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Heribert Weishaupt

Freitod

Ein Troisdorf-Krimi


Heribert Weishaupt

Freitod

Ein Troisdorf-Krimi

Coverfoto: Gestaltung unter Verwendung des Fotos von gettyimages Nr. 1144296915

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© 2021

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

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Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

ISBN 978-3-96136-120-5

E-Book 978-3-96136-121-2

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Inhalt

Über den Autor

Personen

Wie alles begann …

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Anmerkung und Dank

Über den Autor:

Heribert Weishaupt wurde 1949 in Stolberg im Kreis Aachen geboren. Über vierzig Jahre arbeitete er in der deutschen Sozialversicherung im Bereich Krankenversicherung. Mit Beginn des Ruhestandes erfüllte er sich seinen Wunsch und begann mit dem Schreiben von Kurzgeschichten und Kriminalromanen. Dies ist sein siebter Kriminalroman.

Heribert Weishaupt ist verheiratet und hat zwei Söhne und vier Enkelkinder. Seit über vierzig Jahren lebt er in Troisdorf im Rhein-Sieg-Kreis.

So mancher geht fort,

um ins Wasser zu springen,

kehrt aber wieder um,

weil es regnet.

Unbekannter Verfasser

Auch der Tod wird manchmal überrascht –

durch Selbstmörder.

Unbekannter Verfasser

Personen


Ronni Kern Hauptkommissar im Kriminalkommissariat in Bonn
Frank Eisenstein pensionierter Hauptkommissar
Sybille Baum Sekretärin von Ronni Kern und Frank Eisenstein
Susie Freundin von Ronni Kern
Susanne Ohlrogge Freundin von Frank Eisenstein
Julia Tochter von Frank Eisenstein
Jochen Lippmann Firmeninhaber und Kanufahrer
Margret Lippmann Ehefrau von Jochen Lippmann
Sarah Tochter von Jochen und Margret Lippmann
Mike Brünner Freund von Sarah Lippmann
Sven Jürgens Geschäftsführer in Jochen Lippmanns Firma
Herr Stierwald Vermieter von Mike Brünners Wohnung
Arnold Schregel Jäger und Eigentümer einer Hütte im Krabachtal
Jo Ullmann Neuer Mieter der Hütte im Krabachtal
Caroline Schwester in der Reha-Klinik in Bad Oeynhausen

Wie alles begann …

Im Rhein-Sieg-Kreis …

In Troisdorf oder in einem anderen Ort …

Vielleicht in der Straße, in der Sie wohnen.

Sie konnte ihn riechen. Seinen Schweiß, seine ungewaschenen Haare, seine Bierfahne.

Das war natürlich nicht möglich. Sie wusste, er war nicht mehr da. Sie war allein im Zimmer.

Aber der Ekel war allgegenwärtig.

Dann diese Furcht, dass er wiederkommen würde. Noch betrunkener als vorher. Wieder Schläge, wieder Gewalt, wieder diese schreckliche Erniedrigung. Sie würde es nicht noch einmal ertragen können.

Die Rollladen waren heruntergelassen. Die Dunkelheit im Zimmer steigerte noch die Ungewissheit, die Angst. Nur durch den Spalt unter der Tür drang ein Hauch von Licht ins Zimmer.

Sie wollte schreien. Manchmal half das, aber sie hatte Furcht vor den unberechenbaren Folgen.

Ihr Unterleib brannte, ihr Kehlkopf schmerzte jedes Mal, wenn sie schluckte.

Zu Beginn hatte sie so getan, als ob sie mitmachte, damit nicht noch Schlimmeres passierte. Als er ihre Arme ans Bett fesselte und ihr die Luft abdrückte, um seine und ihre vermeintliche Erregung noch zu steigern, wartete sie nur darauf, dass es vorbeigehen würde. Endgültig.

Irgendwann war es vorbei. Er hatte das Zimmer verlassen und sie hörte, wie er den Fernseher einschaltete. Abartig!

Dann klingelte es und sein Freund kam.

Er bot sie an wie eine Prostituierte. Die Erniedrigung war schlimmer als die Schmerzen, die er ihr zuführte.

