50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Ein­und­achtzig

Er wollte nichts tun, in seinem Benehmen nichts ändern, und doch ließ er drei Tage vergehen, ohne bei den St. Arnauds vorzusprechen.

Endlich, den vierten Tag, nahm er sich ein Herz.

Es war inzwischen herbstlich und windig geworden, und die Blätter tanzten vor ihm her, als er über den Hafenplatz ging. Er warf einen Blick hinauf und sah, daß überall, ganz wie damals bei seinem ersten vergeblichen Besuche, die Holzjalousien herabgelassen waren. Nur in St. Arnauds Zimmer standen die Fensterflügel weit auf, und die Gardinen wehten im Winde.

»Wieder im Tattersall oder im Club. Nie zu Haus. Es scheint wirklich, daß er sie manchen Tag keine Stunde sieht, und Rosa mag recht mit ihrer Mutmaßung haben, daß seine Liebe, wenn überhaupt vorhanden, von ganz eigner Art sei.

Jedenfalls wird sie dieser Art nicht froh, soviel steht fest, soviel seh ich. Und beinahe, wenn ich zurückdenke, hab ich ihr eigen Geständnis davon. Und kann es anders sein? Die Liebe lebt nicht von totgeschossenen Dzialinskis, vielleicht gerade davon am wenigsten, sie lebt von liebenswürdigen Kleinigkeiten, und wer sich eines Frauenherzens dauernd versichern will, der muß immer neu darum werben, der muß die Reihe der Aufmerksamkeiten allstündlich wie einen Rosenkranz abbeten. Und ist er fertig damit, so muß er von neuem anfangen. Immer dasein, immer sich betätigen, darauf kommt es an. Alles andere bedeutet nichts. Ein Armband zum Geburtstag, und wenn es ein Kohinur wäre, oder ein Nerz- oder Zobelpelz zu Weihnachten, das ist zuwenig für dreihundertfünfundsechzig Tage. Wozu läßt der Himmel soviel Blumen blühen? Wozu gibt es Radbouquets von Veilchen und Rosen? Wozu lebt Felix und Sarotti? So denkt jede junge Frau, wobei mir zu meinem Schrecken einfällt, daß ich auch ohne Bouquet und ohne Bonbonnière bin. Also nicht besser als St. Arnaud. Und er ist doch bloß ein Ehemann.«

Unter solchem Selbstgespräche war er bis an das Haus gekommen, dessen Tür sich im selben Augenblick öffnete, wie wenn sein Erscheinen von der Portierloge her bereits bemerkt worden wäre. Wirklich, ein kleines Mädchen sah neugierig durch das Guckfenster und schien auf seinen Gruß zu warten. Er nickte denn auch und stieg die Treppe hinauf.

Gleich auf dem ersten Absatz traf er den von Cécile kommenden Geheimrat: »Ah, Herr von Gordon«, grüßte dieser. »Les beaux esprits se rencontrent. Die Gnädigste fühlt sich unwohl; leider, oder auch nicht leider; je nachdem, wie man's nehmen will. Sie wissen, es ist ihr ewig Weh und Ach… «

Und er lachte, während er unter nochmaliger legerer Hutlüftung an Gordon vorüberging.

Dieser war von der Begegnung aufs unangenehmste berührt, und um so unangenehmer, als ihm an dem Diner-Tage nicht entgangen war, daß Cécile viel Entgegenkommen für ihren geheimrätlichen Tischnachbar gehabt hatte. Sein frivoler Witz machte sie lachen, und was seine kaum die nötigsten Schranken innehaltende Dreistigkeit anging, von der Rosa gesprochen hatte, so hatte Gordon gerade lange genug gelebt, um zu wissen, daß die Dreisten die Vorhand haben.

Und nun war er die Treppe hinauf und zog die Klingel.

»Die gnädige Frau wird sehr erfreut sein«, empfing ihn die Jungfer und meldete: »Herr von Gordon.«

»Ah, sehr willkommen.«

Cécile war wirklich leidend, hatte den Lieblingsplatz auf dem Balkon aber nicht aufgegeben. Die kleine Bank mit den zwei Kissen war fortgeräumt, und statt ihrer stand eine Chaiselongue da, darauf die Kranke ruhte, den Oberkörper mit einem Shawl, die Füße mit einer Reisedecke zugedeckt, in die das Wappen der St. Arnauds oder vielleicht auch das der Woronesch von Zacha eingestickt war. Auf einem Tischchen daneben stand ein phiolenartiges Fläschchen samt Wasser und Zuckerschale.

