Hermann Lauscher

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In meinem dritten Schuljahre hatte ich eines Tages einem armen Handwerker in unserer Straße mit meiner Schleuder ein Fenster eingeworfen. Der Mann lief zu meinem Vater, erzählte ihm meine, wie er glaubte, absichtlich begangene Tat und fügte noch hinzu, daß ich auch außerdem ein Tunichtgut und Straßentyrann wäre. Als am Abend mein Vater mir dies alles wieder berichtete und auf ein Geständnis drang, war ich über den Ankläger so empört, daß ich auch den unbestreitbar geschehenen Fensterschuß hartnäckig leugnete. Ich wurde ungewöhnlich hart gezüchtigt und glaubte nun vollends meinen Trotz nicht brechen lassen zu dürfen. So verhielt ich mich einige Tage scheu und feindselig, während mein Vater schwieg und ein Schatten auf dem ganzen Hause lag. In diesen Tagen war ich unglücklicher als jemals vorher. Nun mußte mein Vater für eine Woche verreisen. Als ich an jenem Tag aus der Schule kam, war er schon abgereist und hatte ein Brieflein für mich dagelassen. Nach Tisch begab ich mich in die oberste Bodenkammer und öffnete den Brief. Ein schönes Bild fiel heraus, und ein Zettel von der Hand des Vaters:

„Ich habe dich für ein Vergehen gestraft, das du nicht gestanden hast. Hast du die Sache dennoch begangen und mich also angelogen, wie soll ich dann noch mit dir reden? Ists anders, dann habe ich dich mit Unrecht geschlagen. In einer Woche, wenn ich wiederkomme, sollte doch einer von uns dem andern verzeihen können.

Dein Vater.“

Den ganzen Tag lief ich beklommen und erregt mit dem Zettel in Haus und Garten herum. Dieses Wort von Mann zu Mann erfüllte mich mit Stolz und Reue und traf mich im Herzen, wie kein anderes Wort es hätte können. Am nächsten Morgen kam ich mit dem Blatt ans Bett meiner Mutter, weinte und fand keine Worte. Darauf ging ich im Hause umher wie nach einer langen Abwesenheit, alles war so alt und neu, war mir wiedergeschenkt und von einem Bann erlöst. Abends saß ich seit langer Zeit zum erstenmal meiner Mutter zu Füßen und hörte sie erzählen wie in den Kleinkinderjahren. Es kam so süß und mütterlich von ihrem Munde, aber was sie erzählte, war kein Märchen. Sie sagte mir von Zeiten, da ich ihr fremd geworden sei, und wie da ihre Angst und Liebe mich begleitete; sie beschämte und beglückte mich mit jedem Wort, und dann redeten wir beide mit Namen der Liebe und Ehrfurcht von meinem Vater und freuten uns mit Sehnsucht auf seine Heimkehr.

Der Tag seiner Zurückkunft war zugleich der letzte Tag vor meinen Sommerferien und vollendete so mein Glück. Nach einer kurzen Unterredung kam der Vater mit mir aus seinem Studierzimmer hervor und führte mich der Mutter zu, indem er sagte:

„Hier hast du unseren Buben wieder, Mama. Er gehört seit heute wieder mir.“

„Mir schon seit einer Woche!“ rief sie lächelnd dagegen, und wir saßen fröhlich zu Tische.

Die mit diesem Tag beginnende Ferienzeit liegt in meinen Schuljahren wie ein umzäunter, grüner Garten. Tage voll Sonne, Abende mit Spiel und Geplauder, Nächte festen Schlafs mit gutem Gewissen! Jeden Abend wanderte mein Vater Hand in Hand mit mir in einen Steinbruch, der eine halbe Stunde weit vor der Stadt lag. Dort bauten wir Häuser und Höhlen, schleuderten Steine nach dem Ziel und hämmerten nach Versteinerungen.Auf dem Rückweg tranken wir Milch und aßen Brot in einem Meierhof und verzichteten darauf stolz auf das mütterliche Abendessen, die Mutter mit allerlei Geheimnissen neckend und uns jedes Meisterwurfes und jedes gefundenen Rötels oder Glitzersteines rühmend. Mein Vater erwies sich als Pfadfinder, Jäger, Scheibenschütz und Erfinder. Halbe Tage wanderten und ruhten wir in Wiesen und an Waldabhängen, ganz mit uns allein, einen Brotlaib in der Tasche, Wege entdeckend und Pflanzen sammelnd, und ich spürte etwas davon, daß mein Vater seine eigene Jugend wieder aufsuchte und sich seiner erfrischten Brust und seiner geröteten Wangen erfreute, denn er war von zarter Gesundheit und wurde viel von Kopfschmerzen und anderen Leiden heimgesucht. Nun wanderten wir wie zwei Knaben miteinander, schnitten Lanzen, ließen Drachen steigen, gruben im Garten und zimmerten im Hofraum allerlei Gerät und Kasten zusammen.