Hämisch sagte er: „Als Lohn für deine Dienste.“

Dann tätschelte er ihre Wange und löste ihr als Belohnung die Fessel einer Hand.

Danach war nichts mehr so, wie vorher. Sie war wie gelähmt und konnte nicht aufstehen. Sie löste die Fessel der anderen Hand, hielt den Kopf aus dem Bett und erbrach sich.

In ihrem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie hatten sich doch einmal geliebt. Wie konnte es so weit kommen? Hätte sie das vorhersehen müssen? Hatte sie die Signale einfach nicht bemerkt oder hatte sie sie ignoriert? Womöglich war sie selbst schuld? Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war – ein unmögliches Vorhaben.

Ein Gedanke kristallisierte sich heraus: Sie musste hier heraus, einfach nur weg.

Sie erhob sich und versuchte, die Schmerzen zu ignorieren. Sie kleidete sich so schnell wie möglich an, öffnete die Tür zum Wohnzimmer, durchquerte es und rannte aus der Wohnung. Sie hörte nicht die obszönen Worte, die Mike und sein Freund hinter ihr herriefen.

 

Schweißnass erreichte sie ihr Auto, startete den Motor und fuhr los. Sie hatte kein Ziel, sie wollte nur weg. Wohin war ihr gleich. Sie bog rechts ab, dann links ab, dann noch einmal links ab. Sie fuhr zu schnell. Die Ampel, die Rot zeigte, übersah sie. Zum Glück waren um diese Uhrzeit kaum Fahrzeuge unterwegs. Manchmal verschwamm die Fahrbahn vor ihren tränenvollen Augen.

Sie war völlig durcheinander.

Die Energie, die sie aufgebracht hatte, als sie die Wohnung fluchtartig verließ, war verpufft. Eine maßlose Traurigkeit und Selbstzweifel machten sich breit. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass sie selbst schuld war. Sie fühlte sich schmutzig und nutzlos.

Ihres Freundes wegen hatte sie alle Freundschaften vernachlässigt, manche sogar aufgegeben. Jetzt war sie allein, mutterseelenallein.

Sie lenkte ihren Wagen wie in Trance. Vor sich sah sie die Brücke über die Sieg. Über sich die Brücke der Autobahn. Fast in voller Fahrt holperte sie über den Bürgersteig. Auf dem Standstreifen hinter dem Bürgersteig unter der Autobahnbrücke stieg sie voll in die Bremse. Sie stieg aus. Kein Auto, keine Menschenseele war hier. Ohne den Wagen abzuschließen, verließ sie im gleichen Trancezustand, wie sie gefahren war, den Standstreifen und ging in Richtung der Brücke über die Sieg.

1
April 2019

Es war so ein trister Samstagabend, so wie die letzten beiden vorher. Seit heute stand fest, dass noch einige weitere folgen würden.

Ronnis Freundin Susie befand sich seit mehr als zwei Wochen in einer Rehabilitationsmaßnahme. Die Scheidung von ihrem Mann, er war Gynäkologe und hatte es schamlos mit einigen Patientinnen getrieben, hatte ihr sehr zugesetzt. Ihr Arzt fand, dass für sie eine Kur angezeigt war. Nach reiflicher Überlegung hatte sie zugestimmt. Damals kannte sie Ronni noch nicht. Heute hatte sich entschieden, dass die ursprünglich für drei Wochen vorgesehene Reha-Maßnahme um weitere zwei Wochen verlängert wurde. Am Morgen hatte Susie Ronni angerufen und ihn informiert. Er war darüber nicht sehr begeistert.

Ronni lebte noch nicht offiziell mit Susie zusammen, aber was hieß das schon. Wenn er nach Dienstende sagte, ich fahre nach Hause, meinte er Susies Eigentumswohnung in Siegburg-Seligenthal. Natürlich war das Wohnen in ihrer luxuriösen, hundertvierzig Quadratmeter großen Wohnung wesentlich angenehmer als in seiner sechzig Quadratmeter großen Zweizimmer-Wohnung in Bonn.

