Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet

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In extremen Fällen kann die oft überaus mühsame, vielleicht auch schmerzhafte Geburt eines eigenen Werkes in der Wahrnehmung des Urhebers sogar die menschliche Geburt übertreffen. So schrieb der Naturphilosoph, Mathematiker und Astronom Johannes Kepler (1571-1630) anlässlich der Geburt eines seiner Kinder: „Gerade als ich mich mit der Quadratur meines Ovals beschäftigte, kam mir ein ungelegener Gast durch eine Geheimtür ins Haus, um mich zu stören.“ Und Albert Camus bezeichnet die eigenen Kinder in seinen Tagebüchern als seine „Nebenwerke“. Die Hauptwerke blieben seine Bücher.

Der französische Philosoph Denis Diderot (1713-1784) schrieb im 18. Jahrhundert: „Die Nachwelt ist dasselbe für den Philosophen, wie das Jenseits für einen Gläubigen.“ Im Verständnis Diderots will der Philosoph ebenso wie der Künstler bleibende Werke erschaffen. Wie Gläubige tradieren Philosophen und Künstler dabei ihr eigenes Ich. Während Eltern in ihren Kindern ein Stück weit überdauern und Gläubige darauf spekulieren, im Jenseits in Form einer göttlich-transzendenten Wandlung fortzubestehen, hoffen tugendhafte Menschen darauf, mit ihrem „Lebenskunstwerk“ im Sinne Senecas als Vorbilder fortzuleben. Künstler und Philosophen streben hingegen danach, in ihren erschaffenen Werken unsterblich zu werden.

In der technisch und wissenschaftlich hoch entwickelten Welt des aufgeklärten und industrialisierten Westens sind es immer öfter aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen und Entdeckungen sowie technische Errungenschaften, die einen Moment der Transzendenz ganz im Sinne Diderots schaffen können. Einer der einflussreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein (1879-1955), meinte denn auch, dass ihm seine wissenschaftlichen Studien einen tiefen Lebenssinn gaben. Sie verliehen ihm „innere Freiheit und Sicherheit“ und vermittelten einen „Gefühlszustand, der […] dem eines religiösen oder verliebten Menschen ähnlich ist“. Einstein empfand das Glück, das „geistige Generativität“ spendet. Er fühlte sich tief eingebunden in die Zusammenhänge der Welt.

Die sinnstiftende Wirkung „geistiger Generativität“ tritt aber nicht nur ein, wenn man selbst gestaltend tätig ist, sondern bisweilen auch dann, wenn man sich mit den überwältigenden Werken menschlicher Vorfahren auseinandersetzt. Man kann Sinn also auch durch den bewussten Einsatz seiner Sinne empfinden. Die Sinne schaffen dabei eine Verbindung zur Vergangenheit, die in einer Ballade Fontanes genauso zum Ausdruck kommen kann wie beispielsweise in der Musik eines Mozart, dem Gemälde eines Caravaggio oder der Skulptur eines Donatello. Anhand jener unsterblicher Momente, die als Ausdruck einer überpersönlichen Wahrheit einer tiefen Weltenseele entsprungen zu sein scheinen, kann der Einzelne eine Verschmelzung mit einem größeren Ganzen spüren und so etwas wie wahrhaftes inneres Glück empfinden.

III.

Die Kraft des Glaubens
Oder: Wie Hiob wieder glücklich wurde
Glaube tut gut

Eine der bekanntesten Geschichten der Bibel findet sich im alttestamentarischen Buch Hiob.

Der treue Glaubensdiener Hiob bekommt darin eine Schreckensnachricht nach der anderen – die sprichwörtlich gewordenen „Hiobsbotschaften“. Er erfährt, dass seine Ernte ausfällt, seine Schafe und Kamele von einem marodierenden Stamm geraubt und seine Knechte erschlagen wurden. Kaum hat er die schier unglaublichen Meldungen mit Entsetzen vernommen, kommt es noch schlimmer: Ihm wird gemeldet, dass alle zehn seiner Kinder bei einem Unfall ums Leben kamen. Doch auch damit nicht genug: Hiob selbst befallen schlimme Krankheiten. Am ganzen Körper wachsen ihm Geschwüre.