In dieser Zeit etwa begann mein Ohr zu erwachen und meine Phantasie sich mit Melodien zu beschäftigen. Ich liebte es, in Freistunden zum Münster zu gehen und mich durch das Tor zu schleichen, um das Spiel des Organisten zu hören, der stundenlang dort sich seiner Kunst erfreute. Ich summte und sang auf dem Schulweg, im Garten, sogar im Bette, und prägte mir viele Choräle und Liedermelodien frühe ein.

Und mit neun Jahren, an meinem Geburtstage, schenkten mir die Eltern eine Geige. Von diesem Tage an ist das hellbraune Geiglein auf allen Fahrten mit mir gegangen, viele Jahre lang, und von diesem Tage an hatte ich ein Abseits, eine innere Heimat, eine Zuflucht, wo seither unzählige Erregungen, Freuden und Kümmernisse sich versammelten.

Der Lehrer war mit mir zufrieden. Mein Gehör und Gedächtnis war scharf und peinlich treu, und allmählich zeigte sich im Lauf der Lehrjahre das, was den Geiger macht, der feste, fähige Arm, das freie Gelenk, die ausdauernden, kräftigen Finger.

Fürs erste erwies sich leider die Musik als ein unerwartetes Übel, denn sie nahm mich fast völlig gefangen und verleidete mir den Schülerfleiß. Dagegen lenkte sie meinen Ehrgeiz und meine Knabenwildheit von den gröberen Spielen und Freveln ab, sie milderte meine Hitze und Leidenschaft, sie machte mich schweigsam und verträglich. Ich wurde keineswegs zum Geiger erzogen, mein Lehrer war sogar ein Dilettant, daher war der Unterricht mir ein Vergnügen und zielte weniger auf strenge Übung und Präzision, als auf ein baldiges Etwaskönnen. Der erste Choral, zum Geburtstag der Mutter gespielt, war ein festliches Ereignis. Und alsdann die erste Gavotte, die erste Haydnsonate! Ich war selber voll Freude und Eitelkeit, aber allmählich spürte meine Natur doch einen Mangel, so daß ich vor einem gewissen flotten Strich, einer Dilettantenverve gefährlicher Art, bewahrt blieb. Die Schule ging neben dem her und behielt für mich alle die Jahre bis zum vierzehnten hindurch die Schwüle einer Zwangsanstalt. Wie viel von meinen Leiden und meiner Verbitterung, neben meinen eigenen Fehlern, der ganzen Erziehungsart zur Last fällt, kann ich nicht urteilen; aber in den acht Jahren, welche ich in den niederen Schulen zubrachte, fand ich nur einen einzigen Lehrer, den ich liebte und dem ich dankbar sein kann. Wer die Kindesseele ein wenig kennt und selber einen Rest ihrer Zartheit sich bewahrt hat, der kennt das Leiden, dessen ein Schulknabe fähig ist, und zittert noch in Scham und Zorn, wenn er sich der Rohheiten mancher Schulmeister erinnert, der Quälereien, der berührten Wunden, der grausamen Strafen, der unzähligen Schamlosigkeiten. Wahrlich, ich meine nicht die fleißige Rute, deren jeder Knabe bedarf; ich meine aber die Frevel, die an dem Glauben und dem Rechtssinn des Kindes geschehen, die rohen Antworten auf schüchterne Kinderfragen, die Gleichgültigkeit gegen den Trieb der Kindheit nach einer Einigung ihrer stückweise erworbenen Kenntnis der Dinge, den Spott als Antwort auf kindergläubige Naivetäten. Ich weiß, daß ich nicht allein in solcher Weise gelitten habe, und daß mein Unwille darüber und meine Trauer um zerstörte und verkümmerte Teile meiner jungen Seele nicht die Verbitterung eines nervösen Einzelnen ist; denn ich habe von vielen diese Klagen gehört. Ich weiß wohl mit der eigentümlichen Art des Knabenalters zu rechnen, als einer heiklen, problematischen Zeit der Scheidungen, Beschneidungen und Häutungen, voll von schwer verständlichen Erregungen und Exzessen; aber ich kann mich der Trauer und der Anklage nicht enthalten. Die ganze Zeit meines späteren Lebens bin ich mit einer besonderen Vorliebe den kleinen Knaben zugetan gewesen und fand gar oft meine ehemaligen Ängste in errötenden Knabengesichtern wieder.

