Die Schlafwandler

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IV

Inhaltsverzeichnis

Nichtsdestoweniger hatten sie nach etwa achtzehn Monaten ihr erstes Kind. Es geschah eben. Wie sich dies zugetragen hat, muß nicht mehr erzählt werden. Nach den gelieferten Materialien zum Charakteraufbau kann sich der Leser dies auch allein ausdenken.

Der zweite Roman
Esch oder die Anarchie

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

I

Inhaltsverzeichnis

Der 2. März 1903 war ein schlechter Tag für den 30jährigen Handlungsgehilfen August Esch; er hatte mit seinem Chef Krach gehabt und war entlassen worden, ehe sich noch Gelegenheit ergeben hatte, selber zu kündigen. Und so ärgerte er sich weniger über die Tatsache der Entlassung als darüber, daß er nicht schlagfertiger gewesen war. Was hätte er dem Mann nicht alles ins Gesicht sagen können, diesem Mann, der nicht wußte, was in seinem Geschäft eigentlich geschah, der sich auf die Einbläsereien eines Nentwig verließ, der keine Ahnung hatte, daß dieser Nentwig Provisionen nahm, wo es nur anging, und der wohl die Augen absichtlich verschloß, weil der Nentwig von irgendwelchen Schweinereien Kenntnis haben mußte. Und wie blödsinnig hatte er sich von denen überrumpeln lassen: sie hatten ihm in unflätiger Weise einen Buchungsfehler vorgeworfen und wenn er es sich jetzt überlegte, war es gar kein Fehler gewesen. Aber die beiden hatten so wüst in ihn hineingeschrien, daß es zu einem albernen Geschimpfe ausgeartet war, in dessen Verlauf er sich plötzlich gekündigt sah. Natürlich war ihm dann nichts anderes als das Götzzitat eingefallen, während er jetzt so allerlei Treffendes wußte, »Herr«, ja, »Herr«, hätte er sagen müssen und auf die Fußspitzen hätte er ihm dabei schauen müssen, und Esch sagte nun sarkastisch »Herr« vor sich hin, »haben Sie eine Ahnung, wie es in Ihrem Geschäft aussieht. .. «, ja so hätte er sprechen müssen, aber jetzt war es zu spät. Hinterher hatte er sich besoffen und mit einem Mädchen geschlafen, aber es hatte nichts genützt, der Zorn war geblieben und Esch schimpfte vor sich hin, während er das Rheinufer entlang zur Stadt ging.

Erhörte Schritte hinter sich und als er sich umwandte, sah er Martin, welcher, die Fußspitze des verkürzten Beines gegen das Holz gepreßt, sich in aller Eile zwischen den beiden Krücken einherschwang. Der Kerl da hinten hatte ihm gerade noch gefehlt. Esch wäre gerne seines Weges weitergeschritten, auf die Gefahr hin, mit den Krücken eins über den Schädel zu kriegen -verdient hätte er es ja, erschlagen zu werden-, aber er fühlte, daß 'es eine Gemeinheit wäre, den Krüppel nachlaufen zu lassen, und so blieb er stehen. Überdies mußte er sich nach einem Posten umtun, und Martin, der alle Welt kannte, würde ihm vielleicht etwas wissen. Der Krüppel war nachgekommen, ließ das krumme Bein baumeln und sagte schlicht: »Rausgeschmissen? « Also das wußte der auch schon. Esch entgegnete giftig: »Rausgeschmissen.« »Hast du noch Geld?« Esch zuckte die Achsel; für ein paar Tage reiche es noch. Martin überlegte: »Ich wüßte einen Platz für dich.« - »Ja, aber in die Organisation steige ich dir nicht rein.« -»Ich weiß, ich weiß, bist dir zu gut dazu... na, wirst schon noch kommen. Wohin gehen wir?« Esch hatte kein Ziel, und daher gingen sie zu Mutter Hentjens Wirtschaft hinauf. In der Kastellgasse blieb Martin stehen: »Haben sie dir ein anständiges Zeugnis gegeben?« - »Muß mir's erst holen.«-» Bei der Mittelrheinischen in Mannheim brauchen sie einen Schiffskassier oder so was Ähnliches... wenn es dir nichts ausmacht, von Köln wegzuziehen... «, sie traten ein. Es war ein mäßig grober, düsterer Raum, wohl schon seit Hunderten von Jahren eine Kneipe der Rheinschiffer; allerdings war von der langen Vergangenheit außer dem verrauchten Tonnengewölbe nichts mehr zu sehen. Die Wände hinter den Tischen waren bis zur halben Höhe braun vertäfelt und eine angebaute Bank lief die Wand entlang. Oben auf dem Bord standen Münchner Maßkrüge, und auch ein Eiffelturm aus Bronze war dort zu sehen. Der Eiffelturm war mit einer schwarz-weiß-roten Fahne geschmückt, und wenn man genauer hinsah, konnte man darauf die verwischten Goldbuchstaben des Wortes »Stammtisch« entziffern. Zwischen den beiden Fenstern aber stand ein Orchestrion mit geöffneten Flügeln und zeigte die Notenrolle und die Mechanik in seinem Innern. Eigentlich sollten die Flügel geschlossen sein, und wer die Musik zu genießen wünschte, hätte einen Nickel einwerfen müssen. Doch Mutter Hentjen ließ sich nicht lumpen und so brauchte der Gast bloß in die Mechanik zu greifen und den Hebel zu ziehen; alle Gäste Mutter Hentjens wußten, wie der Apparat zu bedienen war. Gegenüber dem Orchestrion aber wurde die ganze rückwärtige Schmalseite des Lokals von dem Büfett eingenommen, und hinter dem Büfett befand sich der große Spiegel zwischen den beiden Glasschränken mit den bunten Likörflaschen. Wenn dann Mutter Hentjen abends ihren Platz am Büfett eingenommen hatte, pflegte sie sich manchmal umzuwenden und die blonde Frisur, die wie ein kleiner steifer Zuckerhut auf dem runden, schweren Schädel saß, vor dem Spiegel abzutasten. Auf dem Büfett standen einige große Flaschen mit Wein und Schnaps. Denn die bunten Liköre aus dem Glasschrank wurden selten verlangt. Schließlich war noch zwischen dem Büfett und dem Glasschrank ein Zinkblechbecken mit Wasserhahn diskret eingebaut.

