50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2

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Kapitel Dreizehn

»Pate! – Ein Brief von Josi! Er ist gesund, es geht ihm gut.« Mit strahlendem Gesicht jubelt es die sonst zur Stille geneigte Vroni und hält den in großen ungefügen Buchstaben gemalten Brief in zitternden Händen. »Hört, wie er lautet:

»Liebes Schwesterlein! Ich will Dir auch wieder einmal berichten, wie's mir geht. Es geht mir gut und George Lemmy ist recht mit mir, aber scharf und vom Schaffen klöpft mir schier der Rücken. Das ist gesund. Wir sind jetzt an einem Berg, der heißt Himalaja. Die Stadt heißt Srinigar, aber wir sind nicht darin. Wir machen eine Straße. Liebes Vroneli, Du wirst denken, ich schreibe nicht schön. Das kommt vom Felsensprengen und Du mußt nicht lachen. Thue dich gar nicht kümmern wegen mir. Bet und denk an die Mutter selig. – Und an den Vater selig, was ich auch thue. Es ist dann noch etwas wegen der Binia, aber sie hat es Dir gewiß schon erzählt. Und wenn ich in der Nacht zwei Sternlein beisammen sehe, so sage ich: ›Du liebes Bineli – du liebes Vroneli‹. Ich muß manchmal in den Hemdärmel beißen, sonst würde ich brüllen. Der Indergand vertreibt mir etwa das Heimweh. Das Papier ist aus. Ich lasse das Bineli tausendmal grüßen. Dich auch, den Eusebi und alle. Und ich komme dann schon wieder heim. Schreibe mir recht bald. Dein treuer Bruder Josi. Die Adresse steht auf dem Umschlag.«

Noch am gleichen Tag schrieb Vroni einen viel größeren Brief, als sie empfangen, an Josi. Wie in ihrer Hand die Feder gut lief!

Aber über eine Stelle hinweg wollte sie nicht gehen, auf diese fielen ein paar Tropfen, die den schönen Brief fast verdarben.

Die unglückselige Liebe zu Binia! Sie wollte dem Bruder nichts Betrübliches schreiben, aber sie wußte schon, daß aus dieser Liebe nichts Gutes entstehen konnte. Binia war fast noch die Schlimmere als Josi. Auch jetzt kam sie gelaufen und bat und bettelte, daß sie den Brief lesen dürfe. Als sie ihren Namen darin sah, wurde sie ganz überstellig und tanzte mit Vroni. Und unter den Brief Vronis schrieb sie:

»Tausendmal geliebter Josi! Denke nur immer an die zuckenden Vögel von Santa Maria del Lago und lasse die Hoffnung nicht fahren. Sie haben schon den Tod gesehen, und nun stiegen sie doch über Land und Meer. In herzlicher Liebe und Treue. Dein Bineli.«

Vroni sah den Gruß mit Schmerzen, der trotzige Mut Binias, die doch mehr einer wehrlosen Blume als einer Kämpferin glich, kam ihr wie eine Vermessenheit vor.

Von diesem Kummer abgesehen, ging es Vroni gut.

Wenn sie am Sonntagmorgen mit dem Garden, der Gardin und Eusebi im Glotterhütchen, unter dem die zwei blonden Zöpfe niederhingen, mit blauen lachenden Augen, das hellseidene gefranste Brusttuch über die junge Fülle gekreuzt, das silberbeschlagene Betbuch und den Rosmarinstrauß in den Händen, sittig die Kirchentreppe zum Kirchhof hinaufschritt, so flüsterten die Leute: »Wenn nichts Ungeschicktes dazwischen kommt, so giebt die keine Wildheuerin.«

Am hübschesten aber war die Zwanzigjährige wohl, wenn sie mit Rechen und Gabel frisch und gesund im Morgentau über die Wiesen schritt. Etwas vom stillen Wesen der Gardenfamilie war auf sie übergegangen, ein rasches Vorwärts, ein lautes Thun war nicht ihre Sache, aber was sie in Ruhe that, ging ihr mühelos und anmutig von der Hand. Und wo sie in stillem Frohsinn mitwerkte, lief allen alles leicht, die Knechte sogar sagten es.

Und sie selber wünschte sich nichts Schöneres, als das wandernde Sommerleben der Bauernleute von St. Peter. Für ein paar Tage ritt man, das Notwendigste zum Unterhalt mitnehmend, nach Hospel in die Reben, wo jeder Bauer von St. Peter ein kleines Haus besaß, dann hielt man sich einige Tage auf der Maiensasse auf, um dort das Vieh grasen zu lassen oder zu heuen, wieder etwas später arbeitete man auf dem Acker beim Dorf und am Sonntag ritt die Familie auf die Alpen zu Besuch.