Es widerstrebt mir, einige dieser Bitternisse aufzuzeichnen, meine Erinnerung irrt in dieser Zeit der verwelkenden Kindheit und erwachsenden Jünglingszeit befangen und bedrückt umher.

Hell und verklärt von Verehrung und Liebe zeigen sich mir die Unterweisungen, die ich in Garten, Feld und Studierzimmer von meinem Vater genoß. Diese schlossen mir die verschwisterten Reiche der Geschichte und der Dichtung auf. Mit gekrönten Königen und geschlagenen Duldern, mit Heerzügen und prachtvollen Städten breitete sich die Geschichte der Griechen aus, und die der Römer mit ruhmbekränzten Siegern, unterjochten Erdteilen und fabelhaften Triumphzügen, neben welcher Pracht und Höhe lange Zeit die Jagden und blutigen Wanderungen der ältesten deutschen Zeit mir wenig Freude machten.

Der freundschaftlich in Frage, Antwort und Erzählung erteilte väterliche Unterricht legte einen guten Grund in mir. Was in der Schulstube und im Mund der Lehrer mir langweilig und peinlich erschien, gewann hier anziehende Formen und schien mir alles ernstlichen Fleißes würdig.

In meiner Klasse pflegte ich, obwohl ich nie ein Lehrerliebling war, meist mich auf den oberen Plätzen zu halten und besonders im lateinischen Unterricht mir gute Zeugnisse zu erwerben. Die lateinische Sprache lernte ich leicht und mit Eifer, sie blieb durch meine Schülerzeit und durch mein Leben mir befreundet und geläufig.

So fand man mich zur Vorbereitung auf den Eintritt in eine schwäbische gelehrte Schule würdig. Das Examen wurde leidlich bestanden. Meine erste Schulzeit war zu Ende und ein sommerlicher Ferienmonat lag vor dem ehrgeizig erstrebten Eingang der gelehrten Klosterpforte.

In diesen Ferien las mir mein Vater zum erstenmal Lieder Goethes vor. „Über allen Wipfeln“ war sein Liebling.

An einem silbernen Abend, im frühen Monde, stand er mit mir auf einem bewaldeten Berge. Wir atmeten vom Steigen aus und schwiegen nach einem ernsten, herzlichen Gespräch vor der Schönheit der mondhellen, stillen Landschaft.

 

Mein Vater setzte sich auf einen Stein, blickte rundum, zog mich zu sich nieder, schlang den Arm um mich und sprach leise und feierlich jenes unergründliche, wunderbare Lied:

Über allen Gipfeln

Ist Ruh.

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch,

Die Vöglein schweigen im Walde,

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

Hundertmal habe ich seitdem diese Worte gehört und gelesen und gesprochen, in hundert Lagen und Stimmungen — die Vöglein schweigen im Walde — und jedesmal befiel mich eine milde, herzlösende Schwermut, und jedesmal senkte ich dabei das Haupt und hatte ein seltsam wehes Glücksgefühl, als kämen die Worte aus dem Munde meines an mich gelehnten Vaters, als fühlte ich seinen Arm um mich gelegt, und sähe seine große, klare Stirn, und hörte seine leise Stimme.

Die Novembernacht.

Eine Tübinger Erinnerung.

(Geschrieben 1899.)

Über Tübingen hing eine schwarze, verwölkte Novembernacht. Sturm und Sprühregen klirrte und zitterte durch die engen Gassen, aufflackernde rote Laternenlichter glänzten trüb auf dem nassen Pflaster wider. Trüb und schwarz mit zwei, drei kleinen roten Fensteraugen lag das alte Schloß wie ein halbschlafendes träges Untier auf seinem langen Hügel, Fetzen von Wolkenschleiern um die spitzen Dächer. In den großen, ernsten Alleen standen die alten Kastanien, Linden und Platanen kahl und hager im Sturm wie eine trübselig standhafte Armee von Greisen. Blätterwirbel trieben über die feuchten Wege, faul und grau lagen die großen Herbstwiesen, an den Rändern da und dort von einer windscheuen Laterne zackig und roh beleuchtet. Der langgezogene, müde Pfiff des letzten Reutlinger Zuges drang vom nahen Bahnhof durch die schwere Luft und paßte mit seinem heiseren, hinsterbenden Geräusch vortrefflich in die Tonart des ganzen Abends.