Das Lokal war ungeheizt und seine Kälte stank. Die beiden Männer rieben sich die Hände und während Esch schwer auf eine Bank sich setzte, griff Martin in das Orchestrion, das brüllend den Gladiatorenmarsch in die kalte Luft des Raumes entließ. Trotz des Lärms hörte man bald Schritte auf einer knarrenden Holztreppe, und die schloßlose Pendeltüre neben dem Büfett wurde von Frau Hentjen aufgestoßen. Sie war noch in morgendlicher Arbeitskleidung, hatte eine große blaue Kattunschürze dem Rocke vorgebunden und auch das abendliche Mieder hatte sie noch nicht angelegt, so daß ihre Brüste wie zwei Säcke in der breitkarierten Barchentbluse lagen. Nur die Frisur saß als steifer und korrekter Zuckerhut über dem blassen, ausdrucksarmen Gesicht, dessen Alter man nicht anzugeben vermochte. Aber alle wußten, daß Frau Gertrud Hentjen sechsunddreißig Jahre zählte und seit langer, langer Zeit- man hatte erst kürzlich nachgerechnet, daß es sicherlich vierzehn Jahre her sein mußten- Witwe nach dem Herrn Hentjen war, dessen gelbverbJaßte Photographie zwischen dem Gewerbeschein und einer Mondlandschaft, alle drei in schönen, schwarzen, goldverzierten Rahmen, oberhalb des Eiffelturmes prangte. Und obwohl Herr Hentjen mit seinem Ziegenbärtchen wie ein dürftiger Schneidergeselle aussah, hielt ihm seine Witwe die Treue; zumindest konnte man ihr nichts nachsagen, und wenn einer sich ihr ehrbar zu nahen wagte, so meinte sie schnöde: »Ja, die Wirtschaft würde ihm eben in den Kram passen. Nee, da wirtschafte ich schon lieber alleine.«

»Morgen, Herr Geyring, Morgen, Herr Esch«, sagte sie, »heute sind Sie aber zeitig dran.« - »Sind auch schon lang genug auf den Beinen, Mutter Hentjen«, antwortete Martin, »wer arbeitet, will auch essen«, und er bestellte Käse und Wein; Esch, dem der gestrige Wein noch immer Mund und Magen lähmte, bekam einen Schnaps. Frau Hentjen setzte sich zu den Männern und ließ sich die Neuigkeiten erzählen; Esch war einsilbig, und wenn er sich seiner Entlassung auch keineswegs schämte, es ärgerte ihn doch, daß Geyring dieses Ereignis so breittrat. »Ja, wieder einmal ein Opfer des Kapitalismus«, schloß der Gewerkschaftler seine Erzählung, »aber jetzt heißt's von neuem an die Arbeit; natürlich, der Freiherr hier darf auf der faulen Haut liegen bleiben.« Er zahlte, ließ es sich auch nicht nehmen, den Schnaps Eschs mit zu begleichen. »... Arbeitslose muß man unterstützen... «, nahm die Krücken, die neben ihm gelehnt hatten, preßte die linke Fußspitze an das Holz und klapperte zwischen den Stöcken sich schwingend hinaus.