Seine Frau ruft Hiob angesichts all des unverdient erlittenen Leids schließlich auf, vom Gottesglauben abzufallen. Doch Hiob widersteht der Versuchung, tadelt seine Frau und bleibt dem Glauben treu. Zwar bekommt auch er im Laufe der Geschichte immer wieder Zweifel. Er versteht nicht, warum Gott ihn, der doch stets vorbildlich lebte und handelte, derart strafen will. Verzweifelt klagt er Gott an. Aber er fällt zu keiner Zeit von seinem Glauben ab. Selbst im Moment größter seelischer Not sagt er: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen.“ (Hiob 19, 25-26)

Sein Glaube gibt ihm Hoffnung und ermöglicht es ihm letztlich, schier unmenschliches Leid zu ertragen. Irgendein Sinn wird hinter all dem schon stehen, scheint er sich trotz allen Zweifels zu denken. Daher weiß Hiob tief in sich, dass am Ende alles gut werden wird.

Hiob empfindet in seinem Elend natürlich kein Glück. Aber seine Haltung ermöglicht es ihm, größtes Unglück zu ertragen. Der Glaube trägt ihn. Er trägt ihn durch all das unvorstellbare Leid. Er trägt ihn so lange, bis sich das Blatt wieder zu wenden beginnt. Und so erfährt Hiob nach langen düsteren Jahren wieder reichen Segen. Er wird gesund, bekommt mehr Schafe, Kamele und Rinder als je zuvor, zeugt zehn schöne und glückliche Kinder, und stirbt erfüllt und glücklich im Alter von 140 Jahren.

Am Beispiel des Hiob wird die Kraft des Glaubens bildhaft dargestellt. Durch den Glauben an eine höhere Macht kann der Mensch eine Verbindung zu etwas Größerem herstellen, das sich außerhalb der eigenen Person befindet. Die individuellen Befindlichkeiten, Schwächen und Ängste erscheinen im Angesicht dieses unermesslich Großen plötzlich gar nicht mehr so schlimm. Oder sie bekommen eine tiefere, der menschlichen Erkenntnis nicht unmittelbar erschließbare Bedeutung. Jede noch so düstere Phase scheint lediglich eine notwendige dunkle Schraffur in dem insgesamt prachtvollen Gesamtkunstwerk des Lebens darzustellen, das jedoch nur aus göttlicher Perspektive zu erkennen ist. Menschliches Unglück hat demnach einen Sinn, bleibt dem beschränkten Menschen in seiner Sinnhaftigkeit aber verborgen.

Der Glaube verbindet somit die bereits beschriebenen Sinn-Ebenen. Er gibt ein klares Ziel vor und schafft einen größeren, einen geradezu überzeitlichen und übermenschlichen Zusammenhang. Daher scheint es gläubigen Menschen tatsächlich oft leichter zu fallen, Krisen zu durchstehen. Sie richten ihre Gedanken auf etwas, das jenseits des eigenen Ichs liegt und finden daher etwas, das dem reinen Egoisten stets verborgen bleiben muss: einen grundlegenden, inneren Frieden.

Von dem pazifistischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi (1869-1948), der sich bei seinem unermüdlichen Einsatz für die Rechte von Minderheiten in Südafrika und für die Unabhängigkeit Indiens zahllosen Extremsituationen ausgesetzt sah, schlimme Anfeindungen erlebte, inhaftiert wurde und in Hungerstreik trat, ist der Ausspruch überliefert: „Ohne meinen Glauben wäre ich schon längst verrückt geworden.“

Auch der deutsche Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), der von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Flossenbürg deportiert und getötet wurde, sagte: „Im Glauben kann ich alles ertragen.“

Psychologische Untersuchungen zeigen, dass tief gläubige Menschen tatsächlich seltener an Depressionen oder Stresskrankheiten leiden, außerdem mit Verlusten besser fertig werden.

