Reise nach Irland

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Landladies

"Yes, yes, yes."

Das dreifache Ja der kleinen, quirrligen Person in den dreiviertellangen Kaki-Hosen begleitet uns noch lange nach Ende unserer Reise als unvergessener Topos.

Mrs Price ist unsere erste Vermieterin. Schon bei der Begrüßung sprüht sie uns ihre Lebendigkeit entgegen, und nach fünf Übernachtungen im Haus wissen wir auch, dass davon nicht ein Funke gespielt ist.

"Und morgen nach dem Frühstück sage ich Ihnen, was Sie von hier aus alles unternehmen können."

Wir sind die einzigen Gäste im Haus, "Business is bad this year", erklärt sie uns diesen Umstand, aber das scheint sie nicht weiter zu sorgen. Wirklich Kummer zu bereiten scheint ihr vielmehr der Blick in den grauen Himmel, an den sie die den Herrgott entschuldigend formulierte Hoffnung anknüpft, dass doch der Regen aufhören, das Wetter sich bessern und die Sicht klarer werden möge.

Wir verbringen eine störungsfreie Nacht mit tiefem, erholsamen Schlaf, und als wir dann unten das Frühstückszimmer betreten, ist der Tisch fein gedeckt. Wir bekommen beide einen wunderbaren Obstteller, Stabfilterkaffee und zu dem obligatorischen irischen Graubrot Butter und selbst gemachte "marmalade".

No cereal, thank you, verneinen wir die Nachfrage, und als wir dann angenehm gesättigt in den schön gepflegten Garten schauen, kommt die Landlady aus der angrenzenden Küche zurück, hält eine laminierte Landkarte in ihrer Linken und gibt uns das erste Briefing, dem in den nächsten Tagen an jedem Morgen zur gleichen Zeit vier weitere folgen sollten. Insider-Informationen sind das, wie wir sie in keinem Führer hätten finden können.

Für heute schlägt sie uns einen Ausflug rings um die Dingle-Halbinsel vor.

Und hier im Norden, sagt sie abschließend, fahren Sie nicht geradeaus weiter, sondern nehmen die Abzweigung nach Süden. In Camp müssen Sie aufpassen, die meisten meiner Gäste finden den Weg gar nicht und fahren weiter nach Tralee.

Und sie hat recht. So schwierig es war, das schmale, steil ansteigende Sträßchen in einer Rechtskurve auszumachen, so einmalig und beeindruckend, auch dramatisch, war die Landschaft, die sich uns dort oben bot.

Eigentlich wollen wir am nächsten Tag weiterfahren, aber als uns Mrs Price mit einer Deutlichkeit und Emphase, der wir nicht widersprechen können, sagt: And tomorrow it's Valentia island, that's a must, willigen wir nur zu gerne ein, noch eine Nacht zu bleiben.

Und so schafft sie es mit den Lobpreisungen ihrer Heimat, dass wir noch ein paar Tage hier unten im Südwesten verweilen und mit dem Ring of Kerry, Beara, Ross Castle und Muckross House noch eine ganze Reihe von attraktiven und zum Teil wirklich unvergesslichen Eindrücken sammeln. Denn Mrs Price und ihr Mann George stammen aus der Gegend, sie selber ist im Nachbarort Milltown aufgewachsen, und beide sind sie weggegangen, um zu arbeiten, nach Cork, fügt sie hinzu, um Geld zu verdienen. Vor 22 Jahren haben sie dann dieses Haus gebaut und seitdem auch B&B betrieben. Wirtschaftlich scheint es den beiden gut zu gehen, sie fahren zwei Autos, eines davon ist ein Mercedes neueren Baujahrs. Unsere Missis kleidet sich jung und modisch und trägt auch jeden Tag einen dezenten, sehr geschmackvollen Schmuck. Sie ist die erste Irin, die wir treffen, die uns die in den Führern und auch in persönlichen Erzählungen oft zitierte sprichwörtliche Herzlichkeit entgegenbringt. Und als wir am letzten Morgen unsere Sachen ins Auto gepackt haben, schaut sie wie immer mit sorgenvoller Miene in die regenverhangene Landschaft, entschuldigt sich mit ratlosem Achselzucken für dieses Missgeschick, das wir aus ihrer Sicht erleiden. Wir verabschieden uns fast wie Freunde, sie drückt Irene an ihr großes Herz, und selbst ihr Mann George, der sich all die Tage im Hintergrund gehalten hat, taucht an der Eingangstür auf und schüttelt uns scheu die Hand.