Das war aber nicht der eigentliche Grund, weswegen er sich in Susies Wohnung so wohl fühlte. Er liebte Susie und er war glücklich, wenn er jeden Tag und jede Nacht mit ihr zusammen sein konnte.

Trotzdem wollte er seine kleine Wohnung in Bonn nicht aufgeben. Man weiß ja nie …, war so ein Gedanke in der hintersten Ecke seines Gehirns. Dafür hatte er in seinem Leben auch schon zu viel Negatives erfahren, als dass er alle Eventualitäten einfach zur Seite wischen konnte. In der Zeit, in der Susie sich in der Reha-Maßnahme befand, lebte er wieder in seiner kleinen Wohnung. Die Wohnung in Seligenthal war ihm einfach zu groß und dort würde er sich ohne seine Freundin noch einsamer fühlen.

Ohne besonderen Plan war Ronni mit dem Zug nach Troisdorf gefahren. Durch seine Ermittlungsarbeit in verschiedenen Fällen kannte er Troisdorf. Er mochte die Überschaubarkeit der Kleinstadt an manchen Tagen mehr als die Hektik in Bonn oder Köln. An diesem Abend war er lustlos durch die menschenverlassene Fußgängerzone geschlendert.

Jetzt saß er seit fast zwei Stunden an der Theke in einer der vielen Troisdorfer Bars und Kneipen. Schaute lustlos dem jungen Mann hinter der Theke bei dessen Tätigkeiten zu. Um ihn herum nur lachende, gut gelaunte Menschen. Manchmal drang ein frivoles Lachen einer Frau an sein Ohr, manchmal vernahm er irgendwelche Sprachfetzen und hin und wieder auch den Teil einer belanglosen Unterhaltung.

Der allgemeine, hohe Geräuschpegel im Lokal überlagerte grundsätzlich alles. Er machte sich jedoch auch nicht die Mühe, genauer hinzuhören, um etwas zu verstehen oder sogar zu analysieren. Er hatte einfach kein Interesse. Ein halbvolles Glas Bier stand vor ihm, inzwischen sein viertes. Er wusste, er trank zu schnell und er passte hier eigentlich nicht hin – zumindest nicht in seiner jetzigen Stimmung. Aber welche Alternative hatte er, wenn er nicht allein zu Hause vor dem Fernseher sitzen wollte und darauf warten, dass er irgendwann aus Langeweile oder Frustration einschlafen würde?

Als er noch beim ersten Bier war, setzte sich eine junge Frau auf den noch freien Barhocker neben ihm. Wallendes, blondes Haar, top Figur, die sie gekonnt zur Geltung brachte. Bereits nach wenigen Minuten sprach sie ihn an und sie kamen ins Gespräch. Belangloses, ob er öfter hier wäre? Er verneinte. Es wäre ihre Stammkneipe, ob er auch eine Stammkneipe hätte. Er verneinte erneut und konterte damit, dass es für April auch abends noch sehr warm sei. Wahnsinn!

Trotz des inhaltslosen Gesprächs fühlte er sich geschmeichelt, schließlich schien sie wesentlich jünger als er zu sein. Gehöre ich doch noch nicht zum alten Eisen? Habe ich bei jüngeren Frauen vielleicht doch noch eine Chance? Jetzt, beim vierten Bier, hätte er sich womöglich anders verhalten und wäre einem kleinen Flirt an der Theke nicht abgeneigt gewesen. Doch zu Beginn des Abends hatte er noch einen klaren Kopf und war vernünftig. Hatte er doch Susie, mit der er richtig glücklich war. Außerdem strengte ihn das nichtssagende Gespräch mit der jungen Frau zu sehr an. Mit jedem Satz, jeder Frage, schwand sein Interesse an der blonden Schönheit immer mehr. Beim zweiten Bier raffte er sich dazu auf, ihr freundlich, aber bestimmt klarzumachen, dass er allein sein wollte und sie ihren Charme nicht unnütz an ihn verschwenden sollte. Leicht pikiert suchte sich die junge Frau daraufhin ein zugänglicheres Opfer im inzwischen voll besetzten Lokal.