Gordon, als er sie so sah, war tief bewegt, vergaß alles und wollte Worte der Teilnahme sprechen. Sie ließ es aber nicht zu, nahm vielmehr ihrerseits das Wort und sagte, während sie sich mit Anstrengung an dem Rückenkissen höher hinaufrückte: »So spät erst. Ich habe Sie früher erwartet, Herr von Gordon… Hat unser kleines Diner so wenig Gnade vor Ihren Augen gefunden? Aber setzen Sie sich. Dort unten steht noch ein Stuhl. Werfen Sie das Tuch beiseit; oder nein, geben Sie's her, ich will es noch über den Shawl decken. Denn offen gestanden, mich friert.«

»Und doch haben Sie sich hier ins Freie gebettet, als ob wir Juli statt Oktober hätten.«

»Ja, der Geheimrat, der eben hier war, war derselben Meinung und tadelte mich, ja, drang in dem ihm eigenen Tone darauf, mich persönlich umbetten zu wollen.«

»Ein Ton, den ich höre. C'est le ton, qui fait la musique.«

»Freilich. Und bei niemandem mehr als bei dem Geheimrat. Und doch amüsiert er mich; ich gestehe es, wenn auch vielleicht wenig zu meinem Ruhme. Man hört soviel Langweiliges, und er ist immer so pikant. Aber warum ich hier in dieser Oktoberfrische liege, das macht, daß ich einfach keine Wahl habe. Denn laß ich mich in die Vorderzimmer bringen, so hab ich, so hoch sie sind, keine Luft, und so kommt es denn, daß ich das Frösteln und schlimmstenfalls selbst ein Erkältungsfieber vorziehe. Von zwei Übeln wähle das kleinere. Nun aber fort mit dem ganzen Thema. Nichts ist langweiliger als Krankheitsgeschichten, wenn nicht zwei zusammenkommen, die sich untereinander überbieten. Und zu diesem Rettungsmittel werden Sie nicht greifen wollen. Erzählen Sie mir also lieber von Rosa. Wissen Sie, daß ich schon eifersüchtig war. Immer sprachen Sie leise miteinander, wie wenn Sie Geheimnisse hätten, und als der alte General seinen letzten Trumpf ausspielte, gab es ein verständnisvolles Händedrücken. Oh, mir ist nichts entgangen. Und dann zuletzt noch das Chaperonnieren bis an die Pferdebahn. Nun, das klingt freilich ebenso harmlos wie nah, ist aber doch schließlich ein ziemlich weiter Begriff und reicht, wenn es sein muß, bis an das Engel-Ufer. Beiläufig, wie kann man am Engel-Ufer wohnen, eine Künstlerin und eine Dame.«

»Ach, Sie haben leicht spotten, meine gnädigste Frau. Wissen Sie doch am besten, wie's liegt. Rosa! Mit Rosa könnte man um den Äquator fahren, und man landete genauso, wie man eingestiegen. Ich habe sie bis an ihre Wohnung geführt, und wir haben eine Welt besprochen und bewitzelt. Und doch, wenn ich, statt ihrer selbst, eins ihrer Bilder unterm Arm gehabt hätte, so wär es dasselbe gewesen. Um es kurz zu sagen, ihr Charmantsein ist ohne Charme, und ich kenne Frauen, deren zustimmendes Schweigen mir mehr bedeutet als Rosas witzigstes Wort.«

Cécile lächelte und verschmähte es, sich das Ansehen zu geben, als ob sie Sinn und Ziel seiner Worte nicht verstanden habe. Zugleich aber schüttelte sie den Kopf und sagte: »Sie werden besser tun, mir von meinen Tropfen zu geben. Da, das Fläschchen. Es ist ohnehin schon über die Zeit. Aber zählen Sie richtig und bedenken Sie, welch ein kostbares Leben auf dem Spiele steht. Es ist Digitalis, Fingerhut. Entsinnen Sie sich noch der Stunden, als wir von Thale nach Altenbrak hinüberritten? Da stand es in roten Büscheln um uns her, kurz vor dem Birkenweg, wo sich die Turner gelagert hatten und dann aufsprangen und vor uns präsentierten.«

»Vor Ihnen, Cécile … «

»Ja«, fuhr diese fort, ohne der Unterbrechung zu achten, »damals glaubte ich nicht, daß der Fingerhut für mich blüht. Seit gestern aber ist mir auch noch eine Herzkrankheit in aller Form und Feierlichkeit zudiktiert worden, als ob ich des Elends nicht schon genug hätte. Fünf Tropfen, bitte; nicht mehr. Und nun etwas Wasser.«

Gordon gab ihr das Glas.