Nachdem er gegangen war, schwiegen die beiden eine Weile; dann deutete Esch mit dem Kinn nach der Tür: »Ein Anarchist «, sagte er. Frau Hentjen zuckte die fleischige Schulter: »Und wenn schon, ist doch ein anständiger Mann... «- »Anständig ist er«, bekräftigte Esch und Frau Hentjen fuhr fort: »... aber bald genug werden sie ihn wieder packen; sechs Monate haben sie ihm schon einmal aufgebrummt. .. «, dann: »'s ist ja sein Geschäft.« Sie schwiegen wieder. Esch sann darüber nach, ob Martin schon von Kindheit an gehinkt habe; eine Mißgeburt, sagte er sich, und laut: »Der möchte mich auch zu seiner sozialistischen Gesellschaft bringen. Ich tue es aber nicht.« - »Warum nicht?« antwortete Frau Hentjen ohne Interesse. »Paßt mir nicht. Ich will hinaufkommen; Ordnung muß sein, wenn man hinaufkommen will.« Frau Hentjen konnte nicht umhin beizupflichten: »Ja, das ist richtig, Ordnung muß sein. Aber nun muß ich in die Küche. Werden Sie heute bei uns essen, Herr Esch?« Esch konnte ebensowohl hier wie anderswo essen, und schließlich, warum sollte er sich in dem eisigen Wind herumtreiben. »Daß es heuer keinen Schnee gibt«, verwunderte er sich, »der Staub macht einen ganz blind.«- »Ja, häßlich ist es draußen«, sagte Frau Hentjen, »also Sie bleiben gleich hier.« Sie verschwand in die Küche, die Pendeltür zitterte noch eine Zeitlang, und stumpf verfolgte Esch das Zittern, bis der Türflügel zur Ruhe kam. Dann versuchte er zu schlafen. Aber nun spürte er die Kälte des Raumes; er ging auf und ab, mit etwas schweren und ungelenken Schritten, nahm die Zeitung, die auf dem Büfett lag, konnte aber mit den erstarrten Fingern die Seiten nicht wenden; auch schmerzten die Augen. So entschloß er sich, die warme Küche aufzusuchen; die Zeitung in der Hand trat er ein. »Sie wollen wohl in die Töpfe riechen«, sagte Frau Hentjen, indes sie begriff, daß es im Lokal zu kalt war, und da sie dort erst nachmittags Feuer zu machen pflegte und an dieser Regel festhielt, erlaubte sie, daß er ihr Gesellschaft leiste. Esch betrachtete sie, wie sie am Herde hantierte, und hätte ihr gerne unter die Brüste gegriffen, doch der Ruf ihrer Unnahbarkeit ließ den Wunsch im Keime ersticken. Als das Küchenmädchen, das ihr in der Wirtschaft half, die Küche verließ, sagte er: »Daß Sie so alleine leben mögen.«- »Nanu«, antwortete sie, »fangen Sie jetzt auch mit der Melodie an.«- »Nein«, sagte Esch, »ich meinte bloß so.« Frau Hentjen hatte einen sonderbar starren Ausdruck bekommen; es war, als ekelte ihr vor etwas, denn sie schüttelte sich, daß ihre Brüste wackelten, und dann ging sie wieder an die Arbeit mit dem gelangweilten leeren Gesicht, das man an ihr gewohnt war. Esch, beim Fenster, las seine Zeitung und sah schließlich auf den Hof hinaus, in dem der Wind kleine Staubzyklone aufblies.

 

Später kamen die beiden Mädchen, die abends als Kellnerinnen fungierten, ungewaschen und verschlafen. Frau Hentjen, die beiden Mädchen, die kleine Magd und Esch nahmen um den Küchentisch herum Platz, jedes streckte die Ellbogen weit von sich, beugte sich tief über den Teller, und sie aßen.

Esch hatte das Offert für die Mannheimer vorbereitet; er brauchte bloß das Zeugnis beizulegen. Eigentlich war er froh, daß die Dinge so gekommen waren. Es war nicht gut, immer an einem Platz zu sitzen. Man mußte hinaus, je weiter desto besser. Und man mußte sich umtun; so hatte er es auch stets gehalten.