Danach genehmigte er sich zum Bier zusätzlich einen klaren Schnaps, sozusagen als Trost oder zur Bestätigung seines Alleinseins. Er wusste nicht genau, welcher Grund ausschlaggebend war, wahrscheinlich waren es beide Gründe.

Seitdem grübelte er darüber, weswegen er überhaupt die Bar aufgesucht hatte, wenn er doch grundsätzlich allein und für seine Mitmenschen unzugänglich sein wollte. Allein sein konnte er genauso gut zu Hause. Bier hatte er mit Sicherheit noch in ausreichender Menge im Kühlschrank.

Im Spiegel an der Wand ihm gegenüber sah er, dass die junge Frau inzwischen jemand anderes gefunden hatte, der ihren Charme bereitwillig konsumierte. Der Mann, schätzungsweise noch älter als Ronni selbst, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und beide kicherten um die Wette. So ist es nun einmal im Leben: Jeder Topf findet seinen Deckel, dachte er.

Als sie mit ihrem Auserwählten Arm in Arm das Lokal verließ, gestand er sich ein, dass es vergeudete Zeit für ihn war, weiterhin an der Theke zu sitzen und sich volllaufen zu lassen. Er trank sein Bier aus, bezahlte und verließ ebenfalls das Lokal.

Draußen standen die besagte, junge Frau und ihre Eroberung eng umschlungen in einer Hausecke und küssten sich.

Das hätte ich sein können, dachte Ronni nicht ganz ohne einen Funken Neid. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Eroberung sicherlich am nächsten Morgen wieder allein sein würde. Er schätzte die junge Frau so ein, dass sie jemand gesucht hatte, der ihre Zeche zahlte und ihr für diese Nacht das Bett wärmte. Nein, das war schon gut so, wie es war. In zwei Wochen würde Susie wieder zurück aus der Reha sein und er brauchte keine Abenteuer. Lediglich das Alleinsein setzte ihm stark zu, was wiederum ein gutes Zeichen war, da ihm dadurch klar wurde, wie sehr er Susie vermisste.

Langsam schlenderte er auf dem Bürgersteig entlang der Siebengebirgsallee Richtung Sieg.

Inzwischen hatte er die letzten Häuser passiert und die Straße, die in einem Bogen um die Mannstaedt-Werke herumführte, war nur spärlich ausgeleuchtet. Dieses verdammte LED-Licht. Wer mag der Urheber dieser Idee gewesen sein und was mag die Umstellung aller Straßenlaternen auf dieses Schummerlicht die Stadt gekostet haben, regte er sich innerlich auf. Anschließend schlug der Ärger gegen sich selbst um, da er sich über solche Nichtigkeiten aufregte, die er eh nicht ändern konnte. Vielleicht war es doch im Nachhinein dumm von ihm gewesen, die Chance einer wunderbaren Nacht mit dieser Schönheit aus der Kneipe vertan zu haben und sein Ärger hatte darin seinen Ursprung.

Nur selten begegnete ihm ein Auto, das einen Moment lang für etwas mehr Licht sorgte. Auch wenn die Temperaturen tagsüber manchmal die Nähe von zwanzig Grad erreichten, sanken sie, sobald die Sonne untergegangen war, erheblich ab und am frühen Morgen zeigte das Thermometer öfter unter zehn Grad an. Er hatte den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Hals hochgezogen und die Hände tief in die Taschen vergraben. Auch wenn er es nicht direkt vor sich selbst zugeben wollte, hätte er jetzt lieber auf den Spaziergang verzichtet. Aber ich bin doch kein Weichei, dachte er, um sich ein wenig aufzumuntern.

In einiger Entfernung konnte er die Umrisse der Mendener Brücke sehen, die sich über die Sieg spannte und den Troisdorfer Stadtteil Friedrich-Wilhelms-Hütte mit dem Sankt Augustiner Stadtteil Menden verband.

Sein Plan sah vor, der Straße in Richtung Friedrich-Wilhelms-Hütte zu folgen und dort am kleinen Bahnhof auf den nächsten Zug nach Bonn zu warten. Vielleicht würde er auch ein Taxi rufen, falls die Wartezeit zu lange dauern sollte.

