50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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»Fräulein Rosa Hexel.«

»Mit einem x?«

»Ja, Herr General.«

»Na, das paßt ja. Nur keine Spielverderberei. Da kommt übrigens das Tablett noch mal. Chartreuse. Den kann ich Ihnen empfehlen.«

Um neun Uhr brach man auf. Alles drängte sich im Korridor, und Cécile fragte die Malerin, ob der Diener eine Droschke holen solle, Rosa dankte jedoch, Herr von Gordon werde sie bis an den Platz begleiten, und dort finde sie Pferdebahn.

Unten bot ihr Gordon denn auch den Arm und sagte: »Wirklich nur bis an den Platz? Und nur bis an die Pferdebahn?«

»O nicht doch«, lachte Rosa. »Was Sie nur denken? So leicht kommen Sie nicht davon. Sie müssen mich bis nach Hause bringen, Engel-Ufer, und ich schenke Ihnen keinen Schritt. Aber sahen Sie nicht die Gesichter, als ich bloß Ihren Namen nannte? Der Geheimrat hob den Kopf, wie wenn er eine Fährte suche. Man muß es den Schandmäulern nicht zu leicht machen. Und das sind sie samt und sonders, die ganze Gesellschaft.«

»Ich fürchte, daß Sie recht haben. Aber doch alles in allem nicht übel, nicht dumm.«

»Nein, nicht dumm.«

»Und auch nicht uninteressant.«

»Nein, auch nicht uninteressant. Und au fond doch wieder. Es sieht alles nach was aus und klingt leidlich. Aber was ist es am Ende? Chronique scandaleuse, Malicen, Absetzen einiger Bitterkeiten. Und dann hat jeder sein elendes Steckenpferd. Der Klügste bleibt immer St. Arnaud selbst, er steht drüber und lacht. Aber dieser alte General! Ich verstehe nichts von Politik und noch weniger von Armee, wer mir aber ernsthaft versichern will, daß ein kluger General Müller allemal eine Landeskalamität und neben einem Hampel von Hampelshausen nie zu nennen sei, wer mir das ernsthaft versichern will, mit dem bin ich fertig, und wenn ich ihn trotz alledem interessant finden soll, so bin ich dazu zwar bereit, aber frag mich nur nicht wie.«

»Schau, schau, Fräulein Rosa, das sprüht ja wie ein pot à feu.«

»Der ich auch bin. Und wenn ich nun gar erst von diesem Geheimrat rede, da sprüh ich nicht bloß, da zisch ich wie eine Schlange, versteht sich Feuerwerksschlange.«

»Und doch war vieles richtig, was er sagte.«

»Vielleicht; vielleicht auch nicht. Ich versteh nichts davon. Aber unehrlich war es jedenfalls. Er ist ein schlechter Kerl, frivol, zynisch, und kein Frauenzimmer, und wenn es die keusche Susanne wäre, kann eine Minute lang mit ihm zusammen sein, ohne sich einer Unpassendheit ausgesetzt zu sehen. Er versteht unter ›protestantischer Freiheit‹ die Freiheiten, die er sich nimmt, und deren sind viele, jedenfalls genug. Sein ganzer Liberalismus ist Libertinage, weiter nichts. Ein wahres Glück, daß man ihn beiseite geschoben hat. Er schreibt jetzt, natürlich pseudonym, an einer neuen Broschüre. Daß er unterhaltlich ist, will ich nicht bestreiten, aber St. Arnaud könnte was Besseres tun, als ihn auszuzeichnen und ihn neben unsere schöne Cécile zu setzen. Ich hoffe, sie duldet ihn nur. Aber auch das ist schon zuviel. Er sollte zum Islam übertreten und Afrikareisender werden. Da gehört er hin. Und irgend so was passiert ihm auch noch.«

Gordon lachte. »Bravo, Fräulein Rosa. Fehlt von den Gästen eigentlich nur noch die Snatterlöw.«