Nachmittags ging er zu Sternberg & Co., Weingroßhandlung und Kellereien, sein Zeugnis holen. Nentwig ließ ihn an der Holzbarriere warten, saß dick und rundlich an seinem Schreibtisch und rechnete. Esch klopfte ungeduldig mit dem harten Fingernagel auf die Barriere. Nentwig erhob sich: »Nur Geduld, Herr Esch«, er trat zur Barriere und sagte von oben herab: »Also wegen Ihres Zeugnisses,- wird schon nicht so dringend sein. Also, Geburtsdatum? Eintrittsdatum?« Esch, weggewandten Kopfes, machte ihm diese Angaben und Nentwig schrieb sie auf. Dann diktierte Nentwig und brachte das Zeugnis. Esch las es durch: »Das ist kein Zeugnis«, sagte er und gab das Papier zurück. »So, was ist es denn?« - »Sie haben mir meine Tätigkeit als Buchhalter zu bestätigen.«- »Sie, und ein Buchhalter! Sie haben ja gezeigt, was Sie können.« Jetzt war der Augenblick der Abrechnung da: »Daß man für Ihre Inventuren einen Spezialbuchhalter braucht, das will ich meinen!« Nentwigwurde stutzig.» Wassolldas heißen?«- »Es heißt, was es heißt.« Nentwig schlug um, wurde freundlich: »Mit Ihrer Aggressivität schaden Sie immer nur sich selbst; haben einen guten Posten und überwerfen sich mit dem Chef.« Esch fühlte einen Sieg, begann ihn auszukosten: »Mit dem Chef werde ich schon noch reden.«- »Meinetwegen reden Sie mit dem Chef, was Ihnen paßt«, trumpfte Nentwig auf, »also was soll's für ein Zeugnis sein?« Esch bestellte sich »pflichteifrig, zuverlässig, in allen buchhalterischen und sonstigen Comptoirarbeiten bestens bewandert.« Nentwig wollte ihn loshaben. »Wahr ist es zwar nicht, aber meinetwegen.« Er wandte sich wieder dem Schreiber zu, um die neue Fassung zu diktieren. Esch hatte einen roten Kopf bekommen: »So, es ist nicht wahr? so?... dann schreiben Sie noch dazu, >jedermann bestens zu empfehlen<, verstehen Sie?« Nentwig verbeugte sich: »Gerne zu Diensten, Herr Esch.« Esch las das neue Manuskript durch und war befriedigt. »Unterschrift des Chefs«, kommandierte er. Das war Nentwig denn doch zu stark; er schrie: »Die meine tut's Ihnen wohl nicht?!«-» Wenn Sie Einzelprokura haben, soll es mir nicht darauf ankommen«, war Eschs großmütige und großartige Antwort, und Nentwig unterschrieb.

Esch trat auf die Straße, steuerte auf den nächsten Postkasten zu. Pfiff vor sich hin; er fühlte sich rehabilitiert. Das Zeugnis hatte er, gut; es steckte in dem Umschlag mit dem Offert für die Mittelrheinische. Daß Nentwig nachgegeben hatte, zeugte für dessen schlechtes Gewissen. Die Inventuren waren also geschwindelt, man müßte also den Mann der Polizei übergeben. Ja, es war einfach Bürgerpflicht, sofortige Anzeige zu erstatten. Der Brief war im Postkasten weich und dumpf aufgeklatscht, und Esch, die Finger noch immer in der Einwurfklappe, überlegte, ob er direkt zum Polizeipräsidium gehen solle. Unschlüssig streunte er weiter. Es war nicht in Ordnung, daß er das Zeugnis abgeschickt hatte, er hätte es dem Nentwig zurückstellen müssen; erst ein Zeugnis erpressen und dann anzeigen, das war nicht anständig. Aber nun war es bereits geschehen, und ohne Zeugnis würde es auch schwer halten, den Platz bei der Mittelrheinischen Reederei zu bekommen,- es bliebe ihm rein nichts anderes übrig, als wieder bei Sternberg einzutreten. Und er malte sich aus, daß der Chef ihm für die Aufdeckung des Schwindels die Stelle Nentwigs geben würde, welcher indessen im Kerker zu schmachten hätte. Ja, aber wenn der Chef selber an den Schweinereien beteiligt war? Dann allerdings würde die polizeiliche Untersuchung die ganze Kiste zusammenbrechen machen. Dann gab es ein fallites Haus, aber keinen Platz für einen Buchhalter. Und in der Zeitung würde man von der »Rache eines entlassenen Angestellten« lesen. Und schließlich würde er der Mitwisserschaft verdächtigt werden. Und dann gab es für ihn weder ein Zeugnis, noch war irgendwo ein Posten zu finden. Esch freute sich des Scharfsinns, mit dem er alle Konsequenzen zog, aber er war wütend. »Versautes Schweinehaus«, fluchte er vor sich hin. Er stand am Ring vor dem Opernhaus, fluchte in den Wind hinein, der den kalten Staub ihm in die Augen trieb, war unschlüssig, und endlich entschied er, die Sache aufzuschieben; falls er die Stelle bei der Mittelrheinischen nicht bekommen sollte, würde immer noch Zeit sein, die Nemesis walten zu lassen. Durch den dunkelnden Abend ging er, die Hände in den Taschen seines schäbigen Überrocks vergraben, ging eigentlich mehr der Form halber bis zum Polizeipräsidium. Dort betrachtete er den Posten, und da ein Schubwagen mit Häftlingen vorfuhr, wartete er, bis alle ausgestiegen waren, und fühlte sich enttäuscht, als der Beamte schließlich den Wagenschlag zuwarf, ohne daß Nentwig zum Vorschein gekommen wäre. Er blieb noch einige Augenblicke stehen, dann kehrte er definitiv um und schlug den Weg zum Alten Markt ein. Die beiden Längsfalten, die in seinen Wangen angedeutet waren, hatten sich vertieft. » Weinpantscher«, »Essigfritze«, schimpfte er vor sich hin. Und mürrisch und unzufrieden ob des vergällten Sieges, mußte er sich wieder betrinken und mit einem Mädchen schlafen.