Der einflussreiche Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, C.G. Jung (1875-1961) schrieb bereits in seinem 1933 erschienen Buch „Modern Man in Search of a Soul“: „Unter all meinen Patienten, die in der zweiten Lebenshälfte stehen, also über 35 Jahre alt sind, gab es nicht einen, dessen Problem nicht letzten Endes darin bestand, einen Glauben zu finden. Man kann mit Gewissheit sagen, dass jeder von ihnen erkrankte, weil er verloren hatte, was jede lebendige Religion ihren Anhängern schenkt; sie konnten erst als geheilt betrachtet werden, wenn sie ihren Glauben gefunden hatten.“

Dennoch spielten Spiritualität und Glauben lange keine Rolle in den harten Wissenschaften. Die renommierte Wissenschaftsjournalistin Jo Marchant schreibt, dass es bis vor wenigen Jahren sogar als „Anti-Laufbahn“-Faktor galt, sich als Naturwissenschaftler mit Themen der Religion zu befassen. Doch seit einigen Jahren wendet sich das Blatt. Auch in der sogenannten Schulmedizin besteht seit einigen Jahren ein reges Interesse an Religion und Spiritualität als Heilmethode für psychische, aber zunehmend auch körperliche Leiden. Marchant fasst zusammen: „In wichtigen medizinischen und psychiatrischen Zeitschriften sind Tausende von Studien zu diesem Thema erschienen und medizinische Hochschulen in den USA bieten regelmäßig Kurse über Religion, Spiritualität und Gesundheit an.“

Ausgehend von der Erkenntnis, dass Glaube die geistigen und körperlichen Abwehrkräfte stärkt und besonders gut durch Krisen trägt, geht der ägyptische Psychologieprofessor Ahmed M. Abdel-Khalekin in über 20 Büchern immer wieder auch auf den direkten Zusammenhang von Glaube und Glück ein. Er zeigt, dass Menschen, die an eine höhere Macht oder ein über Leben und Tod hinausgehendes Weltmodell glauben, nicht nur besser durch Krisen kommen, sondern sich auch im Alltag als glücklicher wahrnehmen.

In der Bibel heißt es hierzu: „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.“ (Psalm 62, Verse 2 und 3). Und im Koran steht geschrieben: „Im Gedenken Allahs finden die Herzen Ruhe!“ (Sure 13, 28).

Moderne Erklärungsansätze für Glaubensglück

Sigmund Freud war sicher einer der Ersten, der den Glauben an Gott oder an göttliche Kräfte rein psychologisch begründete. Der Mensch ist ihm zufolge mit einem ausgesetzten, streunenden Tier vergleichbar. Dieses Tier ist jedoch zu einem eigenen Selbstbewusstsein erwacht und sich somit seiner Sterblichkeit und der Absurdität seines kurzen Daseins auf Erden bewusst. Halt und Trost scheinen sich angesichts dieser Ungeheuerlichkeit im irdischen Rahmen allein nicht finden zu lassen. Der menschliche Geist beginnt daher, seine Existenz in einen größeren, einen übermenschlichen Zusammenhang einzuordnen.

 

Vor allem untersuchte Freud die ihm vertrauten, das heißt die monotheistischen Glaubensmodelle, die auf einen Schöpfergott gerichtet sind. Speziell ihr Zustandekommen begründete er mit dem Wunsch des Menschen, lebenslänglich Kind zu bleiben. Auch der Erwachsene wolle die wohligen Gefühle seiner Kindheit konservieren. Indem er einen höheren Vater erschafft, kann er weiterhin zumindest einen Hauch frühkindlicher Geborgenheitsgefühle bewahren: Der übermenschliche Vater ist schließlich immer da.

Der Anthropologe Lionel Tiger und der Neurologe und Psychiater Michael Mc Guire führen in ihrem gemeinsam verfassten Buch „God’s Brain“ anhand wissenschaftlicher Studien vor, dass Freuds philosophische Einsichten tatsächlich auch in messbare Fakten umgedeutet werden können. So untersuchten sie Menschen, die tief gläubig waren und auch regelmäßig religiöse Rituale vollzogen. Bei diesen Gläubigen ließ sich im Hirn ein erhöhter Serotoninspiegel messen.