»Über die zu sprechen ich mich hüten werde. Haben Sie doch, mein werter Herr von Gordon, in aller Intimität zwei Stunden lang neben ihr gesessen. Und ich sah wohl, wie sie jedesmal Ihren Arm nahm und ihn zustimmend drückte. Sie hat überhaupt etwas von einer Massage-Doktorin.«

»Und Cécile?«

»Ach, die arme Frau! Es wird wohl auch nicht alles sein, wie's sein sollte. Schönheit ist eine Gefahr von Jugend auf; nicht als ob ich aus Erfahrung spräche, dafür ist gesorgt. Aber sie ist lieb und gut und viel zu schade. Gebe Gott, daß es ein gutes Ende nimmt.«

Kapitel Neun­und­siebzig

Es war spät geworden, und der Wächter patrouillierte schon durch die Lennéstraße hin, als Gordon wieder vor seiner Wohnung anlangte. Rosa hatte, den ganzen Weg über, fast unausgesetzt gesprochen, am meisten über St. Arnaud, auf den sie wiederholt und mit einer gewissen Teilnahme zurückgekommen war. »Er läßt viel zu wünschen übrig, und ich möcht ihn nicht zum Feind und fast ebensowenig zum Freunde haben; aber trotz alledem ist er immer noch der Beste, weil der Ehrlichste. - Natürlich seine arme Frau ausgenommen. Erst gestern wurde bei Grolmans von ihm gesprochen, und wenn auch nicht gerade mit Respekt, so doch mindestens mit Bedauern. Es war ein Unglück, daß er den Dienst quittieren mußte. Blieb er in der Armee, so war alles gut oder konnt es wieder werden. Jetzt ist er verbittert, befehdet, was er früher vergöttert hat, und sitzt auf der Bank, wo die Spötter sitzen. Und das ist eine schlimme Bank. Er war ganz Soldat und ging darin auf. Nun hat er nichts zu tun und steht im Tattersall umher oder besucht den Club, ja, fast läßt sich sagen, er lebe da. Vor Tisch liest er Zeitungen, nach Tisch spielt er Whist oder Billard; das klingt sehr harmlos, aber, wie Sie vielleicht wissen werden, es geht um Summen, die für unsereins ein Vermögen bedeuten.«

Gordon folgte jedem Wort und fragte nach dem, was ihn selbstverständlich am meisten interessieren mußte: nach dem Verhältnis und der Lebensweise des Ehepaares untereinander. Aber was er als Antwort darauf hörte, war im wesentlichen nur eine Bestätigung dessen, was er schon während der Harzer Sommertage beobachtet hatte. »Ja«, schloß Rosa, »sein Verhältnis zu Cécile, da hab ich kein gutes Wort für ihn. Mitunter freilich hat er seinen Tag der Rücksichten und Aufmerksamkeiten, und man könnte dann beinahe glauben, er liebe sie. Aber was heißt Liebe bei Naturen wie St. Arnaud? Und wenn es Liebe wäre, wenn wir's so nennen wollen, nun so liebt er sie, weil sie sein ist, aus Rechthaberei, Dünkel und Eigensinn, und weil er den Stolz hat, eine schöne Frau zu besitzen. In Wahrheit ist er ein alter Garçon geblieben, voll Egoismus und Launen, viel launenhafter als Cécile selbst. Die Ärmste hat ihr Herz erst neulich darüber zu mir ausgeschüttet. ›Er hält‹, sagte sie, ›viertelstundenlang meine Hand und erschöpft sich in Schönheiten gegen mich, und gleich danach geht er ohne Gruß und Abschied von mir und hat auf drei Tage vergessen, daß er eine Frau hat.‹«

Das und viel anderes noch ging Gordon im Kopfe herum, als er wieder in seiner Wohnung war: vor allem aber klang ihmdas im Ohr, was Rosa gleich zu Beginn ihrer Unterhaltung gesagt hatte: »Gebe Gott, daß es ein gutes Ende nimmt.«