Als er sich auf Höhe der Brücke befand, stutzte er und strengte seine Augen an. Stand dort nicht in der Mitte der Brücke eine Gestalt auf dem Brückengeländer? Nein, Unsinn, das ist nicht möglich, dachte er.

Er zählte im Geiste noch einmal nach. Er hatte vier Bier und einen klaren Schnaps getrunken. So vernebelt konnte seine Wahrnehmung doch nicht sein. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, aber die erste Erkenntnis änderte sich nicht. Dort stand zweifelsohne eine Person auf dem Brückengeländer, die anscheinend im Begriff war, zu springen. Wenn er sich nicht völlig täuschte, war es eine weibliche Person.

Mit einem Mal war Ronni klar, was hier vor sich ging. Mit Sicherheit wollte sich eine Frau vom Brückengeländer in den Fluss stürzen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und erneut bahnte sich der Ärger in ihm seinen Weg in sein Gehirn. Wäre ich bloß nicht diesen Weg gegangen. Hätte ich mich doch auf die Frau im Lokal eingelassen, läge ich jetzt im warmen Bett und könnte die Nacht genießen, dachte er. Stattdessen stand er in der Dunkelheit an dieser Brücke und war gezwungen, einer Selbstmörderin bei der Ausführung ihres Plans zuzusehen. Wenn er noch einige Biere mehr getrunken hätte, würde er jetzt dem Ärger die Oberhand überlassen und einfach umkehren. Hätte, hätte, hätte – so war es aber nicht. Er stand hier und sah die Frau auf der Brücke. Er musste sich entscheiden, ob er weitergehen oder der Frau helfen sollte.

Junge Frau sprang von der Brücke in den Tod. Kein Zeuge, der den Vorgang beobachtet hat“, könnte die Schlagzeile am nächsten oder übernächsten Tag in der Zeitung lauten.

Oder: „Frau stürzte von der Brücke in den Tod. War es Selbstmord oder Mord?“

Er würde die Antwort kennen. Er würde wissen, wie es tatsächlich gewesen war. Er wäre der Zeuge, den niemand kannte. Der nicht eingeschritten war, aber der wusste, dass die Frau Selbstmord verübt hatte. Vielleicht aus Verzweiflung, aus Angst oder einfach nur aus Müdigkeit am Leben. Niemand würde jemals den wahren Grund erfahren. Sie würde nur eine nichtssagende Ziffer in der Statistik der unaufgeklärten Todesfälle sein. Könnte er mit diesem Wissen, diesem Versäumnis und dieser Feigheit leben?

All diese Gedanken gingen ihm in Windeseile binnen weniger Sekunden durch den Kopf.

Das Leben geht manchmal eigene Wege und man ist halt so, wie man ist. Der Ärger hatte den Kampf um die Oberhand verloren. Die Vernunft und das Verantwortungsgefühl hatten gewonnen. Er konnte unter keinen Umständen umkehren und die Frau ihrem selbstgewählten Schicksal überlassen.

Allerdings wusste er nicht sofort, wie er die Situation in den Griff bekommen könnte. Hilfe war nicht zu erwarten. Ein vorbeifahrendes Auto anhalten? Wozu? Wann würde das nächste Auto über die Brücke fahren? Um diese Uhrzeit war auf diesen Straßen hier so gut wie kein Autoverkehr mehr. Wenn das nächste Auto die Brücke passieren würde, wäre es vielleicht bereits zu spät. Die nächste Frage war, würde überhaupt jemand anhalten? Falls er Glück hätte, dass ein Auto käme und der Fahrer anhalten würde, war immer noch die Frage, wobei ihm der Autofahrer helfen sollte. Gerade, als er das dachte, passierte ein Auto die Brücke und fuhr, ohne die Geschwindigkeit zu verringern achtlos an der Frau und ihm vorüber. Zu viele „hätte“ und „wäre“, fand er. Eine solche Aktion würde die Frau nur unnötig unter Stress setzen und dazu bringen, ihr Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen.