Mit auf den Weg gegeben hat uns unsere fürsorgliche Lady einen Ausdruck des irischen Automobil-Clubs (AA Ireland) mit der Wegbeschreibung nach Norden und eine von ihr handgefertigte Skizze, mit der wir den verzwickten Weg durch die Innenstadt von Tralee sicher und ohne Irrwege finden.

"Du, schau mal, das sieht toll aus."

Auf der Suche nach der nächsten Unterkunft sind wir in einer wenig befahrenen Seitenstraße gelandet, die wir nun überqueren, nach rechts durch ein großes, weit geöffnetes Tor einfahren und vor einem zweigeschossigen, fast herrschaftlich anmutenden Wohnhaus anhalten. Die Vorstellung, hier die Nacht zu verbringen, erfüllt uns mit gespannter Vorfreude, denn auf unserem Weg hinauf zur Galway Bay haben wir kein Übernachtungsangebot gesehen, dass sich auch nur annähernd mit diesem hier vergleichen könnte.

Eine Glasveranda, rechts und links von zwei mächtigen Rundsäulen eingefasst, schützt die Bewohner und Gäste vor Wind und Wetter, wenn sie das Haus betreten. Wir müssen natürlich läuten, es dauert eine Weile, aber dann kommt Bewegung ins Halbdunkel der dahinter liegenden "hall".

"Hallo, good evening."

Eine große, schlanke Frau um die 50 begrüßt uns, das dunkelbraune, kinnlange Haar umrahmt ein vornehmes, fast strenges Gesicht, das sich aber jetzt zu einem breiten Lächeln öffnet. Ich stelle die übliche Frage nach einem Doppelzimmer.

"Ja, ich habe noch was frei, kommen Sie mit."

Und zu unserem Erstaunen tritt sie aus der Haustür an uns vorbei und bedeutet uns, ihr zu folgen. Parallel zum Wohnhaus der Vermieter steht ein Gebäude mit ausgebautem Dach, das uns zunächst überhaupt nicht aufgefallen ist. Durch den seitwärtigen Eingang führt sie uns eine steile, mit Teppichboden ausgelegte Treppe hinauf. Rechts und links des oberen Flures verraten uns die nummerierten Holztüren die Anzahl der Zimmer, die hier oben verfügbar sind.

"Aus Deutschland sind Sie?"

Die stolze Frau und Besitzerin formuliert Frage eher wie eine Feststellung und sinniert dann hinterher:

"Warum wohl so viele Deutsche nach Irland kommen? Wegen des Wetters sicherlich nicht", fährt sie fort, öffnet die Tür mit der Nummer eins und sieht uns fragend an.

Unter einer weinroten Tagesdecke vermuten wir das Doppelbett, das wir wohlgefällig betrachten, aber gerade in diesem Moment fährt draußen auf der Straße ein riesiger Traktor vorbei, und ich frage, ob es nicht auch ein Zimmer nach hinten gäbe.

"Sie machen sich Sorgen wegen der Ruhe hier, das brauchen Sie nicht, es ist wirklich ruhig, Tag und Nacht."

Aber ich beharre auf meinem Wunsch.

Ja, nach hinten hinaus habe sie noch dieses Familienzimmer, mit drei Betten, ja, das könnten wir auch haben.

Und sie führt uns ans andere Ende des Flures, das Zimmer ist groß und geräumig, außer den drei Betten mit einem Tisch und zwei Sesseln ausgestattet und hat ein Fenster in den Garten.

Wir zögern nicht und sagen zu. Unsere Landlady erklärt uns noch den Gebrauch der Schlüssel, Frühstück gebe es morgen Früh um halb zehn in dem Raum darunter.

Als wir hinunter gehen, um unser Gepäck aus dem Auto zu holen, werden wir von unserer Vermieterin erwartet, denn dem Gästehaus sind drei Parkplätze zugeordnet. Und obwohl noch keiner dieser Parkplätze besetzt ist, überlegt sie hin und her, welchen sie uns wohl zuweisen solle. Sie entscheidet sich dann für den ganz links außen. Warum, bleibt uns ein Rätsel.

Auch hier schlafen wir prächtig, und als wir uns am Morgen fertiggemacht haben und die Treppe hinunter gehen, finden wir im Frühstücksraum an die zehn gedeckte Tische. Wir sind und bleiben die einzigen Gäste, frösteln in dem nach Norden gelegenen Raum und freuen uns auf ein heißes Getränk. Draußen im Gang und in Richtung Küche hören wir sanfte Geräusche, und dann schiebt sich im Zeitlupentempo ein junges Mädchen auf uns zu, die Haare blond und lang, verfilzt und wild zerzaust, ist das nun eine Frisur oder kommt sie direkt aus dem Bett? Irgendwie bewegt dieses Geschöpf beim Gehen die Beine nicht, ihre Augäpfel haben sich hinter die halb geschlossene Lider verkrochen, und ihre Frage nach unseren Wünschen intoniert sie mit einem kaum hörbaren Stimmchen. Also doch müde oder noch im Halbschlaf. Aber sie akzentuiert deutlich, und als wir geantwortet haben, schiebt sie sich lautlos zurück durch die Tür und hinaus in den Gang.