Das bereits beschriebene „Zufriedenheitshormon“ Serotonin, hat eine starke Wirkung auf die Stimmungslage. Es gibt dem Menschen das Gefühl von Gelassenheit, Geborgenheit, innerer Ruhe und Zufriedenheit, während gleichzeitig Angstgefühle, Kummer, auch Aggressivität oder Hungergefühle gemindert werden. Depressive Verstimmungen lassen sich häufig auf einen Mangel an Serotonin zurückführen. Lionel Tiger folgerte aus der Erkenntnis seiner Studien: "Kirchen, Tempel, Moscheen sind im Grunde Serotonin-Fabriken". Oder mit anderen Worten: Sie sind Glücks-Fabriken!

Auch eine Studie von Psychologen der University of Iowa bestätigte diese Erkenntnis. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Menschen, die regelmäßig in die Kirche gingen, niedrigere Stresspegel hatten und einen geringeren Anteil des Entzündungsmarkers Interleukin-6 im Blut nachwiesen.

Sie ermittelten weiterhin, dass die gläubigen Kirchgänger nicht nur glücklicher waren, sondern dass sie auch länger lebten als eine ungläubige Vergleichsgruppe. Das hohe Alter, das der biblische Hiob letztlich erreichen sollte, steht somit durchaus im Einklang mit neuesten Forschungsergebnissen.

Welche Aspekte es genau sind, die jene Serotonin-Flut auslösen und daher beglückende Wirkung haben, ist jedoch nicht letztgültig geklärt. Vielleicht ist es, entsprechend der Erkenntnis Freuds, das Empfinden, mit einer göttlichen Macht stets jemanden hinter sich zu wissen, der aufpasst.

Wie der frühere Papst Benedikt XVI. (geb. 1927) in der Predigt der Messe zu seiner Amtseinführung sagte, ist schließlich nie allein, wer glaubt. Gott ist immer irgendwie dabei.

Aber auch die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen kann eine Rolle spielen.

Vielleicht sind aber auch ganz andere, nur indirekt vom Glauben abhängige Aspekte von Bedeutung, wie z.B. die wohltuende Gewohnheit vertrauter Rituale oder die körperliche Bewegung, die ja allein schon beim Weg zur Kirche, zur Meditationsstätte, dem Tempel oder der Moschee vollzogen wird.

Auch die positive Heilserwartung streng gläubiger Menschen könnte wohltuend wirken. Die freudige Erwartung des göttlichen Segens, vielleicht auch von einem paradiesischen Jenseits, könnte eine erhöhte Dopaminproduktion bedingen. Das Wissen um die zuverlässig wiederkehrenden, wohltuenden Euphorie-Momente, könnte wiederum eine fröhliche Grundgelassenheit zur Folge haben.

Die Tatsache, dass der Glaube an eine gütige göttliche Macht dem Einzelnen psychologisch und auch körperlich gut tut, wird inzwischen jedenfalls kaum noch von einem Neuro-Wissenschaftler bestritten.

Dennoch wurde und wird der Glaube oft auch zu einer Bedrohung und damit zu einem Moment tiefen Unglücks.

Die Gefahr des Glaubens

Gemäß einem Diktum des Historikers und Philosophen Philipp Blom (geb. 1970) haben „ungebildete Geister eine Art Glauben als existentielle Krücke“ immer wieder benutzt, um mit dieser Krücke Andersdenkende kurzerhand zu erschlagen. In der Tat ist es naheliegend, dass ein Mensch, der in seinem Glauben so etwas wie Sinn und Halt gefunden hat, in jedem Andersdenkenden eine Bedrohung für seine wohltuende Weltanschauung erkennt.