Da saß der ganze Haushalt mit den Knechten vor der Hütte, die Glocken des Viehes klangen friedlich in die tiefe Stille und die Enzianen standen wie im Gebet.

»Vroni, erzähle eine Geschichte,« sagte das eine Mal der Garde, das andere Mal die Gardin, selbst Bonzi, der Viehknecht, war ein dankbarer Zuhörer, und mancher, der des Weges kam, setzte sich auch hinzu, Vronis Glockenspiel hatte bald eine kleine Gemeinde, darunter junge hübsche Burschen, die sich nicht bloß wegen der Geschichten in den Kreis drängten.

»Sie ist halt grad wie die Fränzi selig, darum hält sie der Garde so in Ehren.«

So sprach man im Dorfe, und niemand war Vroni gram, die Burschen aber waren ihr gut.

»Frau,« sagte der Garde, »wir müssen uns entscheiden. Es geht um das Mädchen wie um frisches Brot. Vor vierzehn Tagen hat der Fenkenälpler gefragt, ob sein Aeltester am Sonntag zum Mittagessen kommen dürfe. Er würde Vroni gern einen Antrag machen. Heute ist der alte Peter Thugi gekommen und hat so eindringlich gebeten, wir möchten sie dem jungen Peter geben, er sei ein so guter und ehrbarer Mann. Ich habe aber beiden abgewinkt.«

»Hättest du doch lieber zugesagt,« schmollte die Gardin, »Vroni setzt sich sonst noch in den Kopf, sie bekomme Eusebi.«

»Geschehe nichts Schlimmeres!« erwiderte der Garde.

»Und ich meine, es wäre jetzt, wo Eusebi im Militärdienst ist, gerade die rechte Gelegenheit, daß wir Vroni aus dem Haus bringen, natürlich in allen Ehren. Ich habe nichts gegen sie – es geht mir nur so stark gegen das Herz, daß unser einziger ein Wildheuermädchen nehmen soll. Hätte ich drei Buben, so könnte einer schon Vroni nehmen – aber der einzige. Wir sollten doch auch auf eine gute Verwandtschaft sehen! Und Eusebi ist so zuweg, daß er überall anfragen darf.«

»Das thätest du deinem Buben zuleide, daß du Vroni in seiner Abwesenheit gehen ließest. – Nein, Gardin, Vroni bleibt da!«

Mit Festigkeit erklärte es der Garde.

Frisch und lebensfroh kam Eusebi vom Dienst zurück. »Vater, ich habe mich furchtbar zusammennehmen müssen, daß ich immer nachgekommen bin, aber es ist gut gegangen.« Das spürte man Eusebi an. Er erzählte seine Erlebnisse so hellauf, wie ihn noch nie jemand gesehen.

»Ja, aber Eusebi,« lachte der Garde, »bei uns giebt's auch Neuigkeiten. Vroni bleibt wohl nicht mehr lang da, die Burschen im Dorf gucken sich fast die Augen aus nach ihr, und zwei, die ich nicht verraten will, haben sich schon als Freier gemeldet.«

Vroni, die dabei stand, als der Garde so redete, glühte wie eine Rose auf: »Ich will aber keinen, ich bleibe bei euch, Garde. Und wer wollte sich auch im Ernst um mich kümmern? Es ist mir am wohlsten, wenn ich ledig bleibe.«

Schön war sie in ihrer tiefen Verlegenheit, wie sie, das Haupt gesenkt, mit zitternden Fingern an den Haften ihres Mieders nestelte.

Eusebi aber riß an seinem Schnurrbärtchen, daß es ihm in den zuckenden Fingern geblieben wäre, wär's nicht so fest angewachsen gewesen. Wie unvorsichtig war es, denn der blonde Schnurrbart machte sein Gesicht beinahe hübsch!

Am Abend überraschte die Gardin ihren Sohn, wie er bei Vroni am Herdfeuer in der Küche stand und das Blondhaar des abwehrenden Mädchens zu streicheln versuchte und immer wiederholte: »Gelt, liebe Vroni, es ist dir doch nicht ernst, daß du ledig bleiben willst?«

Halb freute, halb ärgerte sich die Gardin. Nein, das war nicht mehr der scheue, blöde Eusebi. Mit einem Scheit jagte sie ihn aus der Küche und Vroni hielt sie eine Predigt.

Der erwachende Eusebi warb aber so freimütig um Vroni, daß ihre Stellung zwischen Sohn und Mutter immer schwieriger wurde und sie Mühe hatte, sich in den Augen der Gardin untadelig zu benehmen.