In dem Braunseidenen, mit dem sie sich sonst erst abends zu bekleiden pflegte, hatte Frau Hentjen denN achmittagbei einer Freundin verbracht, und nun wurde sie von ihrem gewohnten Zorn gepackt, als sie, heimkommend, dieses Haus wieder vor sich sah und dieses Lokal, in dem ihr Leben hinzubringen sie nun schon so lange gezwungen war. Gewiß, man konnte sich bei dem Geschäft etwas zurücklegen, und wenn sie von den Freundinnen wegen ihrer Tüchtigkeit belobt und umschmeichelt wurde, dann ergab sich ein kleines Wohlgefühl, das manches wiedergutmachte. Aber warum besaß sie nicht lieber einen Weißwarenladen oder ein Miedergeschäft oder einen Damenfrisiersalon, statt sich allabendlich mit diesen besoffenen Kerlen abgeben zu müssen! Wäre sie nicht durch ihr Korsett behindert gewesen, sie hätte sich vor Ekel geschüttelt, als sie ihres Hauses ansichtig wurde: so sehr haßte sie die Männer, die darin verkehrten und die sie zu bedienen hatte. Obzwar sie vielleicht noch mehr die Frauen haßte, die immer wieder so albern waren und den Männern nachliefen. Nein, von ihren Freundinnen gehörte nicht eine einzige zu diesen Weibern, die es mit den Männern hielten, sich mit diesen Subjekten vermischten, sie in sich aufnahmen wie die Hündinnen. Gestern hatte sie das Küchenmädchen im Hofe mit einem Burschen erwischt, und befriedigt juckte sie noch die Hand, mit der es die Ohrfeigen gesetzt hatte: sie hatte alle Lust, sich das Mädel nochmals vorzunehmen. Nein, Weiber waren vielleicht noch widerlicher als Männer. Am liebsten mochte sie noch ihre Kellnerinnen und alle die Dirnen, die die Männer verachteten, wenn sie mit ihnen schlafen gehen mußten: mit diesen Frauen sprach sie gerne und lange, ließ sich ihre Geschichten ausführlich erzählen, tröstete und verhätschelte sie, um sie für ihre Leiden zu entschädigen. So waren denn auch die Plätze in Mutter Hentjens Wirtschaft beliebt, und die Mädchen sahen sie als etwas Erstrebenswertes an, das sie sich möglichst zu erhalten suchten. Mutter Hentjen aber freute sich solcher Anhänglichkeit und Liebe.

Oben im ersten Stock lag ihre gute Stube: übergroß nahm sie mit ihren drei Fenstern nach der Gasse die ganze Hausbreite über dem Wirtslokal und dem Hausflur ein; im Hintergrund, dort wo unten das Büfett stand, bildete die Stube eine Art Alkoven, der mit einem verschlossenen lichten Vorhang abgegrenzt war. Hob man den Vorhang, so konnte man, wenn sich der Blick an das Dunkel gewöhnt hatte, drinnen die Ehebetten erkennen. Aber Frau Hentjen benützte diesen Raum nicht, und niemand wußte, ob er je benützt worden war. Ein derartig großes Zimmer läßt sich auch nur schwer und nur unter bedeutenden Kosten erheizen, und so war es Frau Hentjen nicht zu verdenken, daß sie die kleinere Stube oberhalb der Küche zum Wohn- und Schlafgemach erwählt hatte, hingegen den verdunkelten Saal und seine Eiseskälte zum Aufbewahren leicht verderblicher Waren verwendete. Auch die Nüsse, welche Frau Hentjen im Herbste einzuhandeln pflegte, waren dort untergebracht und lagen in schütterer Schicht auf dem Fußboden, über den zwei breite grüne Linoleumstreifen kreuzweise liefen.