 

Mit einem Mal war Ronni hellwach, als wenn man ihm einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf gegossen hätte und er wusste, was er zu tun hatte.

Schnell überquerte er die Straße und ging langsam auf die Frau zu. Sie stand unbeweglich auf dem Brückengeländer und stierte in die Tiefe. Mit der linken Hand hielt sie sich am Stahl des Brückenbogens fest, der sich bis zur anderen Flussseite spannte. Ihm war klar, wenn sie diesen sicheren Halt losließe, würde sie unweigerlich in die Tiefe stürzen.

Noch ungefähr fünfzehn Meter bis zu der Frau. Er blieb kurz stehen.

„Warten Sie. Das nimmt kein gutes Ende, was Sie da vorhaben. Ich komme etwas näher, wenn Sie nichts dagegen haben“, rief er in ruhigem und nicht zu lautem Ton, denn er durfte die Frau auf keinen Fall erschrecken.

Die Frau schreckte sichtlich aus ihren Gedanken hoch, ohne in die Richtung zu schauen, aus der die Worte an ihr Ohr drangen. Sie drehte ihren Oberkörper ein wenig und legte auch die zweite Hand an den Stahl der Brücke. Dabei schwankte ihr Körper leicht nach vorne.

Er machte ein paar Schritte und redete ruhig weiter.

Noch zehn Meter bis zu der Frau.

„Ertrinken ist sowieso kein so schöner Tod, als wie er immer dargestellt wird. Es gibt da wesentlich bessere, schnellere und nicht so schmerzhafte Möglichkeiten.“

Die Frau war vielleicht Mitte zwanzig, schätzte er. Sie trug eine dunkle, dünne Jacke, Jeans und blaue Sneakers. Jetzt drehte sie das Gesicht zum ersten Mal langsam in seine Richtung und wurde von einer Straßenlaterne erhellt. Schwarze, zerzauste Haare umrahmten ein hübsches Gesicht, das aber grau und fahl im Licht der Laterne erschien. Lediglich die Lippen waren mit einem knallroten Lippenstift geschminkt. Auf ihn wirkte das Gesicht wie eine Maske. Die Frau betrachtete den Störer mit einer Miene aus Erstaunen und Feindseligkeit.

„Lassen Sie mich in Ruhe … sonst … springe ich“, sagte sie leise und stotternd.

Noch acht Meter.

„Das wollten Sie doch sowieso. Wenn Sie nicht gestört werden wollten, hätten Sie Ihr Vorhaben zu einem späteren Zeitpunkt, eventuell nach Mitternacht, planen sollen. Und wie gesagt, das was Sie vorhaben, nimmt kein gutes Ende.“

Er wusste, dass er weitersprechen musste, solange die Frau ihn anschaute. Aus einschlägiger Literatur wusste er auch, dass ein Selbstmörder im Regelfall keine Zuschauer bei seiner Tat haben möchte.

Noch sechs Meter, dann hatte er sie erreicht.

Vielleicht konnte er sie greifen und vom Geländer ziehen. Zum ersten Mal schaute er hinunter zur Sieg, die mit starker Strömung in Richtung Rhein floss. Er hörte, wie das Wasser gegen den Pfeiler der Brücke klatschte und die Geräusche der nahen Autobahn.

„Auch wenn durch den enormen Regen der letzten Woche der Wasserspiegel der Sieg stark gestiegen ist, werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ertrinken. Wenn Sie das vorhatten, hätten Sie den Rhein auswählen sollen. Sie werden lediglich unliebsam aufschlagen, sich alle möglichen Knochen brechen. Wenn Sie Glück haben, sogar das Genick, falls Sie den Mut aufbringen, kopfüber hinunterzuspringen. Dann wäre Ihr Plan aufgegangen. Wahrscheinlich aber werden Sie nicht sterben. Das Wasser ist zu dieser Jahreszeit sehr kalt. Mit Sicherheit werden Sie sich eine Erkältung holen und wahrscheinlich werden Sie schwerverletzt sein. Im schlimmsten Fall sogar querschnittgelähmt. Ist das Ihr Plan? Sicher nicht.“

Das mochte eine unpassende und zu lange Ansprache sein, aber es handelte sich noch nicht einmal um eine zweckdienliche Lüge. Er brachte sie zumindest dazu, sich auf ihn zu konzentrieren und ihr Vorhaben für einige Augenblicke hintenan zu stellen.