Bald aber überschattete ein trauriges Ereignis das im Hause aufblühende sanfte Liebesspiel.

Mehr als ein halbes Jahr, nachdem Vroni ihren Brief mit dem Zusatz von Binia an Josi geschickt hatte, mitten im tiefen Winter, kam das Schreiben, mit vielen Stempeln bedeckt, an zwei Stellen etwas durchschnitten, an sie zurück und auf der Rückseite stand: »Addressee died in the cholera-hospital at Srinigar.« Diensteifrig hatte Thöni schon die Übersetzung auf den Umschlag gefügt: »Der Adressat ist im Cholerahospital zu Srinigar gestorben.« Darunter stand irgend ein Stempel.

Vroni hielt die Botschaft noch in den bebenden Händen, da kam schon Binia in aufgeregter Hast dahergeeilt; »Vroni, liebe Vroni, gelt, das ist nicht wahr, er lebt!«

Vroni aber, die, ihrer Sinne nicht mächtig, auf einen Schemel gesunken war, rief immer nur, daß sich die Wände hätten erbarmen mögen: »Es ist halt nach dem Kirchhoflied gegangen, Josi, mein Herzensbruder, ist tot – o, als er ging, habe ich es gewußt, daß er sterben würde!«

Die großen dunklen Augen Binias erweiterten sich schreckhaft.

Das bereitwillige Eingehen auf die Todesbotschaft und der Zusammenbruch Vronis erschütterten sie mehr als die erste Nachricht, um ihren Mund zuckte das Weinen, sie wankte hinaus in die Winterdämmerung. »Es ist nicht wahr! – Diejenigen, die gelobt haben, für die heligen Wasser an die Weißen Bretter zu steigen, können ja nicht krank werden und nicht sterben, bis ihr Gelübde erfüllt ist.«

Im Volksglauben suchte sie Trost.

Zuerst mißtraute auch der Garde und das ganze Dorf der Todesbotschaft. Hatte man Josi Blatter nicht schon einmal für tot gehalten und dann war er doch wieder lebendig zum Vorschein gekommen!

»Hat er sich gemeldet?« fragte man Vroni. »Nein, das nicht – ich habe nichts gesehen und nichts gehört.«

»Dann lebt er, dem nächsten Verwandten muß sich ein Sterbender melden, und ginge sein Weg über das weite Meer. Vor zwei Jahren hat sich in Tremis einer, der in Amerika gestorben ist, seinem Bruder angezeigt.«

Allein die Tröstungen des Volksglaubens hielten nicht stand vor der herben Wirklichkeit. Der Garde nahm den Brief bei der ersten Gelegenheit mit in die Stadt und legte ihn der Post vor. Da versicherte man ihn, die Stempel seien echt, das Schreiben sei durchschnitten, weil es auf der Rückkehr aus dem Choleragebiet geräuchert worden sei, und die Cholera sei eine Krankheit, die den gesundesten Mann in einer Stunde wegblase.

 

Der Garde erbat sich aus Bräggen die Adresse Indergands; als sie anlangte, schrieb er an den Kameraden Josis, Vroni sandte noch einmal einen Brief an Josis eigene Adresse, es kamen aber keine Antworten, ja nicht einmal mehr die Briefe zurück, auch das große amtliche Schreiben nicht, mit dem sich der Gemeinderat von St. Peter an den schweizerischen Konsul in Kalkutta wandte, und unter Angabe der näheren Umstände um einen Totenschein für Blatter ersuchte.

Unterdessen war man schon wieder in den Sommer gekommen, und Vroni sagte die Totengebete für den Bruder her, und das Schönste deuchte sie immer das Kirchhoflied:

»Du armer Knabe! Schlaf am Meere!

Sieh, Gottes sind so Flut wie Firn,

Sieh, Gottes sind die Sternenheere,

Er schickt ein Tröpfchen, das die Stirn

Mit frischem Gletschergruß umspült

Und dir das heiße Heimweh kühlt!«

Die tiefe Trauer des Mädchens hielt auch im Dorf das Andenken an Josi Blatter noch eine Weile rege.

In einer seltsamen Gewitterbeleuchtung erschien den Dörflern das kurze Leben Josis. Sein Vater war zu Tode gestürzt, durch die Schuld des Presi war der Bursche auf einen bösen Weg gekommen, er hatte zuletzt die armen Seelen beleidigt, aber schlecht war Josi doch eigentlich nie gewesen, großmütig hatte er sogar sich selbst für die fünf Verstiegenen in die Schanze geschlagen.