Zu guter Zeit war er auf und bei seinem Kaffee, schob aber die Zeitungen, die die Wirtin gebracht hatte, zurück. Alles Behagens unerachtet, war er in keiner Lesestimmung und beschäftigte sich nach wie vor mit dem, was ihm der gestrige Tag gebracht hatte. Die Fenster standen auf, und er sah hinaus auf den Tiergarten. Ein feiner, von der Morgensonne durchleuchteter Nebel zog über die Baumspitzen hin, die, trotz der schon vorgerückten Jahreszeit, kaum ein welkes Blatt zeigten; denn am Tage vorher war es windig gewesen, und das wenige, was sich bis dahin von gelbem und rotem Laube mit eingemischt hatte, lag jetzt unter den Bäumen und bildete Muster auf dem Rasenteppich. Dann und wann fuhr ein Wasserkarren langsam durch die Straße; sonst alles still, so still, daß Gordon es hörte, wenn die Kastanien aufschlugen und aus der Schale platzten.

Ein immer wachsendes Wohlgefühl überkam ihn. »Ich glaube, ich bin so glücklich, weil ich wieder in der Heimat bin. Wo war ich nicht alles? Aber solche Momente hat man nur daheim.«

Als er sich wieder zurückwandte, vernahm er deutlich, daß draußen auf dem Korridor gesprochen wurde. »Der Herr muß unterschreiben.« Und gleich danach trat der Briefträger ein. Er brachte Karten und Geschäftsanzeigen, der eingeschriebene Brief aber, über dessen Empfang quittiert werden mußte, war der langerwartete von Schwester Clothilde.

»Nun endlich.«

Gordon setzte sich in den Schaukelstuhl am Fenster, um hier con amore zu lesen.

»Mein lieber Roby. Deinen zweiten Brief, in dem Du Dich über mein Schweigen beklagst, erhielt ich gleichzeitig mit dem ersten. Ich fand beide hier vor, als ich vorgestern abend von meinen Weltfahrten nach meinem lieben Liegnitz zurückkehrte. Dein Brief aus Thale war mir selbstverständlich nach Johannesbad und, weil er mich dort nicht mehr traf, nach Partenkirchen hin nachgeschickt worden. An letzterem Orte kam er früher an als wir (wir heißt Kramstas und ich), was die Partenkirchner Post veranlaßte, Deinen Brief nach Liegnitz zurückzuschicken. Da hat er zwei Monate lang gelagert. Du siehst, ich bin außer Schuld.

Eine Welt von Dingen habe ich, seitdem Du hier warst, erlebt: die junge Kramsta hat sich mit einem Offizier verlobt, Helene Rothkirch ist Hofdame bei der Prinzessin Alexandrine geworden, und der alte Zedlitz hat sich wieder verheiratet. Und nun erst die jetzt zurückliegende Reise mit ihren hundert Bekanntschaften und Eindrücken! Aber ich werde mich hüten, Dir von Berchtesgaden und dem Watzmann eine lange Beschreibung zu machen, einmal, weil Dir 8000 Fuß nicht viel bedeuten können, und zweitens, weil ich annehme, daß junge Kavaliere, die sich nach einer schönen Angebeteten erkundigen, lieber von dieser Angebeteten als vom Watzmann hören wollen.«

Gordon lachte. »Ganz Clothilde. Und wie recht sie hat.«

»… Also die St. Arnauds. Nun wir kennen sie hier recht gut, oder doch wenigstens die Vorgänge, die seinerzeit viel von sich reden machten. Es war nicht gerade das Beste, wobei Dich das eine trösten mag, daß es, alles in allem, auch nicht das Schlimmste war.