Frau Hentjen, noch voller Zorn, war in das Zimmer heraufgekommen, um für den Abend Wurst ins Lokal zu holen, und weil der zornige Mensch unachtsam ist, geriet sie in die Nüsse, die mit aufreizend hartem Lärm ihr vor den Füßen herrollten. Als sie zudem noch eine zertrat, verstärkte sich ihr Zorn, und während sie, damit der Verlust nicht noch größer werde, die Nuß auflas und vorsichtig den Kern aus der zerschmetterten Schale herauslöste, und die weißen Stückehen mit der bitteren braungelben Haut in den Mund steckte, kreischte sie zwischendurch nach dem Küchenmädchen; endlich hörte das freche Luder, kam die Treppe heraufgestolpert und wurde mit einer Flut ungeordneter Scheltworte empfangen: natürlich, sich mit Burschen abgeben und Nüsse stehlen, das gehöre zusammen,- die Nüsse hätten drüben beim Fenster gelegen, und jetzt falle man schon hier bei der Türe darüber,- aus eigenem Antrieb seien die Nüsse nicht vom Fenster wegspaziert,- sie holte schon zum Schlage aus, und das Mächen duckte sich hinter seinem Arm, aber da war Frau Hentjen eine Nußschale in den Mund geraten, und so spuckte Frau Hentjen bloß verächtlich aus; dann stieg sie, von dem weinenden Mädchen gefolgt, ins Lokal hinunter.

Als sie in die Wirtsstube trat, in der schon der dicke Tabaksrauch hing, überkam sie, wie fast alltäglich, jene angstvolle Erstarrung, die kaum verständlich, dennoch nur schwer zu bemeistern war. Sie ging zum Spiegel und betastete mechanisch den blonden Zuckerhut auf ihrem Kopfe, zupfte das Kleid zurecht, und erst als sie sich ihres vorteilhaften Äußeren vergewissert hatte, kehrte die Ruhe zurück. Sie sah nun die bekannten Gesichter unter ihren Gästen, und obwohl an den Getränken doch besser zu verdienen war als an den Speisen, freute sie sich mehr der Essenden als der Trinker. Sie trat aus dem Büfett und zu den Tischen hin und fragte, ob es munde. Und mit einer gewissen Beglückung rief sie die Kellnerin herbei, wenn ein Gast noch eine Portion bestellte. Ja, Mutter Hentjens Küche durfte sich sehen lassen.

Geyring war bereits da; seine Krücken lehnten neben ihm; er hatte das Fleisch auf dem Teller in kleine Stücke geschnitten und aß nun mechanisch, während er mit der Linken eine jener sozialistischen Zeitungen hielt, von denen stets ein ganzer Pack aus seinen Taschen hervorlugte. Frau Hentjen mochte ihn gerne, einesteils weil er als Krüppel kein richtiger Mann war, andernteils weil er nicht zum Juchhe und nicht zum Saufen und nicht wegen der Mädchen herkam, sondern weil es einfach sein Geschäft verlangte, daß er mit den Schiffern und Hafenarbeitern in Fühlung blieb; und vor allem mochte sie ihn, weil er Abend für Abend seine Mahlzeiten in der Wirtschaft einnahm und ihre Kost lobte. Sie setzte sich zu ihm. »War Esch schon hier?« fragte Geyring, »er hat den Platz bei der Mittelrheinischen bekommen, tritt ihn schon Montag an.« -»Den haben wohl Sie ihm verschafft, Herr Geyring«, sagte Frau Hentjen. »Nee, Mutter Hentjen, so weit sind wir noch nicht, daß die Organisation Plätze verschaffen kann... nee, noch lange nicht ... na, auch das wird schon noch werden. Aber ich habe den Esch auf die Fährte gesetzt. Warum soll man einem braven Burschen nicht helfen, auch wenn er nicht von den unseren ist.« Mutter Hentjen zeigte dafür wenig Teilnahme: »Lassen Sie sich's nur schmecken, Herr Geyring, kriegen auch noch extra was von mir«, und sie gingzum Büfett und brachte auf einem Teller eine nicht zu starke Wurstschnitte, die sie mit einem Stengelehen Petersilie verziert hatte. Geyrings faltiges Gesicht eines vierzigjährigen Kindes lächelte ihr mit schlechten Zähnen Dank zu und tätschelte ihre weiße-r fettliehe Hand, die sie sofort etwas erstarrt zurückzog.