In den Pausen des Sturmes ward das kühle Rauschen des Neckars laut. Die Ufer lagen tief in graue, traurige Ruhe gehüllt und von den vielen hellen liederlauten Sommerabendfesten war keine leise Spur mehr geblieben, so wenig dem breiten, traurigen Stiftsgebäude noch eine Spur von den zahlreichen, glänzenden Geistern anhing, die darin vor Zeiten schwärmerische, dämmernde Jugendsemester verlebten. Es seien denn einzelne nachklingende, elegische Laute aus der umflorten Harfe des armen Hölderlin. Statt dessen brannte dort die strenge, fleißige Gegenwart in zahlreichen Studierampeln über die ganze Breitseite des Stifts verteilt und glänzte mattrot durch die breiten, niederen Fenster. Dort lagen jetzt Kompendien, Wörterbücher und Texte ohne Zahl vor ernsthaften, jungen Augen aufgeschlagen, Ausgaben des Platon, Aristoteles, Kants, Fichtes, vielleicht auch Schopenhauers, Bibeln in hebräischer, griechischer, lateinischer und deutscher Sprache; vielleicht brütete hinter diesen Fenstern zur Stunde ein junges, philosophisches Genie über seinen ersten Spekulationen, während zugleich ein zukünftiger schwergeharnischter Apologet die ersten Steine seines Trutzgebäudes legte.

Zwei junge Männer, die jetzt von der unteren Neckarbrücke her durch die Platanenallee gegangen kamen, blickten lachend hinüber und zeigten wenig Respekt vor der ernsten zukunftschwangeren Geistesburg. Sie wandelten, in grauen Lodenmänteln, des Regens ungeachtet, langsam durch die stürmende Herbstnacht. „Hast du noch was drin?“ fragte der Kandidat Otto Aber seinen Begleiter, worauf dieser, der Dichter Hermann Lauscher, eine bauchige Benediktinerflasche aus der Manteltasche zwängte und dem Kandidaten reichte.

„Der letzte Schluck!“ rief dieser und schwenkte die Flasche gegen das jenseits des Flusses ragende Stift. „Prosit Stift!“

Er leerte die Bouteille mit einem kurzen Schluck.

„Was machen wir mit dem Scherben?“ fragte Lauscher. „Wir könnten auf die Wache gehen und ihn der lieben Tübinger Stadtpolizei verehren.“

„Was Stadtpolizei!“ lachte Aber. „Da!“ und er schleuderte die Flasche über den Neckar, daß sie an einem Pfeiler des Stiftsbaues zersplitterte. „Jetzt wohin?“

„Ja wohin?“ sagte Lauscher nachdenklich. „In der Steinlach krepiert man am Wein, in der Silberburg ist die Schorschel nimmer da, im Kaiser säuft der Roigel, in der Sonne ists zu voll, im Löwen —“

„Halloh, in den Löwen!“ rief Aber. „Mir fällt ein, daß der Säbelwetzer und der Elenderle heut abend dort sind und die Mensur vom Donnerstag verschwellen. Komm! Übrigens ists ein Sauwetter.“

Der Kandidat zog seinen langen Mantel enger an sich und schlug ein rascheres Tempo an.

„Was rennst du!“ rief Lauscher. „Für uns ist das Wetter lang gut genug. Mir paßt’s so besser, als Lump im Sonnenschein zu spielen. Wenn der Benediktiner nicht ausgepfiffen hätte, wär ich für eine Naturkneipe. Außerdem ist der Säbelwetzer langweilig und der Elenderle wird schon bald wieder am Heulen sein. — Trinken sie Uhlbacher? Dann geh ich nicht mit, der Uhlbacher vom Löwen haßt mich. Aber was versteht ihr von Wein!“

„Weinprotz!“ lachte Aber. „Nein, sie haben eine uralte Moselwette dort stehen, oder Winkler oder was ähnliches. Jedenfalls was besseres. — Dabei fällt mir ein: warum gründen wir eigentlich nichts? Wir vier oder fünf hocken doch ewig zusammen, man könnte den Appenzeller und so ein paar Bierhühner mitlotsen, es gäbe so was wie eine Ausstellung der Zurückgewiesenen.“