»Ueber den Presi aber, der dieses junge Leben zu Grunde gerichtet hat, wird es kommen!«

Das flüsterte stetig durchs Dorf.

Niemand bewies Vroni so herzliche Teilnahme wie Eusebi, und die Gardin wurde darüber eifersüchtig auf sie. Als eines Tages, just wie der Garde und Eusebi auf der Alp waren, eine leidende Fremde, die in Vronis blauen Augen das tiefe Gemüt entdeckt hatte, das Mädchen als Begleiterin anstellen wollte, riet die Gardin Vroni dringend zu: »Du bekommst es gewiß besser als bei uns – du wirst vielleicht in ein paar Jahren schon eine reiche Erbin!«

Da stürzten Vroni die Thränen hervor. Das war ein Blitz aus heiterem Himmel. Vor ihrem Bett im Kämmerlein kniete sie und schluchzte herzzerbrechend und stundenlang.

Sie merkte es nicht, wie die Männer heimkamen, wie Eusebi, er, der Langsame, die Treppe herausstürmte, wie er etwas schüchtern die Thür öffnete und in das Kämmerchen trat, sie spürte es erst, als er immer noch etwas scheu ihr weiches blondes Haar streichelte und sagte: »Vroni, weine nicht.«

»O Eusebi, ich soll fort – und ich kann nicht. Es ist mir ja nirgends wohl als bei euch!«

»Sei ruhig, Vroni, ich habe dich ja lieb,« tröstete er herzlich.

Da blickte sie mitten aus den Thränen einen Augenblick sonnig und gläubig auf, aber nur einen Augenblick:

»Eusebi, rede nicht so – du weißt, ich bin ein armes Mädchen, obwohl ihr mich wie eine Tochter gehalten habt. Es ist besser, ich gehe.«

Da rannte Eusebi aus der Kammer: »Mutter, wenn Vroni fortgeht, so gehe ich auch.«

»Sei kein Narr, Eusebi,« sagte diese überlegen und kühl, »hat je ein Bauer ein Wildheuerkind geheiratet?«

Eusebi tobte und stürmte in die Stube: »Hast du's gehört, Vater – Vroni geht fort.«

Der Garde saß breit am Tisch und stützte den Kopf in beide Fäuste: »Thorheiten – Thorheiten,« murmelte er vor sich hin.

Da jagte Eusebi, der lebendig geworden, wieder fort, hinauf in sein eigenes Kämmerlein, kam aber bald zurück und die Bäuerin schlug die Hände zusammen.

»Seit wann trägt man das Sonntagsgewand zum Werktagsfeierabend?« spottete sie.

»Ich trag' es, weil ich jetzt fortgehe, Mutter – mit Vroni zusammen suche ich einen Dienst.«

Die Gardin kannte ihren zahmen Eusebi nicht mehr, seine Augen blitzten nur so. Da nahm sie ein Scheit, drohte dem schnurrbärtigen Sohn und rief zornig: »Auf der Stelle legst du das Sonntaggewändchen ab, du, – du –«

Eusebi hatte das Scheit, das die Mutter hochhielt, ergriffen, mit einem Ruck warf er es weit weg: »Mutter, so geht es nicht mehr!«

Da schrie die Gardin in die Stube: »Alter, hörst du nichts. Eusebi will mir nicht mehr folgen. O, der Lümmel – der Lümmel!«

»Nein, beim Eid folge ich Euch nicht mehr,« trotzte Eusebi, »ich gehe jetzt mit Vroni.«

»Das ist der Segen und der Sonnenschein, von dem der Alte immer geredet hat. – Einen ungeratenen Buben habe ich jetzt durch sie – Garde – Garde – bist du taub geworden, warum hilfst du mir nicht?« Und sie riß ihm die eine Armstütze vom dicken grauen Haupt hinweg.

Da merkt sie erst, wie der Garde so stark, daß er es nicht mehr verhalten mochte, vor sich hin lachte.

»Was ist auch das, du lachst!« Sie war verwirrt und wütend.

»Ich lache, weil der Eusebi ein Mann geworden ist. Ich kann dir nicht sagen, wie gut er mir jetzt gefällt.« Die großgewachsene Gardin wurde ganz zahm, ernüchtert grollte sie: »O, ihr wüsten Männer!«

In dem Augenblick kam Vroni sonntäglich gerüstet und schluchzte: »Nur danken möcht' ich euch für alles Liebe und Gute, aber Streit soll es meinet – –« Ihre Stimme erstickte.

