt sogleich die

Definition (der 2. Identität): Die Identität ist ein Vergleichsoperator, der zwei existierende Objekte auf Unterscheidbarkeit überprüft.

Daraus folgt der

1. Identitätssatz: Jedes Objekt ist mit sich selbst identisch.

Sollten uns in zwei verschiedenen Bezugssystemen zwei unterscheidbare Objekte vorkommen, die jedoch nur anhand ihres Bezugssystems unterscheidbar sind, beispielsweise ein Mann, der uns an einem Tag in der Stadt begegnet, am nächsten Tag jedoch im Gebirge, so können wir beide Männer als identisch bezeichnen:

2. Identitätssatz: Identische Objekte kollabieren ineinander.

Wären beide Männer nicht identisch, so würden sie in einem einzigen Bezugssystem (räumlich) voneinander unterscheidbar sein:

3. Identitätssatz: Nicht-identische Objekte abstrahieren sich voneinander.

Alle existierenden Objekte (und Subjekte) verhalten sich ganz präzise nach diesen Definitionen und Sätzen. Es erhebt sich die Frage, ob es nicht vielleicht doch ein oder mehrere Objekte gibt, die sich nicht so verhalten. Ganz abstrakt gesprochen wäre dies die Frage nach einem Objekt, das keine Identität besitzt, oder vielleicht sogar nicht einmal existiert. Diese Frage soll mit einem weiteren Satz beantwortet werden:

4. Identitätssatz: Die Neutralität besitzt keine Identität.

Die Neutralität ist ein nicht existierender Raum, der keine Identität besitzt. Man kann ihn noch nicht einmal als Raum bezeichnen, da diese Bezeichnung eine Struktur oder eine Geometrie erfordern würde, die die Neutralität nicht besitzt. Sie ist ein Reines Nichts ohne alle Eigenschaften. Und genau diese (neutrale) Eigenschaft ist die Versicherung dafür, dass alle (existierenden) Identitäten in eben diesem Raum der Neutralität auseinandergesetzt werden können, ohne von einer eventuell abstoßenden Identität der Neutralität abstrahiert und zurückgeschleudert zu werden – wohin auch immer.

Identitäten sind immer als identisch mit sich selbst zu betrachten, jedoch als nicht-identisch mit von ihnen unterscheidbaren Identitäten. In einem System, in dem mindestens zwei Identitäten unterscheidbar sind, ist jede Identität auch Nicht-Identität in Bezug auf jede andere Identität. Ein System aus Identität und Nicht-Identität (in Bezug auf die vorherige Identität) bildet einen Widerspruch, der in einem Raum, den wir ja bereits als Leerraum der Neutralität identifiziert haben, aufgelöst werden kann. Räume, die vor allem genau diesen Zweck der Auflösung von Widersprüchen erfüllen, können in ganz verschiedenen Formen auftreten, wie zum Beispiel in Form eines physikalischen Außenraumes: Ein Tisch und ein Sessel bilden einen Widerspruch, der im Raum eines Wohnzimmers aufgelöst werden kann. Eine andere Form eines Raumes ist der arithmetische Raum der Menge der natürlichen Zahlen: Die Zahlen 1 und 2 würden sich widersprechen, wären sie nicht in der Ordnung der Menge der natürlichen Zahlen so aufgehoben, dass aus dieser Ordnung eine hierarchische Abfolge der Zahlen resultierte, die jede Zahl von der anderen abstrahierte.

Der Begriff Identität kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Erstens ist es die Bezeichnung eines Existenzoperators, der jedem existierenden Objekt eine Identität zuordnet; jedes Objekt erhält diese Identität vermöge der Dominanz des Seins über das Nicht-Sein. Zweitens, und das darf man nicht verwechseln, ist Identität ein Vergleichsoperator, der die erste Identität zweier oder mehrerer Objekte daraufhin vergleicht, ob sie miteinander identisch sind, diesen Objekten also gewissermaßen eine zweite Identität zuordnet oder nicht. Der Begriff Nicht-Identität resultiert also aus der zweiten Form, da sie das Ergebnis einer Vergleichsoperation ist.

Nehmen wir beispielsweise eine Person namens Herr Soundso, und diese Person ist Vater zweier Kinder. Stellen wir uns weiter vor, diese Person möge vielleicht den Beruf eines Musikers in einem Orchester ausüben, dann hätten wir bereits mindestens drei Identitäten, die sich in der Person Herr Soundso vereinen. Wir könnten also folgende Aussage machen: Herr Soundso ist identisch mit Vater Soundso ist identisch mit Musiker Soundso.

Diese Aussage ist zugegebenermaßen nicht gerade als mathematisch präzise zu bezeichnen, sondern eher salopp oder vielleicht sogar ziemlich schwammig formuliert. Streng genommen sind Musiker und Vater Soundso nämlich nur Abstraktionen der eigentlichen Identität Herr Soundso, und die korrekte Aussage von vorhin hieße eigentlich: Herr Soundso ist identisch mit Herrn Soundso. Das ist ganz exakt eine Folge aus dem ersten und dem zweiten Identitätssatz.