Wir mutmaßen, das könnte die Tochter der Vermieterin sein, es ist Ferienzeit in Irland, und dieses erbarmenswerte Ding hat die gestrenge Mutter heute, da der Kalender den Samstag anzeigt, zum Frühstücksservice verdonnert.

Immerhin, der Kaffee schmeckt, und als das dürre, hoch gewachsenene, sich im Halbschlaf befindliche Gespenst noch einmal in den Raum schwebt, teile ich ihm mit, dass wir noch eine Nacht bleiben möchten.

Das Mädchen nickt, die Botschaft ist angekommen, denn sie sagt bestätigend: "I'll tell my mother." Also richtig vermutet, sie ist die Tochter des Hauses.

Am nächsten Morgen die gleiche Prozedur wie schon am Samstag, wir fragen uns fast, ob die junge Frau echt ist, so sehr gleichen ihre Handlungen und Fragen denen vom Vortag, sogar ihre Kleidung ist die gleiche oder vielleicht sogar dieselbe, und später, als wir gepackt haben und abreisen wollen, läuten wir wie am Tag unserer Ankunft an der Tür zum Haupthaus. Als die sich öffnet, steht wieder die blonde Schlafwandlerin vor uns, und ich zähle ihr das Geld für die beiden Übernachtungen in die Hand.

"Und grüßen Sie Ihre Mutter", gebe ich ihr zum Abschied mit, und sie nickt und verschwindet im Halbdunkel der Eingangshalle. Im Auto rätseln wir noch hin und her, wo denn diese ihre Mutter geblieben war, aber wir kommen natürlich zu keinem Ergebnis.

"Nein, ich bin es nicht", sagt die dünne Frau mit dem Kleinkind auf dem Arm und deutet hinter sich auf den Eingang des schmucken, eingeschossigen Hauses mit dem Hinweisschild "B&B", das wir außerhalb des Ortskerns von Clifden entdeckt haben. Dort steht in der geöffneten Tür eine kleine ältere Frau mit einer aschblonden Dauerwelle.

 

"Ja, ich habe ein Doppelzimmer frei", antwortet sie auf meine Frage, "kommen Sie, es ist noch nicht fertig, aber schauen Sie."

Auf den ersten Blick schon sind wir zufrieden, blitzsauber und gepflegt ist alles, was wir sehen, wir sagen natürlich sofort zu, buchen gleich für zwei Nächte und holen unsere Sachen aus dem Auto.

Die neue Landlady ist erst einmal enttäuscht, als wir ihre Einladung zu einer Tasse Tee abschlagen.

Nein Danke, wir haben eben erst gefrühstückt.

"Dann heute Abend, wenn Sie zurück sind, dann kann ich mit Ihnen sprechen."

Und tatsächlich, als wir nach unserem Besuch der "Sparkling and Pulsating Show of Trad Irish Music, Song & Dance" zurück sind, sitzt sie immer noch vor dem Fernseher. Sie hat auf uns gewartet. Aber wirklich reden will sie jetzt auch nicht mehr, sie wirkt müde und verabschiedet sich rasch ins Bett.

Erst am Morgen beim Frühstück erzählt sie uns von ihren beiden Töchtern, die ihr hin und wieder bei der Bewirtschaftung und Pflege des Hauses helfen, aber, fügt sie entschuldigend hinzu, wirklich Zeit für sie haben die beiden eigentlich auch nicht. Es ist eher umgekehrt so, dass sie ihre kleine Enkelin versorgt, wenn deren Mutter zur Arbeit geht. Und noch während sie uns diese Erläuterungen gibt, klingelt es bereits, und wir hören das Gepiepse und Jejuchze der Kleinen draußen im Hausflur. Unsere Missis hat jetzt natürlich keine Zeit mehr für uns, sie verschwindet mit einem "Bis später!" nach draußen, und während wir noch die wunderbar süßen Früchte aus den üppig gefüllten Schalen verzehren, schäkert sie mit dem Kleinkind drüben in der Küche.

Als wir am späten Nachmittag von unserem Tagesausflug zurückkehren und unser Zimmer betreten, trauen wir unseren Augen nicht: Die Betten nicht gemacht, Gläser und Geschirr vom letzten Abend unberührt, selbst Waschbecken und Dusche so, wie wir sie am Morgen verlassen haben.