St. Arnaud war Oberstlieutenant in der Garde, brillanter Soldat und unverheiratet, was immer empfiehlt. Man versprach sich etwas von ihm. Es sind jetzt gerade vier Jahre, daß er in Oberschlesien Oberst und Regimentskommandeur wurde. Den Namen der Garnison hab ich vergessen; übrigens auch ohne jede Bedeutung für das, was kommt. Er nahm Wohnung in dem Hause der verwitweten Frau von Zacha, richtiger Woronesch von Zacha, in deren bloßem Namen schon, wie Dir nicht entgehen wird, eine ganze slawische Welt harmonisch zusammenklingt. Frau von Zacha war eine berühmte Schönheit gewesen; ihre Tochter Cécile war es noch. Jedenfalls fand es der Oberst und verlobte sich mit ihr. Vielleicht auch, daß er sich in dem Nest, das ihm die Residenz ersetzen sollte, bloß langweilte. Gleichviel. Drei Tage nach der Verlobung empfing er einen Brief, worin ihm Oberstlieutenant von Dzialinski, der älteste Stabsoffizier, seitens des Offiziercorps und als Vertreter desselben die Mitteilung machte, daß diese Verlobung nicht wohl angänglich sei. Daraus entstand eine Szene, die mit einem Duell endete. Dzialinski wurde durch die Brust geschossen und starb vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden. Das Kriegsgericht verurteilte St. Arnaud zu neun Monaten Festung, wobei, neben seiner früheren Beliebtheit, auch die Tatsache mit in Rechnung gestellt wurde, daß er provoziert worden war. Provoziert, so gerechtfertigt die Haltung Dzialinskis und des gesamten Offiziercorps gewesen sein mochte.«

 

Gordon legte den Brief aus der Hand und wiederholte: »So gerechtfertigt diese Haltung gewesen sein mochte. Warum? Wodurch? Aber was frag ich? Clothilde wird mir die Antwort nicht schuldig bleiben.«

Und er las weiter.

»Und hier ist nun die Stelle, mein lieber Robert, wo Herr von St. Arnaud zurück- und Frau von St. Arnaud in den Vordergrund tritt. Was lag vor, daß das Offiziercorps gegen seinen eigenen Obersten Front machen mußte? Cécile war eine Dame von zweifelhaftem oder, um milder und rücksichtsvoller zu sprechen, von eigenartigem Ruf. Als sie kaum siebzehn war, sah sie der alte Fürst von Welfen-Echingen und ernannte sie bald danach, und zwar nach wenig schwierigen Verhandlungen mit Frau von Zacha, zur Vorleserin seiner Gemahlin, der Fürstin. Die Fürstin war an derartige ›Ernennungen‹ gewöhnt, erhob also keinen Widerspruch. So kam Cécile nach Schloß Cyrillenort, lebte sich ein, begleitete das fürstliche Paar auf seinen Reisen, war mit demselben in der Schweiz und Italien, las am Teetisch vor (aber selten) und blieb im Schloß, als die alte Fürstin gestorben war. Nicht sehr viel später schied auch der Fürst selbst aus dieser Zeitlichkeit und hinterließ dem schönen Tee-Fräulein ein oberschlesisches Gut, zugleich mit der Bestimmung, daß es ihr freistehen solle, Schloß Cyrillenort noch ein Jahr lang zu bewohnen. Es lag dem schönen Fräulein aber fern, aus diesem ihr bewilligten ›Witwenjahr‹ irgendwelchen Nutzen ziehen oder sich überhaupt unbequem machen zu wollen, und erst als Prinz Bernhard, der Neffe, zugleich Erbe des verstorbenen Fürsten, auch seinerseits den Wunsch äußerte, ›daß sie Schloß Cyrillenort nicht verlassen möge‹, gab sie diesem Wunsche nach und blieb. Prinz Bernhard kam von Zeit zu Zeit zu Besuch, dann öfter und öfter, und als das ›Trauerjahr‹ um war, zog er von Schloß Beauregard, das er bis dahin bewohnt hatte, nach dem Hauptsitz und Stammschloß der Familie hinüber. Sonst blieb alles beim alten; nichts änderte sich, auch nicht in den Ausflügen und Reisen, die nur weiter gingen und bis Algier und Madeira hin ausgedehnt wurden. Denn wenn der alte Fürst alt gewesen war, so war der junge krank. Er starb schon das Jahr darauf, und man erwartete nunmehr allgemein, daß die schöne Cécile dem von ihr protegierten Kammerherrn von Schluckmann (der, nach Ableben des alten Fürsten, als Hofmarschall in die Dienste des jungen eingetreten war) die Hand zum Bunde, zum Ehebunde, reichen würde. Dieser Schritt unterblieb aber, aus Gründen, die nur gemutmaßt werden, und die schöne Frau kehrte jetzt, wie sie's schon unmittelbar nach dem Tode des alten Fürsten beabsichtigt hatte, zu Mutter und Geschwistern zurück, von denen sie sich mit Jubel empfangen sah. Eine verhältnismäßig glänzende Wohnung wurde genommen, und in dieser Wohnung war es, daß St. Arnaud, zwei Jahre später, die still und zurückgezogen lebende Cécile (damals noch katholisch) kennenlernte. Sie soll inzwischen übergetreten sein; einer Euerer beliebtesten Hofprediger wird dabei genannt.