„Verschwinden Sie“, zischte die Frau und schaute wieder in die Tiefe.

Er machte erneut wenige, kurze Schritte.

Noch fünf Meter.

„Es gibt Schöneres, als ein Leben im Rollstuhl zu verbringen und auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich helfe Ihnen von diesem Geländer herunter und ich lade Sie zu einem Glas Wein ein. Was halten Sie davon?“

„Dummes Gerede von jemandem, der keine Ahnung hat. Gehen Sie nach Hause zu Frau und Kinder und lassen Sie mich in Ruhe“, entgegnete sie und wandte dabei wieder den Blick ihm zu.

Ihre Kiefer mahlten. War das ein Zeichen von Nervosität oder Unsicherheit? Unsicherheit, weil sie eventuell an ihrem Vorsatz, in die Tiefe zu springen, zweifelte?

Noch drei Meter.

Immer näher arbeitete er sich an sie heran.

„Falsch. Ich habe keine Frau und auch keine Kinder, aber ich habe Erfahrung in solchen Sachen, wie die, die Sie vorhaben. Ich habe leider schon zu oft den Tod, schwere Verletzungen und daraus resultierende Pflegefälle gesehen. Auch war ich selbst schon einmal an einem Punkt, wo ich dachte, es geht nicht mehr weiter.“

Er machte eine kurze Pause. Er wollte seine letzten Worte erst einmal wirken lassen. In seiner Ausbildung hatte er gelernt, dass man seinem Gegenüber Mitgefühl suggerieren soll, wenn man etwas von ihm erfahren möchte oder wenn man dessen Handeln ändern will. Von einem ähnlichen, eigenen Erlebnis zu berichten, kann dabei hilfreich sein.

„Meine damalige Frau hatte mich auf Mallorca in eine Schlucht gestürzt und ich bin nur mit knapper Not dem Tod entronnen, weil ich leben wollte. Ich weiß seitdem, wie schön das Leben sein kann“, fuhr er fort.

„Auch für Sie wird es einen neuen Anfang geben und irgendwann werden Sie rückblickend feststellen, dass Ihr jetziger Plan keine Lösung war und werden froh sein, ihn nicht umgesetzt zu haben“, schloss er mit einer positiven Aussicht.

Noch zwei Meter und er hatte sie erreicht.

Die Frau stand vollkommen still. Dachte sie über seine Worte nach?

„Nein, ich will nicht mehr zurück“, stammelte sie und wandte ihren Blick wieder dem Fluss zu.

Sie ließ die Hand, mit der sie zuletzt zusätzlich den kalten Stahl der Brücke ergriffen hatte, los. Nur mit einer Hand sicherte sie noch ihr Gleichgewicht und machte Anstalten, auch diesen unsicheren Halt loszulassen.

Anscheinend war seine Strategie nicht so erfolgreich, wie er erhofft hatte. Aber aufgeben war für ihn keine Option.

„Natürlich können Sie zurück. Was Sie davon abhält, mein Angebot anzunehmen, ist lediglich die Scham vor sich selbst, sich einzugestehen, dass Sie nachgegeben haben. Womöglich betrachten Sie es als Niederlage, einen gefassten Vorsatz zu ändern. Aber machen Sie sich keine Gedanken. Nur Sie und ich wissen von diesem Abend. Jetzt den Plan zu ändern und meine Hand zu ergreifen, ist keine Schwäche, sondern Stärke.“

Ronni, von der Frau unbemerkt, die letzten Schritte näher zu ihr vorgedrungen. Er konnte sie fast mit dem ausgestreckten Arm erreichen. Er streckte ihr seine Hand entgegen.