»Es schmeckt nicht viel besser als der Tod… Nun aber setzen Sie sich wieder und erzählen Sie mir von Ihrer eigentlichen Tischnachbarin. Interessante Frau, die Baronin. Nicht wahr? Und so distinguiert!«

»Jedenfalls mehr dezidiert als distinguiert. Den Zweifel, diesen Ursprung oder Sprößling aller Bescheidenheit, haben die Götter beispielsweise nicht in ihre Brust gelegt; dafür aber den Haß, wenigstens den redensartlichen. Gott, was haßte diese Frau nicht alles! Und dazu welch ein Appetit! Und jedes dritte Gericht ihr ›Leibgericht‹; Pardon, sie brauchte wirklich diesen Ausdruck. Ach, Cécile, wie kommen Sie zu diesem Mannweib, zu solcher Amazone, Sie, die Sie ganz Weiblichkeit sind und… «

»Und Schwäche. Sprechen Sie's nur aus. Und nun elend und krank dazu!«

»Nein, nein«, fuhr Gordon in immer wärmer und leidenschaftlicher werdendem Tone fort: »Nein, nein; nicht krank. Sie dürfen nicht krank sein. Und diese dummen Tropfen; weg damit samt der ganzen Doktorensippe. Das brüstet sich mit Ergründung von Leib und Seele, schafft immer neue Wissenschaften, in denen man sich vor ›Psyche‹ nicht retten kann, und kennt nicht mal das Abc der Seele. Verkennung und Irrtum, wohin ich sehe. Ach, meine teure Cécile, Sie haben sich hier in bittere Kälte gebettet, um freier atmen zu können. Aber was Ihnen fehlt, das ist nicht Luft, das ist Licht, Freiheit, Freude. Sie sind eingeschnürt und eingezwängt, deshalb wird Ihnen das Atmen schwer, deshalb tut Ihnen das Herz weh, und dies eingezwängte Herz, das heilen Sie nicht mit totem Fingerhutkraut. Sie müßten es wieder blühen sehen, rot und lebendig wie damals, als wir über die Felsen ritten und der helle Sonnenschein um uns her lag. Und dann abends das Mondlicht, das auf das einsame Denkmal am Wege fiel. Unvergeßlicher Tag und unvergeßliche Stunde.«

Sie sog jedes Wort begierig ein, aber in ihrem Auge, darin es von Glück und Freude leuchtete, lag doch zugleich auch ein Ausdruck ängstlicher Sorge. Denn ihr Herz und ihr Wille befehdeten einander, und je gewissenhafter und ehrlicher das war, was sie wollte, je mehr erschrak sie vor allem, was diesen ihren Willen wieder ins Schwanken bringen konnte. Sie hatte sich gegen sich selbst zu verteidigen, und so sagte sie denn: »O nicht so, lieber Freund. Sehen Sie die roten Flecke hier? Ich fühle wenigstens, wie sie brennen. Glauben Sie mir, ich bin wirklich krank. Aber, wenn ich auch gesund wäre, Sie dürfen diese Sprache nicht führen. Um meinetwegen nicht und auch um Ihretwegen nicht.«

 

Es war ersichtlich, daß er diese Worte nicht recht zu deuten verstand, und so wiederholte sie denn: »Ja, auch um Ihretwegen nicht. Denn diese Sprache, soviel sie bedeuten will, ist doch nur Alltagssprache, Sprache, darin ich jeden Ton und jede kleinste Nuance kenne. Das wenigstens hab ich gelernt, darin wenigstens hab ich eine Schule gehabt. So spricht herkömmlich ein Mann von Welt zu einer Frau von Welt, und es fehlen nur noch die Herabsetzungen und Verkleinerungen, ich sage nicht, wessen, und die versteckten Anklagen, ich sage nicht, gegen wen, um das Herkömmliche dieser Sprache vollkommen zu machen. Ein Glück für mich, daß Ihr Taktgefühl mich vor diesem Äußersten wenigstens zu bewahren wußte.«