»So lebe wohl, liebes Vroneli,« sagte der Garde, nicht traurig, sondern gemütlich, »Eusebi wird schon recht zu dir schauen.«

Die Gardin war starr.

Und Eusebi sagte tief bewegt: »Also lebet wohl, ich habe halt Vroni zu lieb, ich gehe jetzt mit ihr – behüte dich Gott, Vater – behüte dich Gott, Mutter!«

Als er nun aber Vroni, die, gerüttelt von Leid, die Stube schon verlassen hatte, folgte, da rief die Gardin ihrem Manne zu: »Du Rabenvater, deinen Einzigen lässest du nur so in die Fremde gehen – wenn er jetzt ein armes Knechtlein wird – der Sohn des Garden von St. Peter.«

Sie weinte aus heißem mütterlichem Herzen und der Garde knurrte: »Man muß ihm halt dann und wann einen Napoleonschicken.«

Da eilte die Gardin unter die Hausthüre und schrie aus Leibeskräften: »Eusebi – lieber Eusebi – komm zurück.«

Die beiden Flüchtlinge waren noch nicht weit gegangen, denn Vroni suchte Eusebi durchaus zu bereden, daß er zu den Eltern zurückkehre, sie wolle kein Glück auf einen Streit bauen. Vor dem Disput mit Vroni aber hörte Eusebi die Mutter nicht rufen.

Nun schritt das junge Paar vorwärts.

Da schrie die Gardin in ihrer Herzensangst: »Vroni! – liebes Vroneli – kehr um!« und wirr durcheinander: »Vroni – Eusebi – Vroneli – Eusebi, ums Himmels willen – kommt doch wieder!«

Da stutzten die Flüchtlinge, und jetzt ertönte hinter der Mutter der fröhliche Ruf des Vaters: »Kommt jetzt nur wieder!«

Eusebi zog sein Mädchen mit einem Juchschrei zurück; halb noch ergrimmt, halb gerührt wischte die Gardin die Thränen ab und grollte dem Garden: »Ich habe nicht gemeint, daß du ernster Mann in deinen alten Tagen noch so ein Erzschalk sein könntest, aber drei sind stärker als eines, ich merke es und will mit euch in Liebe auskommen. Gieb sie nur zusammen.«

Vroni lag an der Brust des Garden und der neigte sich auf sie und küßte sie. »Du warst immer mein Kind, jetzt bist du's erst recht, du sanfte, stille Wunderthäterin, die meinen Eusebi aus einem Thoren zu einem ganzen Manne gemacht hat.«

Die Gardin streckte Vroni die Hand hin und schluchzte:

»In mein Herz kann ich fast niemand einlassen, das ist so herb, aber jetzt, Vroni, bist du drinnen – nenne mich Mutter und eine gute Mutter will ich dir sein!«

In die Wohnung des Garden flutete das Abendgold. Feierlich bewegt stand der Alte, den funkelnden Zinnteller in der Hand. Er brach einen Bissen Käse wie ein Felsklötzchen und schenkte braungoldenen Hospeler in ein einziges Glas.

»Nehmet, esset und trinket!« Er reichte die Hälfte des Bissens, der ein einziges Stück gewesen war, Eusebi, die andere Hälfte Vroni und bot ihnen das Glas.

»Eusebius Zuensteinen und Veronika Blatter. Ich verlobe euch nach dem alten Brauch des Thales. Ihr kennt den nicht, der den Käse bereitet, und den nicht, der den Wein gekeltert hat. Väter haben es vor mehr als hundert Jahren gethan und sie haben nicht gewußt, für wen. Also sollt auch ihr thun, damit kein Geschlecht ohne den Segen der vorangegangenen sei. Die Ahnen segnen euch und wünschen euch Glück. Eusebi, Hochzeiter! – Vroni, – Braut!«

»Amen!« sprach die Gardin, die mit gefalteten Händen hinter den Liebenden stand.

Kapitel Vierzehn

»Died in the cholera-hospital at Srinigar!

« Thöni jubelte das Wort wie Siegesbotschaft durch das Haus. Der Presi sah vergnügt in das Spiel der Schneeflocken, die dicht und schwer herniederwirbelten.

Da zog es doch plötzlich wie ein Seufzer durch seine Brust: »Ich hätte Josi Blatter in St. Peter zurückhalten sollen!«

Wie er es wider Willen dachte, schritt vor dem Fenster Kaplan Johannes durch das Schneegestöber und wies ihm eine drohende Grimasse.

Die plötzliche Erscheinung des Halbverrückten, der seit seiner Vertreibung einen dämonischen Haß auf ihn und Binia warf, peinigte den Presi, ohne daß er wußte warum, wie Schicksalsdrohung. Es giebt aber einen Helfer in der Freude und einen Sorgenbrecher im Leid.