War es ein Geistesblitz, war es Eingebung oder war es seine Erfahrung? Er wusste, worauf man bei einem Gegner achten muss, wenn man erahnen will, wie er reagieren wird. Auf die Körperspannung! Bisher waren es immer nur Gegner, denen er gegenüberstand. Zum ersten Mal war es eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte.

Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte und ihn ansah, wusste er, spürte er, dass sie sich entschieden hatte. Dass all sein Gerede und seine Bemühungen vergeblich gewesen waren. Dass sie sich fallen lassen würde.

Mit einem Ruck drehte die Frau ihren Kopf und schaute in das trübe Wasser der Sieg und ließ ihre Hand los. Ronni sah, wie sie ihre Arme nach oben riss und fast, wie in Zeitlupe nach vorne kippte.

Nur noch ein Meter. Ein lächerlicher Meter. Ronni schien diesen letzten Meter bis zu ihr zu fliegen. Dann packte er zu. Entschlossen, erbarmungslos und mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, fasste er ihren Arm und zog sie zurück. Bevor sie auf den rettenden Asphalt des Bürgersteigs aufschlug, fing er sie auf.

Er konnte nicht umhin, sie erleichtert in die Arme zu nehmen. Sie drückte ihren Kopf an seine Schulter und blieb lange in seinen Armen hängen. Sie weinte leise und zitterte, das konnte er deutlich durch die dünne Jacke spüren.

Ronni sog die Luft tief in seine Lungen ein und stieß sie wieder kräftig aus. Auch er benötigte einige Augenblicke, um seinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Da haben wir noch einmal Glück gehabt“, sagte er erleichtert.

Die Frau hob den Kopf und sah ihn mit tränenverschmiertem Gesicht an. War es Erleichterung, was er in ihren Augen sah?

Er wusste es nicht. Auf jeden Fall sah er keinen Zorn oder Wut darüber, dass er sie gerettet hatte.

„Nun wollen wir mal sehen, ob wir irgendwo ein warmes Plätzchen finden, wo wir uns von dem aufregenden Abend erholen können. Vielleicht können wir dort auch noch das versprochene Glas Wein trinken“, spielte er gute Laune vor, obschon er alles andere als gut gelaunt war.

Die Frau sagte nichts. Noch immer sah sie ihn an und hielt sich bei ihm mit beiden Händen fest, als würde sie befürchten, umzufallen, wenn er sie losließe. Auch Ronni hielt sie mit den Händen an den Schultern und schaute sie an.

Natürlich freute er sich, dass er die Frau davon abgehalten hatte, ihr Leben wegzuwerfen. Aber deshalb gute Laune? Nein, auch er war geschockt und musste zuerst einmal verarbeiten, was er erlebt hatte.

„Danke“, hauchte sie leise, fast unhörbar.

Dann löste sie sich von Ronni und trat einen Schritt zurück.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich nach Hause gehe“, sagte sie.

Ihre Stimme zitterte noch ein wenig, aber sie schien sich langsam zu erholen.

„Nein, ich lasse Sie jetzt auf keinen Fall allein nach Hause gehen. Wir werden uns einen Ort suchen, wo wir uns unterhalten können. Wir sollten das, was wir soeben erlebt haben, versuchen zu verarbeiten. Und das geht nur, wenn wir darüber sprechen. Irgendwo wird es hier eine ruhige Ecke in einem Lokal geben.“

„Ich habe leider kein Geld dabei. Ich denke, es ist besser, dass ich doch nach Hause gehe“, antwortete sie kleinlaut.

„Das kann ich verstehen. Wenn man von der Brücke springen will, nimmt man sicherlich keine Geldbörse mit. Ich habe heute meinen großzügigen Tag. Ich denke, der Wein geht auf meine Kosten“, antwortete Ronni locker.

Ohne Absprache mit der Frau schlug er den Weg über die Brücke nach Menden ein. Sie hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein und trottete recht langsam neben ihm her. Wahrscheinlich hatte die Aktion – und wer weiß wie lange sie bereits gedauert hatte, bevor er die Frau erblickte – sie-nicht nur mental, sondern auch körperlich eine Menge Kraft gekostet.