Sie schob, als sie so sprach, sich abermals aufrichtend, den Shawl zurück und setzte dann in wieder freundlicher werdendem Tone hinzu: »Nein, Herr von Gordon, nicht so. Bleiben Sie mir, was Sie waren. Ich finde Sie so verändert und frage vergebens nach der Ursache. Aber was es auch sein möge, machen Sie mir mein Leben leicht, anstatt es mir schwer zu machen, stehen Sie mir bei, helfen Sie mir in allem, was ich soll und muß, und täuschen Sie nicht das Vertrauen oder, wozu soll ich es verschweigen, das herzliche Gefühl, das ich Ihnen von Anfang an entgegenbrachte.«

Gordon schien antworten zu wollen, aber sie wies nur auf die Karaffe, zum Zeichen, daß sie zu trinken wünsche, trank auch wirklich und fuhr dann aufatmend fort: »Es drückt mich mancherlei. Sie haben gesehen, wie wir leben; es ist soviel Spott um mich her, Spott, den ich nicht mag und den ich oft nicht einmal verstehe. Denn die großen Fragen interessieren mich nicht, und ich nehme das Leben, auch jetzt noch, am liebsten als ein Bilderbuch, um darin zu blättern. Über Land fahren und an einer Waldecke sitzen, zusehen, wie das Korn geschnitten wird und die Kinder die Mohnblumen pflücken, oder auch wohl selber hingehen und einen Kranz flechten und dabei mit kleinen Leuten von kleinen Dingen reden, von einer Geiß, die verlorenging, oder von einem Sohn, der wiederkam, das ist meine Welt, und ich bin glücklich gewesen, solang ich darin leben konnte. Dann, ich war noch ein halbes Kind, wurd ich aus dieser Welt herausgerissen, um in die große Welt gestellt zu werden, und ich habe mich, solang es galt, auch ihrer Freuden gefreut und an ihren Torheiten und Verirrungen teilgenommen. Aber jetzt, jetzt sehne ich mich wieder zurück, ich will nicht sagen, in ›kleine Verhältnisse‹, die würd ich nicht ertragen können - aber doch zurück nach Stille, nach Idyll und Frieden und, gönnen Sie mir, es auszusprechen, auch nach Unschuld. Ich habe Schuld genug gesehen. Und wenn ich auch durch all mein Leben hin in Eitelkeit befangen geblieben bin und der Huldigungen nicht entbehren kann, die meiner Eitelkeit Nahrung geben, so will ich doch, ja, Freund, ich will es, daß diesen Huldigungen eine bestimmte Grenze gegeben werde. Das habe ich geschworen, fragen Sie nicht, wann und bei welcher Gelegenheit, und ich will diesen Schwur halten, und wenn ich darüber sterben sollte. Forschen Sie nicht weiter. Es ist hier mehr Tragödie zu Haus, als Sie wissen. Und nun verlassen Sie mich, ich bitte Sie. Der Arzt kann jeden Augenblick kommen, und ich möchte nicht, daß mein Puls ihm verriete, wie sehr ich seine Vorschriften mißachtet habe.«

Kapitel Zwei­und­achtzig

In großer Bewegung hatte Gordon Cécile verlassen, und erst auf dem Heimwege kam er wieder zur Besinnung und überdachte sein Benehmen. Er hatte sich wirklich dem Augenblick überlassen und war, als er sie krank und schmerzlich resigniert sah, nur voll herzlicher Teilnahme gewesen. Aber dies Gefühl reiner Teilnahme hatte nicht angedauert. Aller Krankheit und Resignation unerachtet oder vielleicht auch gesteigert dadurch, war etwas Bestrickendes um sie her gewesen, und diesem Zauber aufs neue hingegeben, war er schließlich doch in eine Sprache verfallen, die zu mäßigen oder gar schweigen zu heißen er nach dem Inhalt von Clothildens Briefe nicht mehr für geboten gehalten hatte. Worte waren gesprochen, Andeutungen gemacht worden, die vor einer Woche noch unmöglich gewesen wären. »Ja«, schloß er seine rückblickende Betrachtung, » so war es, so verlief es. Und dann antwortete sie so dringend wie nie zuvor und zugleich so demütig wie immer.«

Unter solchem Selbstgespräche war er bis an das Tiergarten-Hotel und gleich danach bis in die unmittelbare Nähe der Lennéstraße gekommen. Aber zu Hause, zwischen Alltagsmöbeln und bei nichts Besserem als zwei Schweizerlandschaften in Öldruck, die schon unter gewöhnlichen Verhältnissen eine Qual für ihn waren, sich einzupferchen, widerstand ihm heute doppelt, und so ging er an seiner Wohnung vorüber und auf eine Bank zu, die, trotzdem die Oktobersonne einladend darauf schien, unbesetzt war.