Die trostlose Binia überraschte den Vater und Thöni, die zusammen vom besten Hospeler zechten. Da stieß der schon lallende Vater sein Glas ins Leere: »Zum Wohl, Seppi Blatter – hörst du, dein Bub' ist gestorben. – Was willst du jetzt noch?« Er lachte hellauf.

Thöni, der nüchterner war, folgte dem Beispiel: »Josi Blatter, du Laushund. – Ja so, da ist Binia. – Komm, trinke auch eins auf deinen toten Schatz!« »Schändet die Toten nicht.« Mit dem gellenden Ruf sprang sie zu den beiden Männern und wischte die vor ihnen stehenden Flaschen und Gläser mit leichtem Arm vom Tisch.

»Josi lebt – er lebt!« bebte ihre Stimme. »Ihr könntet ihm sonst nicht zum Wohlsein trinken. Der Blitz vom Himmel würde in den Bären fahren!«

»Binia, wenn du so wild bist, bist du teufelsschön,« lallte Thöni.

Der Vater wollte über ihre Keckheit wüten, aber es ging nicht mehr wohl an. Am anderen und in den folgenden Tagen sagte er kein Wort, er war stillverdrießlich, und das war ein Zeichen, daß er sich selbst grollte.

Seit Binias empörtem Ruf: »Er lebt!« glaubte auch er nicht mehr, daß Josi Blatter tot sei. Nein, der stand ja immer wieder auf, wenn er schon begraben war. Um so stärker jedoch bekräftigte der Presi die Todesnachricht, wenn andere Leute darein Zweifel setzten: »Ta-ta-ta!« sagte er, »es giebt auf der Welt nichts Zuverlässigeres als die englische Post!«

Unterdessen begann eine seltsame Zeit für Binia. Sie mußte an ein Wort der alten thörichten Susi denken: »Schlaft, schlafe, Schäfchen, wenn du groß und ein schönes Mädchen sein wirst, kommen um dich viele Burschen fragen.«

Darauf hatte sie erwidert: »Ich liebe aber nur Josi.«

Nun war beides in Erfüllung gegangen: viele Freier kamen, und sie liebte nur Josi.

Gegen den Vater hatte sie Gewissensbisse. Sie fühlte sich ihm heiß verpflichtet, daß er sie nicht zwingen wollte, irgend einem jungen Manne, der ihm gerade gefiel, die Hand zu reichen. Das war ein großes Zugeständnis. Für Josi jedoch wollte sie die Liebe aller Freier ausschlagen, darüber würde er kommen. Die Todesnachricht auf dem Brief war gewiß ein Irrtum.

Der erste Freier war ein ungeschlachter Holzhändler aus dem Oberland. Als er sich mit ein paar Schoppen Hospeler Mut getrunken hatte, stieß er sie mit dem Ellenbogen in die Seite: »He, Kind, luge einmal meine Geldkatze an – was meinst – wollen mir einander heiraten? – Ich bin halt keiner von denen, die lange ›ich bitte und ich bete‹ stammeln und Küsse betteln – dummes Zeug – gerade recht geheiratet muß sein.«

»Wenn's nur so geht, ist leicht ledig bleiben,« lachte Binia.

Der Presi war es zufrieden, daß sie den ersten, die nach ihrer Hand trachteten, Körbe gab, denn es schien ihm nicht vornehm, daß ein Mädchen gleich auf einen, der ihm freundlich thut, mit offenen Armen zueilt, und er hatte den Vogel doch am liebsten im Haus. Der Gedanke, sich einmal von Binia trennen zu müssen, fiel ihm schwer.

Doch in St. Peter hätte kein junger Mann so recht den Mut gehabt, der Schwiegersohn des gefürchteten Presi zu werden. Binia allein hielt den alten freundschaftlichen Verkehr mit dem Dorfe noch aufrecht. Und sie war mehr die Freundin der Armen und Gedrückten, als der wohlhabenden Haushaltungen mit heiratsfähigen Söhnen.

 

»Vater, gebt mir noch zwanzig Franken – ich habe keinen Rappen mehr.« Sie wußte so drollig zu betteln.

»Ich spare – und du verschwendest – will wieder einer eine Geiß kaufen?« »Ja, aber wer, sag' ich dir halt nicht –«

Der Presi, der nicht geizig war, lachte und gab ihr den Betrag. Was verschlug es? Es ging ja auch viel Geld ein. Und es mußte ein leidliches Verhältnis mit dem Dorf unterhalten sein.