„Gründen?“ brauste Lauscher auf, der damals das spätere cénacle noch nicht ahnte. „Lieber werd ich Eremit.“

„Warum nicht gar! Es gäbe ein Kollegium von Ausgetretenen aus allen fashionablen Verbindungen, oder von Rettungslosen aus allen Fakultäten. Der Elenderle würde die Sündenlast der Gesellschaft in Tränen umsetzen, der Säbelwetzer bekäme ein Dauerpaukwams und würde auf alle Waffen für uns losgehen, ich wäre die Bierkommission, du Schrift- und Weinwärtel . . .“

„Und so weiter. Schon gut.“

„Der Appenzeller würde sich unübertrefflich dazu qualifizieren, Mitteilungen und Forderungen der Gesellschaft den Chargierten der Verbindungen zu überbringen. Der Nebukadnezar wäre ein censor morum ohnegleichen. Der Kaißer hat einen Onkel, der Weinberge besitzen soll; der Schnauzer ist reich und dumm —“

„Und dann würden wir eine Kneipe mieten und zweimal in der Woche ‚Altheidelberg‘ und ‚es geht ein Lumpidus‘ miteinander singen. Und Füchse keilen. Und Präsidepauken schwingen. Ich danke.“

„Warum? Wir könnten im Schwarzwälder kneipen und im Komment alle anständigen Lokäler verbieten. Z. B.: Wer im Ochsen oder im Innern der Aula betroffen wird, zahlt eine Mark Buße. Wer fachsimpelt, zahlt zwei Maß . . .“

„Nein, bitte, du fängst wieder an nach Komment zu riechen.“

Die Freunde waren auf der alten Brücke angelangt. Aus der Kneipe der Burschenschaft klang lauter Chorgesang. Der Neckar strömte wild um den breiten Brückenpfeiler, auf dem raschen Wasser glänzten unruhig die Laternenlichter, schwarz und großartig streckte sich die Platanenallee in die Nacht. Vom Turm der Stiftskirche tönte das Stundenhorn, zackig und wechselvoll beleuchtet, stand die malerische Häuserreihe des hohen Neckarufers bis zum alten Stift hinab. Beide Freunde schwiegen, so lange sie über die Brücke gingen. Vielleicht stieg beim Anblick der schönen, nächtlichen Stadt, beim Rauschen des Neckars und Singen der Studenten in beiden das Erinnern an die kaum vergangenen Tage auf, da ihnen noch die eigentümliche, romantische Schönheit und Stimmung dieser Stelle ahnungsvoll und freudig ans Herz gerührt hatte, da sie noch mit der Hoffnung und dem ganzen süßen, krausen Stimmungsduft der ersten Semester hier gegangen waren.

Sie bogen um die Brückenmühle, stiegen die steile Gasse zum Holzmarkt hinauf, gingen an der Stiftskirche vorüber, über die schmale Kirchgasse und den öden Markt an der Sonne vorbei und gelangten durch Nässe und Schmutz an die Hintertür des Löwen, durch welche man über drei steile Stufen hinab direkt in das „Nebenzimmer“ tritt. Ehe sie eintraten, blickten sie durch eins der niederen Fenster in die schmale Stube hinab und sahen Elenderle und Säbelwetzer am letzten Tisch beim Wein sitzen.

„Sie trinken Winkler!“ frohlockte Aber. „Hab ich’s nicht gesagt? Du meldest dich mit deiner Blume, wegen ungebührender Respektlosigkeit.“

„Prolet! Meinetwegen,“ murrte Lauscher, und trat zuerst in die schmale Tür. Aber folgte nach, drehte unwillig ein an der Wand hängendes Gerolsteiner Mineralwasserplakat um und ließ sich von der herzueilenden Wirtstochter Mathilde den Mantel abnehmen.

Jetzt bemerkten die Weintrinker die Ankommenden.

„Höchste Zeit,“ rief der Säbelwetzer. „Wollet ihr trinken? Wollet ihr ein Bad nehmen? Wollet ihr euch ersäufen? An Winkler fehlt es nicht. Mein Leben mach ich keine solche Wette mehr. Fünfzehn Flaschen, ists nicht zum Langweiligwerden?“

„Keine Angst!“ rief Lauscher. „Mathilde, zwei Gläser!“ Er prüfte eine der im Kübel stehenden Flaschen und schenkte ein. „Meine Blume, Aber!“

„Saufs!“

„Na?“ fragte der Säbelwetzer.