 

Später kam Esch. Geyring sah von der Zeitung auf und sagte: »Gratuliere, August.«- »Danke«, sagte Esch, »du weißt's also schon- glatt ist es gegangen, sofort geantwortet und engagiert. Also schönen Dank auch, daß du mich hingewiesen hast.« Aber seine Züge unter der kurzen dunklen Haarbürste hatten den hölzern leeren Ausdruck des Verärgerten. »Gerne geschehen«, sagte Martin und dann rief er zum Büfett: »Da haben wir nun unsern neuen Herrn Zahlmeister.«-» Viel Glück, Herr Esch«, antwortete trocken Frau Hentjen, indes, sie kam dann doch hervor und gab ihm die Hand. Esch, der zeigen wollte, daß nicht alles Verdienst beiMartin lag, holte sein Zeugnis aus der Brusttasche: »Es wäre ja wohl nicht so flott gegangen, wenn mir Sternberg nicht so ein anständiges Zeugnis hätte geben müssen.« Er betonte das »müssen« mit Nachdruck und setzte hinzu: »diese Schweinegesellschaft«. Frau Hentjen las das Zeugnis mit zerstreutem Blick und sagte: »Schönes Zeugnis.« Auch Geyring las das Zeugnis, nickte: »Ja, die Mittelrheinische darf wohl zufrieden sein, daß sie so eine erstklassige Kraft geheuert hat ... ich werde mir jetzt wirklich vom Präsidenten Bertrand noch eine Vermittlungsprovision auszahlen lassen.«

»Perfekter Buchhalter, perfekt, was?« brüstete sich Esch. »Schön, wenn man so etwas von sich sagen kann«, bestätigte Frau Hentjen, »jetzt sind Sie gewiß sehr stolz, Herr Esch, haben auch alle Ursache dazu; wollen Sie was essen?« Natürlich wollte er, und während Frau Hentjen wohlgefällig zusah, wie es ihm schmeckte, erzählte er, daß er nun bald rheinaufwärts reisen werde und daß er hoffe, in den Außendienst zu kommen; da gäbe es Reisen bis nach Kehl und Basel. Indessen hatten sich mehrere andere Bekannte dazugesellt, der neue Zahlmeister ließ Wein für sie alle bringen und Frau Hentjen zog sich zurück. Angewidert mußte sie feststellen, daß Esch es nicht unterließ, die Kellnerin Hede jedesmal abzutasten, wenn sie beim Tische vorbeiging, und wie er sie schließlich neben sich nötigte, damit sie mit ihnen trinke. Aber es war eine große Zeche, und als die Herren nach Mitternacht aufbrachen und Hede mitnahmen, steckte sie ihr ein Markstück zu.

Nichtsdestoweniger konnte Esch seiner neuen Stellung nicht froh werden. Es war ihm, als hätte er den Posten um den Preis seines Seelenheils oder zumindest seiner Anständigkeit erkauft. Jetzt, da es soweit war und er bei der Kölner Filiale der Mittelrheinischen sogar schon Reisevorschuß behoben hatte, überkam ihn neuerlich der Zweifel, ob er nicht doch noch die Anzeige erstatten sollte. Allerdings müßte er dann bei den Erhebungen anwesend sein, könnte nicht abreisen, und das würde fast den Verlust seiner Stelle bedeuten. Einen Augenblick dachte er daran, die Situation mit Hilfe eines anonymen Briefes an die Polizei zu lösen, aber er verwarf diesen Plan: man konnte nicht eine Unanständigkeit durch eine andere auslöschen. Zu guter Letzt ärgerten ihn sogar auch noch seine Gewissensbisse; schließlich war er kein kleines Kind, er scherte sich einen Dreck um die Pfaffen und die Moral; er hatte schon allerlei gelesen, und als ihn einmal Geyring wieder aufgefordert hatte, in die Sozialdemokratische Partei einzutreten, da hatte er geantwortet: »Nein, zu euch Anarctlisten komme ich nicht, aber damit du wenigstens zum Teil deinen Willen hast, werde ich mich vielleicht den Freidenkern anschließen.« Der undankbare Kerl hatte darauf geantwortet, daß ihm dies egal sei. So sind die Menschen; nun, Esch konnte es auch egal sein.