Wie so oft liegen Glück und Unglück hier also gefährlich nahe beisammen. Glaube ist nie beweisbar und daher immer leicht anzugreifen. Oftmals erkennen Gläubige die einzige Chance zur Behauptung ihrer Wahrheit darin, Andersgläubige zu unterdrücken oder gar zu töten. Glaubenskriege und missionarisch begründete Feldzüge waren daher oft besonders brutal und sind auch heute noch Grund für viel äußeres Unglück.

Neben der Angst davor, den eigenen Glauben und damit den tieferen Lebenssinn zu verlieren, kann sich bei streng gläubigen Menschen jedoch noch eine andere Art von Angst bemerkbar machen: Die Angst vor dem strafenden Gott! Diese kann in besonders schlimmen Fällen krankhafte Formen annehmen. In medizinischen Fachkreisen wird von „ekklesiogener Neurose“ oder „religiös bedingten neurotischen Erkrankungen“ gesprochen. Gerade wenn Kinder sehr stark mit der Idee eines strafenden Gottes konfrontiert werden, besteht die Gefahr, dass sich Neurosen entwickeln. Wenn glaubhaft dargestellt wird, dass ein übermächtiger Gott alles sieht, jede noch so kleine Sünde erkennt und dann eines Tages gnadenlos bestraft, können tiefe Angstzustände ausgelöst werden. Panisch versuchen die neurotischen Gläubigen, jeder menschlichen Freude, jedem Genuss zu entsagen. In schlimmen Fällen droht eine totale Lähmung aus Angst vor einer versehentlich begangenen Sünde.

Gott als überwachende und strafende Institution zu interpretieren und diese Interpretation möglichst glaubwürdig zu vermitteln, erleichtert es natürlich, Menschen zu erziehen. Aus Angst vor der göttlichen Strafe versucht schließlich jeder, der wahrhaft an einen strafenden Gott glaubt, die vermeintlich göttlichen Lebensregeln zu befolgen. Und so verwundert es nicht, dass im Laufe der Geschichte gerade die Mächtigen den Glauben oft für sich instrumentalisierten. Schon der Gründervater der modernen Machtpolitik, Niccolò Machiavelli weist darauf hin, dass Menschen mit den Mitteln der Religion besonders gut zu lenken sind. Für ihn lag der politische Erfolg des Römischen Reichs darin begründet, dass die Römer die Religion meisterhaft zu bedienen wussten. Er folgert daraus, dass die Regierenden alles tun sollten, die Religion als Machtinstrument zu fördern, „auch wenn sie es für falsch halten“.

Auch höchste Vertreter der christlichen Kirche benutzten das Bild eines strafenden Gottes immer wieder dazu, Menschen in ihrem Sinne zu lenken, ihre Macht zu festigen, auszubauen und sich selbst nebenbei zu bereichern. In weiten Teilen des Mittelalters gaben gerade die Ärmsten oft ihren letzten Groschen dafür, den Vorfahren und sich selbst das imaginierte Fegefeuer zu ersparen. In Pracht und Reichtum schwelgende Kirchenvertreter schürten die Gottes-Ängste der Bevölkerung und horteten eifrig die empfangenen Groschen. In den meisten Fällen stand wahrscheinlich nicht allein kaltes Kalkül hinter dem kirchlichen Tun. Selbst die skrupellosesten Ablasshändler dürften vielmehr an die Richtigkeit ihres Vorgehens geglaubt haben. Menschen tendierten immer schon dazu, die Wahrheit nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Die des Lesens und Schreibens nicht mächtigen und daher völlig ungebildeten Mehrheiten des europäischen Mittelalters hatten allerdings noch nicht einmal die Chance, die vorgeblichen Wahrheiten ihrer Lebenswelt zu hinterfragen.

Ab dem frühen 16. Jahrhundert machte sich jedoch der schon im letzten Kapitel angesprochene Wandel breit. Infolge von Buchdruck, Luther‘scher Bibelübersetzung und protestantischer Bildungsinitiativen (die vor allem auch das Ziel hatten, möglichst viele papst-kritische Bibelleser zu schaffen) konnten sich Gläubige zunehmend ihr eigenes Bild von den religiösen Zusammenhängen machen. Indem immer mehr Menschen lesen und schreiben lernten, verfeinerte sich auch die Fähigkeit, sich in fremde Gedanken einzufinden. Wer liest, sieht die Welt schließlich immer aus der Perspektive eines anderen. Die Gedankenvielfalt und das Abstraktionsvermögen nehmen zwangsläufig zu.