Die von St. Peter schauten beinahe teilnahmlos zu, wie die Touristen mit ihren Bergstöcken durch die Gegend klapperten. Besteigungen der Krone fanden jetzt jeden Sommer mehreremal, ja häufig statt und der Bären war ein echtes, rechtes Bergsteigerquartier geworden.

Gegen den Presi aber, der diese neue Zeit gebracht hatte, herrschte ein dumpfer Groll. Die Dörfler fühlten sich in St. Peter wie nicht mehr zu Hause, und wenn die Bauern auch viel Milch und allerlei anderes zu erhöhten Preisen in den Bären verkaufen konnten, so sprachen sie doch am liebsten von der alten Zeit, wo der Sommer in ruhigen Prächten durch das Thal gegangen war.

Thöni diente nicht mehr als Bergführer, er war in allen Dingen die rechte Hand des Presi. An seiner Stelle geleiteten jetzt Führer von Serbig und Grenseln, Leute, die gemerkt hatten, daß auch in St. Peter ein schönes Stück Geld zu verdienen sei, die Touristen auf die Berge.

Mit Schrecken sah Binia die wachsende Freundschaft zwischen dem Vater und Thöni.

Thöni war, so vornehm er sich gab, eigentlich doch ein recht gemeiner Kerl. Wenn er einen freien Augenblick hatte, stand er unten vor dem Haus bei den Führern und unter vielem Lachen redeten sie miteinander wüste Dinge.

Dann fuhr der Vater wohl mit einem »Gott's Sterndonnerwetter, Thöni!« dazwischen. – Wenn er ihm aber in seiner handfesten Art das Kapitel verlesen hatte, so ging alles langehin wieder glatt und gut, er hatte seine Freude an dem jungen Mann, der sich gewählt wie ein Fremder kleidete, den wohlgepflegten Schnurrbart kühn in die Welt stellte und seine vielen Geschäfte mit spielender Leichtigkeit erledigte.

Und wie wußte Thöni dem Vater zu Willen zu sein und sich seinen Launen anzupassen! Darin war er unübertrefflich.

Wie eine Hornisse aber schoß er durch das Haus, wenn er in irgend einem Gast einen Freier für Binia witterte. Und sie kamen immer zahlreicher, die Freier; aus dem Unter- und Oberland kamen die reichen Händler, die jungen Hotelbesitzer, und unter den Gästen waren nicht wenige, die für Binia schwärmten.

Der Vogel aber entschlüpfte. In Binias ganzem Wesen lag wie in ihrem schlanken Leib die Kraft stählerner Geschmeidigkeit und stählernen Widerstandes. Wo sie ein echtes Gefühl spürte, da lohnte sie es wohl mit einem Blick, daß der Freier meinte, er habe in seinem Leben noch nichts Süßeres gesehen, aber durch alles, was sie that und ließ, klang es bald schelmisch, bald traurig: »Seht ihr nicht, daß ich frei sein will? – Was zwingt ihr mich, es euch zu sagen?« Wer ihr mit zudringlichen Huldigungen zu nahe trat, den blitzte sie mit einem Blick oder einem Wort nieder, daß er sich schämte und zahm wurde wie ein kleines Maultier.

Jetzt lächelte aber der Vater nicht mehr, wenn sie einen Freier zurückwies. Mißtrauisch und grimmig loderte es aus seinen Augen. »Kind,« stieß er hervor, »wenn du meinst, du könnest mich narren!«. Und der Zorn zuckte um seine Brauen. Frau Cresenz tröstete dann auf ihre Art.

»Was sich zankt, das liebt sich,« meinte sie mit kühlem Lächeln. »Ihr werdet sehen, das Blatt zwischen Thöni und Binia wendet sich. Nur sich nicht einmischen und nicht drängen.«

Dem Presi kam eine Verbindung zwischen Thöni und Binia selber nicht mehr so unsinnig vor wie damals, als er den Garden wegen des sonderbaren Gedankens ausgelacht hatte.

Das Kind blieb dann doch in St. Peter. Sie zu zwingen hatte er aber das Herz nicht. Sie war ja noch so jung.

Die Zeit schritt, der Tag kam, wo Eusebi und Vroni, das glückliche Paar, Hochzeit hielten.

So ein schönes Fest hatte man in St. Peter noch kaum erlebt. Ein junger Verwandter der Gardenfamilie und Binia führten das Brautpaar, und wie lieblich war Vroni mit der niedlichen kleinen Krone auf dem blonden Haupt, wie hübsch der einst so häßliche Eusebi, wie sah man es ihm an, daß das Glück den Menschen verschönt.