„Er ist gut,“ gab Lauscher kurz zur Antwort, ließ den linken Arm über die Stuhllehne hängen, füllte seinen Römer nach und trank ihn mit einem langen sicheren Schluck hinunter.

„Wo spuckts wieder?“ fragte der Säbelwetzer. „Du hast deinen allerbeinernsten Schädel aufgesetzt.“

„Du weißt,“ fiel Aber ein, „Schnaps verträgt er nicht. Der Benediktiner —“ Lauscher stieß durch die Zähne einen langen Pfiff.

„Halts Maul, Aberchen! Überhaupt fragt man nicht so dumm, Säbelwetzer.“ Er trank ein neues Glas an. „Ihr seid eigentlich doch eine Schweinebande, liebe Freunde,“ fuhr er dann langsam und ernsthaft fort, „und mich wunderts selber, daß ich allemal wieder bei euch bin.“

Elenderle lachte und trank dem Dichter zu.

„Aber was tun? Ihr seid wenigstens bloß langweilig und im übrigen gute Brüder.“

„Hm — hm —“

„Ja, brummt nur! Oder hat vielleicht einer von euch etwas anderes an Geist zu verbrauchen, als die übrigen Brocken aus seiner Fuchsenzeit? Oder hat einer von euch eine Ahnung von Humor, von Philosophie, von Kunst? Oder —“

„Na hör mal,“ lachte der Kandidat Aber, „eh du so proletest, sei doch so gut und serviere uns einmal deine Kunst, deine Philosophie, deinen Humor! Er muß anderswo als in deinen sentimentalen Versen stecken —“

„Das tut er auch. Was Verse! Daß ich hier sitze und euren Wein mit euch trinke und eure desperaten Schädel betrachte, während ich Gold, Silber, Paläste, Märchen und Kleinode in mir liegen habe, das ist der Humor. Was verbummelt ihr? Was ersäuft ihr? Ein Examen, ein bißchen Vermögen, ein Ämtchen, in dem ihr euch geschunden und gelangweilt hättet. Warum? Weil es euch dämmert, daß es sich um solches Zeug nicht zu leben lohnt. Und ich? Schluck um Schluck ersäufe ich ein Stück blauen Poetenhimmel, eine Provinz meiner Phantasie, eine Farbe von meiner Palette, eine Saite von meiner Harfe, ein Stück Kunst, ein Stück Ruhm, ein Stück Ewigkeit. Warum? Weil es sich auch um alles das nicht zu leben lohnt. Weil es sich überhaupt nicht lohnt zu leben; denn Leben ohne Zweck ist öd und leben mit Zweck ist eine Plage.“

Elenderle lachte fortwährend. Aber nahm einen langen Schluck und sagte gutmütig: „Trink, Lauscher, und mach uns nix Blaues vor!“

„Aber sag,“ redete er darauf Elenderle an, „was machst du denn jetzt eigentlich? Weiß dein Alter schon?“

„Was denn?“ fragte Lauscher.

„Weißt du nicht? Er ist zum drittenmal nicht ins Examen gestiegen und außerdem relegiert. Na, Elenderle, was denkst du?“

„Denken? Ich hab mich anwerben lassen.“

„Sakerlot! Anwerben?“

„Ja ja ja ja!“

„Zu was denn? Ist eine Deliriantenarmee gegründet worden?“

„Ganz so was! Ich meinte, ich hätte in meinen vielen Semestern genug Jammertränen vergossen, um mir dafür ein Freibillet in die Gefilde der Seligen zu kaufen.“

„Auch gut,“ lachte der Säbelwetzer. „Das ist nicht mehr als billig. In die Hölle wärst du so wie so nicht gekommen, das weiß ich, denn ich habe einmal drei Semester württembergische evangelische Theologie studiert.“

„Aber wer hat dich denn angeworben?“ fragte Lauscher.

„Ei wer? Ja, den möchtest du kennen! Ein Herr, sag ich dir, ein feiner Herr —“

„Rindvieh!“ rief Lauscher. „Was du einen feinen Herrn nennst! War er feiner als ich?“

„Viel, viel feiner! Ein Gentleman, sag ich euch. Übrigens dummes Geschwätz! — er kommt heut abend her, er hats versprochen.“

 

„Wa—as? Kein Schwindel? Auf dein Wort?“

„Natürlich, auf alle meine Wörter. Prost, Lauscher!“

„Prost, Elenderle!“

Lauscher zog ein Paket seiner Giftschlangen hervor, schwarze, lange, dünne Zigarren, und bot den andern an. Er zündete sich eine an, blies Wolken, streifte die Asche ab, nahm hin und wieder einen schnellen Schluck und verfiel in eine träumerisch schwere Trägheit. Auch die andern widmeten sich nun still dem Wein und der Zigarre. Eine bläuliche Wolke hing über dem Tische, man hörte die wenigen übrigen Gäste reden und lachen. Die Freunde tranken Glas um Glas und saßen einander versonnen und fast völlig stumm gegenüber, wie sie schon viele Stunden und viele ganze Abende und Nächte versonnen und stumm beisammen um irgend einen Trinktisch gesessen waren.