Da hast Du die St.-Arnaud-Geschichte, hinsichtlich deren ich Dich nur noch herzlich und inständig bitten möchte, von Deiner durchgängerischen Gewohnheit ausnahmsweise mal ablassen und das Kind nicht gleich mit dem Bade verschütten zu wollen. Als Leslie-Gordon kennst Du natürlich Deinen Schiller und wälzt hoffentlich mit ihm, als ob es sich um Wallenstein in Person handele, die größere Schuldhälfte ›den unglückseligen Gestirnen‹ zu. Wirklich, mein Lieber, an solchen unglückseligen Gestirnen hat es im Leben dieser schönen Frau nicht gefehlt. Ihre frühesten Jugendjahre haben alles an ihr versäumt, und wenn es auch nicht unglückliche Jahre waren (vielleicht im Gegenteil), so waren es doch nicht Jahre, die feste Fundamente legen und Grundsätze befestigen konnten. Eva Lewinski, die, wie Du Dich vielleicht entsinnst, lange bei den Hohenlohes in Oberschlesien war und ihre Kinderjahre mit Cécile verlebt hat, hat mir versprochen, alles aufzuschreiben, was sie von jener Zeit her weiß. Ich schließe diesen Brief erst, wenn ich Evas Zeilen habe… Diesen Augenblick kommen sie. Lebe wohl. Elsy ist in Görlitz bei der Großtante, daher kein Gruß von ihr. In herzlicher Liebe

Deine Clothilde«

Kapitel Achtzig

Gordon war in der höchsten Erregung. Einzelnes, was er in der Charlottenburger Villa, gleich nach seinem Eintreffen in Berlin, und dann gestern wieder aus dem Munde des alten Generals gehört hatte, hatte freilich nicht viel Gutes in Sicht gestellt, aber dieser Schlag ging doch über das Erwartete hinaus. Fürstengeliebte, Favoritin in duplo, Erbschaftsstück von Onkel auf Neffe! Und dazwischen der Kammerherr ein Schatten, der sich schließlich gesträubt hatte, sich zum Ehemann zu verdichten.

Er warf den Brief fort und erhob sich, um in hastigen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. Dann aber trat er an das zweite, bis dahin geschlossene Fenster und riß auch hier beide Flügel auf, denn es war ihm, als ob er ersticken solle.

Der eingelegte Zettel von Eva Lewinski (nur ein halber, eng bekritzelter Briefbogen) war auf den Teppich gefallen. Er nahm ihn jetzt wieder auf und sagte: »Besser alles in einem. Lieber die ganze Dosis auf einmal als tropfenweis. Und wer weiß, vielleicht ist auch etwas von Trost und Linderung darin.«

Und er setzte sich wieder und las.

»An alles andre, meine liebe Clothilde, hätt ich eher gedacht als daran, daß ich noch einmal in die Lage kommen könnte, von der Familie Zacha zu plaudern. Und zu Dir! Nun, wir waren Nachbarn, und solange der alte Zacha lebte, der übrigens nicht alt war, ein mittlerer Vierziger, ging es hoch her. Er war ein Betriebsdirektor bei den Hohenlohes, verstand nichts und tat nichts (was noch ein Glück war), gab aber die besten Frühstücke. Kavalier, schöner Mann und Anekdotenerzähler, war er allgemein beliebt, freilich noch mehr verschuldet, trotzdem er ein hohes Gehalt hatte. Plötzlich starb er, was man so sterben nennt; die Verlegenheiten waren zu groß geworden. Das ›Wie‹ seines Todes wurde vertuscht.