Zu guter Letzt tat er das Vernünftigste; er reiste termingemäß ab. Aber er fühlte sich losgerissen, die gewohnte Reisefreude wollte sich nicht einstellen, und jedenfalls ließ er einen Teil seiner Habe in Köln; auch sein Fahrrad ließ er zurück. Immerhin, sein Reisevorschuß versetzte ihn in Geberlaune. Und auf dem Mainzer Bahnsteig stehend, Bierglas in der Hand, Fahrkarte am Hut, gedachte er derer, die zurückgeblieben waren, wollte ihnen was Gutes tun, und da der Zeitungsmann eben seinen Wagen heranschob, kaufte er zwei Ansichtskarten. Vor allem hätte Martin einen Gruß verdient; freilich schreibt man einem Manne keine Ansichtskarten. So füllte er zuerst eine an Hede aus; die zweite bestimmte er für Mutter Hentjen. Dann überlegte er, daß es für Frau Hentjen, die doch stolz war, vielleicht beleidigend sein würde, zugleich mit einer Angestellten eine Karte zu erhalten, und weil es ihm heute nicht darauf ankam, zerriß er die erste und sandte bloß die an Mutter Hentjen ab; sie und alle lieben Freunde und Bekannten und die Fräulein Hede und Thusnelda grüße er herzlich aus dem schönen Mainz. Danach fühlte er sich wieder ein wenig einsam, trank ein zweites Glas Bier und fuhr weiter nach Mannheim.

Im Zentralbüro hatte er sich zum Dienst zu melden. Die Mittelrheinische Reederei-AG. besaß ein eigenes Gebäude unweit des Mühlau-Hafens, ein schweres Haus aus Stein mit Säulen neben dem Tor. Die Straße davor war asphaltiert, gut zum Radfahren; es war eine neue Straße. Das schwere schmiedeeiserne Glastor, das sicherlich leicht und geräuschlos zu bewegen war, stand halb offen und Esch trat ein; der Marmor im Vestibül gefiel ihm; über der Stiege hing ein Glasschild, auf dessen durchsichtiger Fläche in Goldbuchstaben »Direktion« zu lesen war. Er steuerte geradewegs darauf hin. Als er den Fuß auf der ersten Stufe hatte, hörte er hinter sich: »Wohin, bitte?« Er drehte sich um und sah den Portier im grauen Livreeanzug; silberne Knöpfe blitzten daran und die Mütze hatte eine silberne Borte. Das war alles sehr nett, aber Esch ärgerte sich: was ging ihn der Kerl an? er sagte kurz: »Ich habe mich hier zu melden« und wollte weiter. Der andere gab nicht nach: »Bei der Direktion? « - »Wo denn sonst?« entgegnete Esch grob. Im ersten Stockwerk mündete die Stiege in einen großen dunklen Vorraum. In der Mitte stand ein großer Eichentisch, darum herum einige Polsterstühle. Es war offenbar sehr vornehm. Wieder war einer mit Silberknöpfen da und fragte nach dem Begehr. ,,zur Direktion«, sagte Esch. »Die Herren sind bei einer Aufsichtsratssitzung «, sagte der Diener, »ist es wichtig?« Notgedrungen mußte Esch Farbe bekennen; er zog seine Papiere hervor, das Anstellungsschreiben, die Anweisung des Reisevorschusses; »'n paar Zeugnisse habe ich auch mit«, sagte er und wollte Nentwigs Zeugnis hervorlangen. Er war etwas enttäuscht, daß der Kerl es gar nicht ansah: »Damit haben Sie hier nichts zu suchen... im Erdgeschoß durch den Korridor durch und zur zweiten Stiege... erkundigen Sie sich unten.« Esch blieb einen Augenblick stehen; er wollte dem Portier den Triumph nicht gönnen, fragte nochmals: »So, nicht hier?« Der Diener hatte sich schon gleichmütig abgewandt: »Nein, hier ist das Vorzimmer des Präsidenten.« In Esch stieg Zorn auf; die machen nicht wenig Aufhebens mit ihrem Präsidenten, Polstermöbel und Silberdiener; der Nentwig möchte sich gern auch auf so etwas herausspielen; na, so ein Präsident wird auch nicht groß was anderes sein als ein Nentwig. Aber wohl oder übel mußte Esch den Rückzug antreten. Unten stand der Portier. Esch sah ihn an, ob er ein boshaftes Gesicht machte; doch da der Mann bloß gleichgültig dreinschaute, sagte Esch: »Ich muß ins Aufnahmebüro« und ließ sich den Weg weisen. Nach zwei Schritten kehrte er um, zeigte mit dem Daumen die Stiege hinauf: »Wie heißt denn der dort droben, euer Präsident?«- »Präsident v.Bertrand«, sagte der Portier und es klang darin etwas wie Respekt. Und Esch wiederholte gleichfalls ein wenig respektvoll: »Präsident v. Bertrand«; den Namen mußte er schon irgendeinmal gehört haben.

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