Ans Glück dachte Binia am Morgen nach der Hochzeit, da donnerte sie der Vater an: »He, das Wildheuerkind ist am Ziel! Aber deinem Spiel schaue ich jetzt nicht mehr zu. – Meinst du, du dürfest um den toten Rebellen noch ein paar Jahre greinen. – Nichts da! Wenn du jetzt deinem Vater nach vielem Leid eine Freude bereiten willst, so zankst du dich mit Thöni nicht mehr, sondern überlegst ernstlich, ob du nicht im Frieden seine Frau werden könntest. Ich habe einen schönen Plan und daran hänge ich. Der Bären ist für unsere Gäste zu klein geworden, ich baue drüben gegen die Maiensässen hin ein Chalet im Berneroberländerstil, daß es mit seinen Balkonen ganz St. Peter überscheint. Und nun meine ich, wenn Thöni Direktor und du Frau Direktor des Hotels zur ›Krone‹ würdest, so wäre für dich gesorgt und ich könnte mein Haupt ruhig niederlegen. Thöni,« fuhr er fort, »ist aus guter Familie, er versteht das Geschäft und ich habe ihn mit der Zeit und namentlich in diesem Jahr lieb gewonnen – er ist lenksam und hört auf mich.«

Das letzte sagte der Presi mit besonderem Nachdruck.

Binia sah den Vater nur noch durch Thränen.

»O, Vater,« stöhnte sie, »mir thun Kopf und Herz weh. – – Baue doch lieber nicht. – Denke an die Leute von St. Peter, die uns jetzt schon wegen der Fremden im Bären grollen.«

»Ho, mit denen von St. Peter nehme ich es auf,« erwiderte er hart und es blitzte so bös aus seinen Augen, daß sie verstummte.

Thöni zankte, wütete, schmeichelte, er weinte vor ihr. »O Bini – Bini,« suchte er sie zu überreden, »wir hätten's so schön zusammen!«

»Thöni, ich nehme den, der mich freut, aber nicht einen, der schon mit so vielen Mädchen gelaufen ist.«

Sie sagte es ernst und bekümmert – sie hatte eine geheime Furcht vor ihm.

Doch war die Zeit da, wo Josi nach seinem Versprechen hätte zurückkehren müssen. Sie war in fieberischer Erregung, sie stand stundenlang am Fenster und schaute auf die Straße in den Herbstsonnenschein, später schaute sie in die Schneeflocken und am strahlenden Dreikönigstag sah sie, wie die Kinder ihre Häspel mit den drei papiernen Sternen drehten und hörte ihren Ruf:

»Die heiligen drei Könige mit ihrem Stern,

Sie kommen von fern und suchen den Herrn!«

So hatte sie als kleines Mädchen neben Josi den Windhapsel getragen und sich innig gefreut, wenn die drei Rosen, die gewöhnlich nicht spielen wollten, liefen.

Kein Brief kam an Vroni – kein Lebenszeichen von Josi – er kam nicht und kam nicht. Und zum Neubau fällte man das Holz.

Ja, wenn ihr dummes Köpfchen nur einsehen wollte, daß Josi gestorben ist. Mit Entsetzen gestand sie es sich: Sie sah sein liebes, offenes Gesicht nicht mehr so klar wie einst. Ihr war, leise und langsam senke sich ein feiner Nebel zwischen ihm und ihr und sein Bild weiche in die Ferne. Sie streckte die Arme aus nach ihm: »Josi, zeige mir deine schwieligen Hände – ich kann sie mir nicht mehr so recht vorstellen. – Josi, lache mit deinem trockenen und doch so herzinnigen Lachen, es klingt mir nicht mehr deutlich im Ohr. Mutter! – Mutter! – Hilf mir, daß ich nicht wanke!«

Und ein Wunder geschah! Für viele Wochen gab Thöni Grieg manchmal sein wildes, eifersüchtiges Drängen auf, er schwieg, nur in seinen Augen lag etwas Unerklärliches, etwas wie Haß und Drohung.

Er war nicht mehr der schöne Thöni, der lustige Thöni, er war ein reizbarer, übellauniger Herr mit einem aufgedunsenen rötlichen Gesicht. Sobald der Vater aus dem Haus gegangen war, wurde er nachlässig und grob, er kam alle paar Augenblicke aus der Poststube und schenkte sich Wein ein. Ein paarmal fanden Frau Cresenz oder Binia auch in der Ablage geleerte Flaschen. Und auf ihre Vorhalte grollte er: »Was hat das Weibervolk im Bureau zu thun, was geht euch die Poststube an?«