„Ich bin doch neugierig auf deinen Werber,“ sagte Aber nach einer langen, langen Pause.

Keine Antwort. Mathilde öffnete zwei neue Flaschen. Der Säbelwetzer schenkte ein.

„Übrigens,“ begann Aber wieder, „übrigens, meine Lieben, was könnte eigentlich aus uns noch werden? Wer wird uns anwerben? Sei’s noch um zwei Semester, so ist bei mir die Gnadenfrist vorbei.“

„Und bei mir der Mammon,“ sagte der Säbelwetzer. „Umsatteln kann ich nimmer.“

„Ich auch nicht,“ gähnte Aber. „Mein Alter ist jetzt schon scheu — Amerika?“

Lauscher lachte.

„Afrika, Asien, Australien?“ äffte er nach. „Das nenne ich Sorgen! Weißt du denn, ob du in zwei Semestern noch lebst? Zwei Semester! Bedenke, was in zwei Semestern alles anders werden kann!“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel könntest du gerade jetzt, wo du so unvorsichtig deine Zigarre anzündest, dem Mund zu nahe kommen und in Spiritusflammen aufgehen. Ein schöner Tod! Oder du gründest, was ich kommen sehe, deinen Klub, ihr baut ein Klubhaus und du wirst Kellermeister —“

„Dunder!“ rief Aber erregt. „Dunder noch mal! Das ist eine feine Idee!“

„Oder du gehst,“ fuhr Lauscher fort, „du gehst —“

Er brach mitten im Satze ab und stierte blaß auf das gegenüber offenstehende Fenster.

„Na? Was ist los?“ rief der Säbelwetzer.

Lauscher deutete mit dem Finger auf das Fenster.

„Da!“ rief er stotternd. „Wir spielen doch nicht Freischütz.“

Alle wendeten die Blicke dem ausgestreckten Finger nach. Im Fenster stand ein Mensch von schmaler, hoher Figur, regungslos, hager, frech, blaß, mit Spitzbärtchen am langen Kinn, hoher Stirn, stand und blickte aus hellen, stechenden, stahlgrauen Augen in die Stube.

Der Säbelwetzer war der einzige, der nicht erschrack.

„Sieht aus, als wüßt er nicht, ob er Kasper oder Samiel mimen soll,“ lachte er. „Soll ich den frechen Bruder anrempeln?“

Der Fremde verschwand vom Fenster. Einen Augenblick später ging die Tür und er trat ein, schritt durch die Stube und nahm am Tisch der Kameraden Platz.

Der Säbelwetzer wollte aufstehen und den Eindringling mit einer Grobheit fortweisen, da streckte über den Tisch herüber Elenderle dem Gaste die Hand entgegen und lachte.

„Entschuldigen Sie, Herr, ich erkenne Sie eben erst. Darf ich Ihnen meine Freunde vorstellen?“

Mit schon etwas betrunkenen Gesten führte er die Vorstellung aus. Den Namen des Fremden vergaß er zu nennen.

Man saß wieder lange trinkend, stumm und träg am Tische, bis Lauscher sich erhob.

„Ich gehe. Macht einer noch ein Billard mit?“

Die Freunde schwiegen.

„Ich, wenn Sie wollen,“ sagte aufstehend der Unbekannte. „Wir könnten ja alle zusammen in den Walfisch gehen. Ich kam eben dort vorbei, das Billard ist frei.“

Alle tranken nun aus und folgten dem Vorschlag. Draußen rann Regen, es war frostig naß und die Kornhausgasse ein Meer von Schmutz. Der Walfisch war bald erreicht. Elenderle ging voran die Treppe hinauf. Bei der Gasflamme im Gang hielt Aber den Fremden an.

„Einen Augenblick, wenn Sie erlauben!“

Er blickte nach der Treppe. Die andern waren schon oben.

„Nun?“ fragte der Lange.