Ich sehe noch die Frau von Zacha, wie sie dem Sarge folgte, tief in Trauer und angestaunt von der gesamten Männerwelt. Denn Frau von Zacha, damals erst dreißig, war noch schöner als Cécile. Diese mochte zwölf sein, als der Vater starb, aber sie wirkte schon wie eine Dame, darauf hielt die Mutter, die wohl von Anfang an ihre Pläne mit ihr hatte. Verwöhntes Kind, aber träumerisch und märchenhaft, so daß jeder, der sie sah, sie für eine Fee in Trauer halten mußte.

Kurz nach dem Tode des Vaters ging es. Die junge Herzogin auf Schloß Rauden, die sich für die schöne Witwe mit ihren drei Kindern interessierte, gab und half. Aber die Wirtschaft war zu toll, und so zog sie zuletzt ihre Hand von den Zachas ab. Alles, was diesen blieb, beschränkte sich auf eine kleine Pension. An Erziehung war nicht zu denken. Frau von Zacha lachte, wenn sie hörte, daß ihre Töchter doch etwas lernen müßten. Sie selbst hatte sich dessen entschlagen und sich trotzdem sehr wohl gefühlt, bis zum Hinscheiden ihres Mannes gewiß und nachher kaum minder. Es stand fest für sie, daß eine junge schöne Dame nur dazu da sei, zu gefallen, und zu diesem Zwecke sei wenig wissen besser als viel. Und so lernten sie nichts.

Oft mußten wir lachen über den Grad von Nichtbildung, worin Mutter und Töchter wetteiferten. Alle Quartal kam ihre Pension. Dann gaben sie Festlichkeiten und schafften neue Rüschen und Bänder an, auch wohl Kleider, aber immer noch Trauerkleider, weil die Mutter wußte, daß ihr Schwarz am besten stände. Vielleicht auch, weil sie gehört hatte, daß Königin-Witwen die Trauer nie ablegen.

Sie hatte ganz verschrobene Ideen und war abwechselnd unendlich hoch und unendlich niedrig. Sie sprach mit der Herzogin auf einem Gleichheitsfuß, am liebsten aber unterhielt sie sich mit einer alten Waschfrau, die in unsrem Hause wohnte. War dann das Geld vertan, was keine Woche dauerte, so hatten sie zwölf Wochen lang nichts. Es wurde dann geborgt oder von Obst aus dem Garten gelebt, und wenn auch das nicht da war, so gab es ›Pilzchen‹. Aber glaube nur nicht, daß ›Pilzchen‹ wirklich Pilze gewesen wären. Pilzchen waren große Rosinen, in welche, von unten her, halbe Mandelstücke gesteckt wurden. Das war mühevoll genug, und mit Anfertigung davon verbrachte Frau von Zacha den ganzen Vormittag, um die Götterspeise dann mittags auf den Tisch zu bringen. Inmitten des Schüsselchens aber lag, um auch das nicht zu verschweigen, eine besonders große Rosine, die nicht nur den ihr zuständigen Mandelfuß hatte, sondern auch noch von zwei horizontal liegenden und ebenfalls aus Mandelkern geschnittenen Speilerchen kreuzartig durchstochen war. An den vier Spitzen dieser Speilerchen saßen dann ebenso viele kleine Korinthen und stellten das morceau de résistance her, das in der Sprache der Zachas ›le Roi Champignon‹ hieß. Eine Bezeichnung, von der die Leute sagten, daß sich sowohl der Witz wie das damalige Französisch der Familie darin erschöpft habe.