Er lehnte sich, den Arm aufstützend, in eine der Ecken und sann und rechnete, bis allmählich eine Bilderreihe, darin es auch an grotesken Gestalten nicht fehlte, die Reihe seiner Gedanken ablöste. Vorauf erschien die schöne Frau von Zacha, ganz in Krepp, mit großen schwarzen Jettperlen dreimal um Brust und Hals, und an den Perlen ein Kruzifix bis auf den Gürtel. Und dann sah er Cécile, wie sie die Straße hinaufsah. Und dann kamen die, auf die sie wartete: erst ein Alter in Jagdjoppe, rüstig und jovial und mit grauem Backenbart, englisch gestutzt und geschnitten, und dann ein Junger in Reisekostüm, fein und durchsichtig und hüstelnd, und dann ein dritter in Uniform, mit hohen Schultern und Gold am Kragen. Und er mußte lachen und sagte: »Marinelli. Ja, kleiner Fürsten Hofmarschall… Und in der Welt hat sie gelebt. Traurig genug. Aber was beweist es? Soll ich daraus herleiten, daß sie mir eine Komödie vorgespielt und daß alles nichts gewesen sei wie der Jargon einer schönen Frau, die sich unbefriedigt fühlt und die langen öden Stunden ihres Daseins mit einer Liebesintrige kürzen möchte? Nein. Wenn dies Lug und Trug ist, dann ist alles Lüge, dann bin ich entweder unfähig, wahr von unwahr zu unterscheiden, oder die Kunst der Verstellung hat in den sieben Jahren meiner Abwesenheit wahre Riesenfortschritte gemacht, solche, daß ich mit meiner schwachen Erkenntnis nicht mehr folgen kann.«

Er wollte sich losmachen von diesen und ähnlichen Betrachtungen, aber es brodelte weiter in seiner Seele. »Die Welt ist eine Welt der Gegensätze, draußen und drinnen, und wohin das Auge fällt, überall Licht und Schatten. Die dankbarsten Menschen überschlagen sich plötzlich in Undank, und die Frommen, mit dem seligen Hiob an der Spitze, murren wider Gott und seine Gebote. Was hat nicht alles Platz in einem Menschenherzen? Alles verträgt sich, man rückt mit gut und bös ein bißchen zusammen, und wer heute sittlich ist und morgen frivol, kann heute gerade so ehrlich sein wie morgen. Clothilde hatte recht, als sie mich ermahnte, das Kind nicht mit dem Bade zu verschütten. Und was sagte Rosa: ›Die arme Frau.‹ Sie muß also doch Züge herausgefunden haben, die Teilnahme verdienen. Und das sagt viel. Denn die Weiber sind untereinander am strengsten, und wo sie pardonieren, da muß Grund für Gnade sein.«

In diesem Augenblicke kam eine Spreewaldsamme mit einem Kinderwagen und nahm neben ihm Platz. Er sah nach ihr hin, aber die gewulsteten Hüften samt dem Ausdruck von Stupidität und Sinnlichkeit waren ihm in der Stimmung, in der er sich befand, geradezu widerwärtig, und so stand er übrigens zu sichtlicher Verwunderung seiner Bankgenossin rasch auf, um weiter in die Parkanlagen hineinzugehen.