Sehr häufig, um eine weiteres Beispiel für den saloppen Umgang mit dem Begriff der Identität zu geben, werden umgangssprachlich zwei unterscheidbare Objekte als »identisch« bezeichnet, die es gar nicht sind: Wenn wir eine defekte Glühlampe auswechseln müssen, dann werden wir unter Umständen im Elektrofachgeschäft eine »identische« Glühlampe verlangen, was natürlich bei genauerer Betrachtung völlig unsinnig ist. In Wirklichkeit meinen wir dann eine äquivalente Glühlampe, also eine andere, neuwertige Glühlampe, die aber auf jeden Fall in die entsprechende Lampenfassung hineinpassen muss (wobei in Bezug auf den Vergleich zweier physikalischer Objekte selbst die Bezeichnung »äquivalent« nicht ganz korrekt, sondern eher anmaßend ist). Für dieses Beispiel gilt der Grundsatz: Das Gleiche ist zwar das Gleiche wie dasselbe, doch es ist nicht dasselbe.

Der Begriff der Identität, sowohl in der ersten wie auch in der zweiten Form, ist der vielleicht präziseste Begriff, den es in der Sprache überhaupt gibt. Umso verwunderlicher ist es, dass dieser Begriff in der Standardlogik, in welcher die höchste vergleichende Operation die der Äquivalenz ist, gar nicht explizit vorkommt, sondern allerhöchstens nebenbedeutend impliziert wird. In der Reflexionslogik hingegen nimmt der Begriff der Identität eine zentrale Rolle ein.

Am Beispiel des Herrn Soundso haben wir gesehen, dass wir aus einer Menge von Eigenschaften abstrakte Identitäten konstruieren können, die nicht unterscheidbar sind von der Identität des Herrn Soundso. Dieses Beispiel wollen wir uns nun aus einer anderen Perspektive anschauen: Angenommen, wir betrachten die abstrakten Identitäten des Herrn Soundso nicht länger – abwertend – als zur Identität des Herrn Soundso zugehörige Eigenschaften, nämlich die, ein Musikinstrument zu beherrschen und die, zwei Kinder gezeugt zu haben, sondern als ganz konkrete Identitäten von Eigenschaften, nämlich die des Musikers und die des Vaters. Der Unterschied dieser Betrachtungsweise zum obigen Beispiel ist in der Definition begründet: Wir haben es hier tatsächlich mit einer Art multipler Persönlichkeit zu tun, die natürlich normalerweise nicht dem psychiatrischen Krankheitsbild einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung unterliegt, solange Herr Soundso zu unterscheiden vermag, in welcher Situation welche seiner Identitäten anzuwenden ist: zuhause der Familienvater und im Orchester der Musiker. Wir haben es zunächst also mit zwei unterscheidbaren Identitäten zu tun, die sich im Alltagsleben in aller Regel relativ einfach unterscheiden lassen: Sie sind, je nach Situation, in Raum und Zeit voneinander abstrahiert. Und es ist das Bewusstsein, das diese Unterscheidung ohne größere Probleme bewältigen kann. Weshalb das Bewusstsein eine so komplexe Aufgabe zu bewältigen vermag, das werden wir später noch sehen.

 

Zunächst müssen wir uns noch einmal vor Augen führen, wie seltsam eine solche Überlagerung von unterscheidbaren Identitäten tatsächlich ist, wenn wir den Begriff der Identität mit der einer Logik gebührenden Präzision auswerten: Angenommen, es existieren zwei unterscheidbare Objekte, nennen wir sie A und B, die aufgrund ihrer Existenz jede für sich eine eigene Identität besitzen. Nehmen wir weiter an, diese beiden Objekte vereinigen sich zu einer integrierten Identität AB, so müssen wir verstörenderweise Folgendes feststellen:

1. Die Objekte A und B sind unterscheidbar. Es existiert ein Raum, in dem sich beide Objekte voneinander abstrahieren.

2. Die Objekte A und B sind identisch. Sie kollabieren zu einer integrierten Identität AB.

3. Es existiert ein Raum, in dem sich die kollabierte Identität AB von den nackten Identitäten A und B abstrahiert.

Eine Konstruktion dieser Art hört sich nicht sehr sinnvoll an, aber entscheidend dabei ist, dass eine solch seltsame Identität konstruierbar ist, also halten wir folgende Beobachtung fest:

Beobachtung: Zwei oder mehrere bestimmte Objekte können (in Identität/Superposition) sowohl identisch wie auch nicht-identisch sein.

Hier die Definition dieser seltsamen Identität:

Definition (der 3. Identität): Die integrale Gesamtheit der Superposition zweier oder mehrerer Identitäten sei als S-Identität bezeichnet.

Wenn A und B sowohl unterscheidbar wie auch identisch sind, was in der Standardlogik durch kein Mittel auswertbar ist, dann haben wir es bei einer S-Identität mit nichts geringerem als einem amtlichen Paradoxon zu tun: Wenn A identisch mit B ist, dann ist es in dieser Lesart identisch mit B, also nicht mit A. Aufgrund der Identität gilt die Umkehrung genauso: Wenn B identisch mit A ist, dann ist es identisch mit A, jedoch nicht mit B. Und: Es gilt eine äquivalente Argumentation im Vergleich von AB mit A oder B.

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