Dies, meine liebe Clothilde, sind meine persönlichen Erlebnisse, Kindererlebnisse. Was dann weiter kam, weißt Du besser als ich. Wie immer Deine

Eva L.«

Gordon hielt den Zettel in der Hand und zitterte. Dann aber war es mit eins, als ob er seine Ruhe wiedergefunden habe. »Ja, das entwaffnet! Großgezogen ohne Vorbild und ohne Schule, und nichts gelernt, als sich im Spiegel zu sehen und eine Schleife zu stecken. Und nie zu Haus, wenn eine Rechnung erschien. Und doch tagaus und tagein am Fenster und in beständiger Erwartung des Prinzen, der vorfahren würde, um Kathinka zu holen oder vielleicht auch Lysinka, trotzdem beide noch Kinder waren. Aber was tut das? Prinzen sind fürs Extreme. Vielleicht nimmt er auch die Mutter. Alles gleich, wenn er nur überhaupt kommt und überhaupt wen nimmt. Sie gönnen sich's untereinander. Er ist ja generös, und dann können sie weiterspielen. Ja, spielen, spielen; das ist die Hauptsache. Nur kein Ernst, nicht einmal im Essen. Ach, wer schön ist und immer in Trauer geht und ›Pilzchen‹ ißt, der ist für die Fürstengeliebte wie geschaffen. Arme Cécile! Sie hat sich dies Leben nicht ausgesucht, sie war darin geboren, sie kannt es nicht anders, und als der Langerwartete kam, nach dem man vielleicht schon bei Lebzeiten des Vaters ausgeschaut hatte, da hat sie nicht nein gesagt. Woher sollte sie dies ›Nein‹ auch nehmen? Ich wette, sie hat nicht einmal an die Möglichkeit gedacht, daß man auch ›nein‹ sagen könne; die Mutter hätte sie für närrisch gehalten und sie sich selber auch.«

Er drehte den Zettel noch immer zwischen den Fingern, zupfte daran und knipste gegen Rand und Ecken, alles, ohne zu wissen, was er tat. Endlich erhob er sich und sah auf die Baumwipfel hinüber, die jetzt in vollem Morgenlichte lagen.

»Die Nebel drüben sind fort, aber ich stecke darin, tiefer, als ob ich auf dem Watzmann wär. Und ist man erst im Nebel, so ist man auch schon halb in der Irre. Que faire? Soll ich den Entrüsteten spielen oder ihr sagen: ›Bitte, meine Gnädigste, schicken Sie den Hofprediger fort, ich bin gekommen, um Ihre Beichte zu hören.‹ Und dann zum Schluß: ›Ei, ei, meine Tochter.‹ Oder soll ich ihr von Bußübungen sprechen? Oder von den Zehn Geboten? Oder vom höheren sittlichen Standpunkt? Oder gar von der verletzten Weiblichkeit? Ich habe nicht Lust, mich unsterblich zu blamieren und Zeuge zu sein, daß sie lächelt und klingelt und ihrer Zofe zuruft: ›Bitte, leuchten Sie dem Herrn.‹«

 

Er trat, als er so sprach, vom Fenster an die Spiegelkonsole, wo, neben Uhr und Notizbuch, auch sein Zigarrenetui lag.

»Ich werde mir eine Gleichmuts-Havanna anzünden und die eine Wolke mit der andern vertreiben. Similia similibus. Kolonel Taylor pflegte zu sagen, ›alle Weisheit stecke im Tabak‹. Und ich glaube fast, er hatte recht. Ich werde meine Besuche bei den St. Arnauds ruhig fortsetzen und mir gar keinen Plan machen, sondern alles dem Augenblicke überlassen. Ich glaube wirklich, das ist das beste: sie freundlich ansehen und mit ihr plaudern wie zuvor, als wüßt ich nichts und als wäre nichts vorgefallen… Und am Ende, was ist denn auch vorgefallen? Was kümmert mich Serenissimus und sein Tee-Fräulein? Oder Serenissimus II.? Oder gar der Kammerherr und Hofmarschall? Ach, wenn ich jetzt an Jagdschloß Todtenrode zurückdenke… Deshalb schrak sie zusammen und wandte sich ab, als wir in die gespenstischen Fenster guckten. Und schon vorher, in Quedlinburg, als ich über die Schönheitsgalerien und die Gräfin Aurora so tapfer perorierte, schon damals war es dasselbe. Nun klärt sich alles… Arme, schöne Frau!«