Als er nach einer Stunde müd und abgespannt nach Hause kam, übergab ihm der Portier einen Brief und ein Telegramm. Der Brief war von Cécile, soviel sah er an der Aufschrift, und die Frage, woher die Depesche komme, war ihm deshalb, momentan wenigstens, gleichgültig. Er stieg hastig in seine Wohnung hinauf, um zu lesen, oben aber überkam ihn eine Furcht. Endlich erbrach er den Brief. Er lautete: »Lieber Freund. Es geht nicht so weiter. Seit dem Tage, wo wir das kleine Diner hatten, sind Sie verändert, verändert in Ihrem Tone gegen mich. Ich sprach es Ihnen schon aus und wiederhole, daß ich darauf verzichte, nach dem Grunde zu forschen. Aber was der Grund auch sei, fragen Sie sich, ob Sie den Willen und die Kraft haben, sich zu dem Tone zurückzufinden, den Sie früher anschlugen und der mich so glücklich machte. Prüfen Sie sich, und wenn Sie antworten müssen ›nein‹, dann lassen Sie das Gespräch, das wir eben geführt haben, das letzte gewesen sein. Es gilt Ihr und mein Glück. Die zitternde Handschrift wird Ihnen sagen, wie mir ums Herz ist, das in allen Stücken nicht will, wie's soll. Aber ich beschwöre Sie: Trennung, oder das Schlimmere bricht herein. Über kurz oder lang würde Sie der Beruf, den Sie gewählt, doch wieder in die Welt hinausgeführt haben - greifen Sie dem vor. Ich vergesse Sie nicht. Wie könnt ich auch! Immer die Ihrige Cécile«

Er war bewegt, am bewegtesten durch das rückhaltlose Geständnis ihrer Neigung. Aber er ersah eben daraus auch den ganzen Ernst dessen, was sie nebenher noch schrieb, sie hätte sich sonst zu solchem Geständnisse nicht hinreißen lassen.

»Ob ich den Willen und die Kraft habe, fragt sie. Nun, den Willen, ja. Aber nicht die Kraft. Vielleicht, weil auch der Wille nicht der ist, der er sein sollte. Woher sollt ich ihn auch nehmen? Ich kann hier nicht leben und an ihrem Hause Tag um Tag gleichgiltig vorübergehen, als wüßt ich nicht, wer hinter den herabgelassenen Rouleaux seine Tage vertrauert. Und so hab ich denn beides nicht, nicht die Kraft und nicht den Willen.«

Als er so sprach, überflog er noch einmal die letzten Zeilen und griff dann erst nach dem Telegramm. Es kam aus Bremen und enthielt die kurze Weisung, herüberzukommen, weil sich dem Unternehmen seitens der dänischen Regierung neue Schwierigkeiten in den Weg gestellt hätten.

»Ohne den Brief wäre mir das Telegramm ein Greuel gewesen, jetzt ist es mir ein Fingerzeig, wie damals der Befehl, der mich aus Thale wegrief. Nur daß die Situation von heute pressanter und das Glück im Unglück ersichtlicher ist. Es bleibt ewig wahr, man soll nicht mit dem Feuer spielen. Trivialer Satz. Aber die trivialsten Sätze sind immer die wahrsten. Und so denn also Rückzug! Er wird mir leichter, als ich's vor einer Stunde noch gedacht hätte, denn alles, was gut und verständig in mir ist, stimmt mit ein und kommt mir zu Hülfe. Sich düpieren lassen oder Spielzeug einer Weiberlaune zu sein, widersteht mir. Aber hier ist nichts von dem allen, nicht Düpierung, nicht Weiberlaune, nicht Spiel. Arme Cécile. Dir ist die höhere Moral nicht an der Wiege gesungen worden, und Oberschlesien mit Adelsanspruch und Adelsarmut war keine Schule dafür. Nur zu wahr. Aber es war ein guter Fond in ihr, ein ästhetisches Element, etwas angeboren Feinfühliges, das sie gelehrt hat, echt von unecht und Recht von Unrecht zu unterscheiden. Etwas aus der Zeit, wo die ›Pilzchen‹ mit dem Roi Champignon auf dem Tisch standen, ist ihr freilich geblieben und wird ihr bleiben, aber sie will aus dem alten Menschen heraus, aufrichtig und ehrlich, und sie, daran hindern zu wollen wäre niedrig und geradezu schlecht. Also weg, fort! Leben heißt Hoffnungen begraben.«

Er sprach es in gutem Glauben vor sich hin. Aber plötzlich besann er sich und lächelte: »Hoffnungen ideales Wort, das für meine Wünsche, wie sie nun mal sind oder doch waren, nicht recht passen will. Aber müssen denn Hoffnungen immer ideal sein, immer weiß wie die Lilien auf dem Felde? Nein, sie können auch Farbe haben, rot wie der Fingerhut, der oben auf den Bergen stand. Aber weiß oder rot, weg, weg.«

Und er klingelte nach der Wirtin und gab Ordres für seine Abreise.