Somit begann ein nachhaltiger Prozess der menschlichen Emanzipation von der kirchlichen Vorherrschaft, der schließlich zur europäischen Aufklärung führte. Einzelne Aufklärer schlugen nun erstmals Atheismus als neues Heilsversprechen vor. So schrieb beispielsweise der französische Philosoph Paul Thiry d’Holbach (1723-1789), dass Religion den „Gebrauch von Vernunft“ verbiete, somit die menschliche Weiterentwicklung hindere und daher abgeschafft werden müsse.

Letztlich mündete diese Entwicklung in der 1882 gestellten, berühmten Diagnose Friedrich Nietzsches, wonach Gott tot sei. Nietzsche meinte damit, dass eine einheitliche Glaubenslehre nicht mehr existiere und es damit auch keine letzte Wahrheit mehr geben könne. Er wies in gewissem Sinne den Weg in die Postmoderne der Gegenwart, in der es so viele Wahrheiten wie Menschen zu geben scheint.

Die kritische Distanz zur Religion hat viele Vorteile gebracht. Zumindest in der westlichen Welt gibt es kaum noch „„ekklesiogene Neurosen“. Auch religiös bedingte Kriege oder religiös motivierte Anschläge sind im historischen Vergleich selten geworden – weswegen sie allerdings umso fassungsloser zur Kenntnis genommen werden.

Zugleich ist allerdings ein neues, vordergründig vielleicht weniger bedrohlich anmutendes Problem erwachsen. Die Nachfahren des „toten Gottes“ der Weltreligionen sind nämlich zahlreich und stiften in ihrer Vielfalt Verwirrung. Es wurde schon angesprochen, dass ein regelrechter Konkurrenzkampf verschiedener Glaubensangebote tobt. Neben den alten Weltreligionen haben sich zahllose „Patchworkreligionen“ entwickelt, die verschiedene Elemente in sich vereinen. Auch jeder vorgeblich individuelle Glaube fußt natürlich auf Erfahrungen aus der Umgebung und orientiert sich immer an bekannten Glaubensmustern. Inzwischen begegnen daher immer öfter sonderbarste Glaubenskonstruktionen, die sich aus Elementen verschiedenster bestehender Religionen zusammensetzen. Gerade aus Buddhismus, christlicher Mystik, islamischem Sufismus und jüdischer Kabbala werden in der Gegenwart gerne Anleihen genommen und im Sinne des Zeitgeists angewendet.

Es wird somit immer schwerer, zu einem wahrhaft glaubwürdigen Glauben zu finden. Glaube wird immer mehr zum Teil eines marktwirtschaftlichen Systems. Ein Glaubensmodell muss, will es heute Erfolg haben, vor allem den individuellen Wünschen möglichst vieler Menschen entsprechen. Statt wie über Jahrtausende ein Korrektiv des schier grenzenlosen menschlichen Egos darzustellen, wird der Glaube damit zu einem weiteren Spielball eben jenes Egos.

Indem immer mehr Religionen versuchen, sich marketingtechnisch gut zu inszenieren, werden sie zugleich beliebig. Sie erscheinen ihrerseits als Fluidum im endlosen Weltenmeer. Ihre Absolutheit, Erhabenheit und Unbedingtheit geht verloren. Indem selbst Religionen plötzlich genauso relativ wie alles andere erscheinen, verlieren sie ihren ur-eigenen Wert. Sie sind eben kein Fels in der Brandung mehr. Sie verkommen ihrerseits zu bedeutungslosen Wellen, die dem Sturm der Zeit hilflos ausgeliefert sind.