„Elenderle hat von Ihnen gesprochen,“ sagte Aber verlegen. „Sie werben für eine Gesellschaft?“

„Allerdings.“

„Ich könnte — es wäre möglich, daß — kurz, ich möchte Sie kennen lernen.“

„Freut mich. Ich bin nur heute hier, aber Ihr Freund kann Ihnen ja morgen Auskunft geben. Ich komme ziemlich jedes Semester einmal nach Tübingen.“

Sie stiegen den andern nach in das räucherige, verrufene Café hinauf. Elenderle hatte oben schon Sekt bestellt und sich faul in ein Sofa geworfen. Lauscher kreidete schon seinen Billardstock. Der Fremde ergriff einen andern. Er spielte brillant.

Die Partie war schnell zu Ende.

„Sie spielen hübsch,“ sagte der Lange zum Dichter. „Wenn Sie sich Ihre Scheu vor dem Fiedelstoß abgewöhnen, werden Sie vielleicht bald genial spielen. Hier fängt das Billardspiel erst an. Sehen Sie —“

Er ergriff noch einmal das Queue und tat einen seiner glänzenden, fabelhaften Stöße. Der Ball rollte, nachdem er den weißen Ball berührt, in einem eigentümlichen, unglaublichen Bogen zum roten.

Lauscher staunte. Dann setzten sie sich zu den andern. Aber und Lauscher tranken Kaffee, die andern Sekt und Sherry. Die kleine, unbändige Molly trank mit und freundete sich mit Elenderle auf dem Sofa an.

„Was halten Sie von ihm?“ fragte der Fremde Lauschern, indem er leise nach jenem hindeutete. „Ein Schwein,“ flüsterte Lauscher, „ein komplettes Schwein. Aber seelengutmütig.“

„Und der?“ Der Lange bewegte das Kinn gegen den Säbelwetzer.

„Nicht ganz so dumm,“ urteilte Lauscher, „und auch nicht so geschmacklos. Aber ein Säbelheld. Er verschmerzt es nie, daß ihn die Burschenschaft an die Luft gesetzt hat.“

„Hm. Und der dritte?“

„Aber? Der beste von den dreien, nur ohne Rückgrat. Er hat im stillen heillos vor seiner Krisis Angst.“

„Sie sprechen nett von Ihren Freunden.“

„Warum nicht? Verschiedene Grade von Fäulnis, die verschieden phosphoreszieren.“

„Sie gefallen mir.“

„So?“

Lauscher erhob sich. „Komm!“ rief er Abern zu, „wir gehen.“

Der Fremde grüßte die Abgehenden mit einem blanken, häßlichen Lächeln. Der Säbelwetzer war eingeschlafen. Elenderle und Molly schienen die Anwesenheit anderer zu vergessen.

Aber und Lauscher irrten eine halbe Stunde lang im Regen durch die finsteren leeren Gassen. Der Löwen war geschlossen, in den Schwarzwälder mochten sie nicht gehen, es schlug drei Uhr.

„Komm, ich geh nach Haus!“ rief Aber endlich ungeduldig aus.

„Ich nicht.“ Lauscher blieb stehen und blickte um sich. „Alles tot! Was diese Leute schlafen!“

„Komm, wir tun’s auch.“

„Nein. Schlafen!“ Der Dichter wendete sich um und blickte Abern in das breite, etwas angetrunkene Gesicht. „Du, Aber! Möchtest du jetzt nicht auch ‚Pfui Teufel‘ zu allem sagen?“

„Hilft nichts. Lieber gehen wir in den Schwarzwälder.“

„Was dasselbe ist. Meinetwegen.“

Sie betraten das Lokal und ließen sich Gilka geben. Aber wurde allmählich von der traurigen Laune seines Begleiters angesteckt. Trüb und unzufrieden blickten sie mit toten Augen über die Zigarren weg in den Raum. Drei späte Bummler würfelten an einem Kaffeetischchen, am Büffet schlief die Kellnerin, eine einsame Winterfliege kroch am Gasrohr und schien jeden Augenblick in die Flamme fallen zu müssen, an den Fensterladen hörte man den Regen tropfen.

„Nicht sentimental werden!“ sagte Aber nach einer Stunde. Er stürzte sein Gläschen Gilka hinunter; beide verließen den öden Saal und stiegen die steile Judengasse hinab. Im Vorbeigehen hörten sie den Knecht im Walfisch die Türen schließen. Am Ende der Schmiedthorgasse, bei der alten Ammerbrücke, hielten sie einen Augenblick an.

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