In der Gegenwart werden alternative Glaubens- und Religionsangebote oft als Wellnessprogramm verstanden. Den angeblich überkommenen Weltreligionen wird hingegen immer öfter vorgeworfen, zu wenig Wellness zu beinhalten.

Und so scheint sich jeder das Glaubensmodell zu suchen, das unmittelbar die beste Wirkung zeitigt, in Einklang mit den individuellen Wünschen und Bedürfnissen zu bringen ist und kurzfristige Wohlfühlmomente generiert. Sobald einzelne Elemente dieses Glaubensangebots nicht mehr gefallen, wird kurzerhand ein neues gesucht. Die Wirkung der Religion verkehrt sich somit ins Gegenteil: Statt innerer Ruhe bringt sie Stress. Man könnte ja das ideale Glaubensangebot übersehen und seine Wirkung verpassen! Man hangelt sich von Angebot zu Angebot, wandert von Priester zu Guru und zurück, reist ins Schweigekloster nach Burma, tanzt mit Sufis in der Türkei oder pilgert während des Sommerurlaubs nach Santiago de Compostela.

Der postmoderne Mensch ist auf der Suche, doch er weiß nicht, was er sucht. Der Bezugspunkt liegt nicht mehr außerhalb des Menschen, sondern in seinem Inneren. Er will unmittelbare Befriedigung. Bekommt er sie nicht, ist das als falsch erkannte spirituelle Angebot eben schuld. Das volle und bedingungslose Aufgehen in einem Glauben ist angesichts der Einsicht in ihre Relativität kaum noch möglich. Der Zweifel ist von vornherein so stark, dass bei einem ersten Moment des Unbehagens sofort auf andere spirituelle Angebote zurückgegriffen wird. Die glücksspendende Kraft des Glaubens versiegt. Immerhin verdienen viele Sekten, Gurus und Heilsverkäufer aller Art viel Geld mit ihren angebotenen Wellnesskuren in Sachen Glaube.

 

Immer mehr Menschen wenden sich jedoch gänzlich von jeder Form von Religion ab. Ihre Glaubensmodelle sind nur noch rein naturwissenschaftlicher Art. Sie glauben nicht mehr an eine höhere Macht oder eine tiefere spirituelle Kraft, sondern einzig an einen großen, mehr oder weniger gut nachvollziehbaren Zufall in Form eines Urknalls, der zu einer mechanisch funktionierenden Welt aus logisch ableitbaren und daher erklärbaren Ursache- und Wirkungszusammenhängen führte.

Daher treffen die Thesen des renommierten Evolutionsbiologen Richard Dawkins (geb. 1941) auf einen reichen Nährboden. Für Dawkins ist Glaube intellektueller Unsinn, der vornehmlich eine Bedrohung für den Menschen darstellt. Erziehung im Sinne einer Religion bezeichnet Dawkins als Kindswohlgefährdung. Sie stelle stets eine Indoktrination dar, die Grundlage für potentiellen Fanatismus sei und bleibende psychische Schäden bedingen könne.

Er und viele, die bewusst oder unbewusst in seinem Sinne leben, übersehen dabei die glücksstiftende Kraft wahrhaften Glaubens. Zudem scheinen sie nicht zu bemerken, dass auch eine atheistische Erziehung eine Indoktrination darstellt. Auch ihre Anschauung ist letztlich eine Form von Glaube: der Glaube an die aktuelle Wissenschaft. Zu glauben, dass der heutige Wissensstand allgemeingültig ist, muss jedoch als naiv gelten. Wahrscheinlicher ist eher, dass Menschen in Zukunft ähnlich amüsiert auf die Glaubenswahrheiten unserer Gegenwart zurückblicken werden, wie wir auf einige der Glaubenswahrheiten unserer Vorfahren schauen.

Die wohltuende Kraft des Glaubens an eine göttliche Wahrheit bleibt somit jedenfalls immer mehr Menschen der modernen Welt des Westens verborgen. Statt „ekklesiogener Neurose“ oder „religiös bedingten neurotischen Erkrankungen“ begegnen daher immer öfter spirituelle Leere und Depression.

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