"Vielleicht kommt sie ja noch", denkt Irene laut vor sich hin, aber das Haus bleibt still, und erst, als wir abends gegen halb elf heimkommen, wechselt sie ein paar Sätze mit der Vermieterin. Die ist nicht einmal peinlich berührt:

Sie habe den ganzen Tag über leider keine Zeit gehabt, sich um unser Zimmer zu kümmern, es gab so viele andere Dinge zu erledigen.

Sieh einer an, das haben wir auch noch nicht erlebt.

Trad in the West

In unserer Fantasie haben wir ihnen schon hunderte von Malen zugehört, den Musikern, die sich in irgendeinem Pub zu einer Session zusammenfinden, ihre Instrumente auspacken und diese wunderbare traditionelle irische Musik spielen, und die andere Gäste dazu animiert, einfach aufzustehen und ein Lied zum Besten zu geben.

Auf der ersten Etappe unserer Reise allerdings halten wir vergeblich Ausschau nach den Schildern, die auf Live Music hinweisen. Ein einziges entdecken wir eher zufällig, als ich mir in Kenmare Bargeld aus dem Automaten hole. Und unsere Landlady in Killorglin, die sonst über alles und jeden Bescheid weiß, wirkt reichlich ratlos.

Könnte sein, redet sie eher mit sich selber, drüben in Milltown, dort gibt es ein Lokal, die bewirten Busse, also, dort werden die Touristen zum Essen hingekarrt, und dazu gibt es immer eine Vorführung mit Musik und Tanz. Aber das sind geschlossene Gesellschaften, höchstens, dass ich mal anrufe, ich kenne nämlich die Besitzerin.

Aber die meldet sich nicht am Telefon, und als wir die paar Kilometer hingefahren sind, finden wir zwar das beschriebene Restaurant, aber keinerlei Hinweis auf eine musikalische Veranstaltung.

Erst ein paar Tage später auf unserem Weg nach Connemara werden wir fündig. Nicht weit von den Cliffs of Moher entfernt entdecken wir Doolin, ein kleines Dorf, das sich mit Haut und Haaren dem Tourismus verschrieben hat. Rechts und links der Durchgangsstraße fast ausschließlich Häuser, die B&B anbieten. In einem davon finden auch wir eine ganz akzeptable Unterkunft für die Nacht, und die Vermieterin empfiehlt uns ein Pub im oberen Teil des Dorfes, den wir schon durchquert haben. Dort gebe es gutes Essen und auch jeden Abend Live Music. Das ist doch mal ein Wort.

Gegen sieben fahren wir über die alte Steinbrücke zu einer Ansammlung weiß gestrichener Häuser, in deren Zentrum McDermott's Bar und Restaurant beheimatet ist. In weißer Schrift auf schwarzen Tafeln wird uns gleich mehrfach verkündet, dass wir hier richtig sind: Food served 7- 9.30, Trad Music @ 9.00.

Der Laden ist brechend voll mit Touristen, hauptsächlich Franzosen, wie wir den Sprachfetzen entnehmen. Ein Kellner geleitet uns nach kurzer Wartezeit zu einem freien Tisch, den wir uns den mit einem Paar aus Schweden teilen. Das Essen, das wir bestellen, ist derb, aber das Bier dazu kühl und süffig. Und als es auf neun Uhr zugeht, arbeiten wir uns nach vorne an die Bar, wo noch ein paar Hocker frei sind. Kaum sitzen wir, kommt Bewegung in die Bude. Ein paar junge Leute tragen Instrumente herein und deponieren sie in einem eigens für die Band abgetrennten Karree in einer Ecke mit zwei Außenwänden. Leider schleppen sie auch noch ein paar Verstärker hinterher, basteln und werkeln, bis die Anlage steht und zur Zufriedenheit der Musiker funktioniert. Ein junger Bursche mit Gitarre hat vor sich ein Mikrofon aufgebaut, rechts daneben ein schlacksiger Typ in Jeans mit langen schwarzen Haaren, dem die Tasten seiner kleinen Ziehharmonika spielerisch leicht und gern gehorchen. Und eingerahmt von den beiden ist da noch eine junge Frau, die sich eine Fidel unter das Kinn klemmt und den Ton anzugeben scheint.

Denn als die drei kurz nach neun loslegen, der Schwarzhaarige mit dem linken Schuh den Takt schlägt, und der junge Mann an der Gitarre tapfer seinen Part herunterspielt, ist sie es, die mit ihrem ganzen Oberkörper, mit ihrem Kopf und vor allem mit dem Spiel ihrer Augen und der Macht ihres Instruments Rhythmus und Tempo, Anfang und Ende der Stücke diktiert.

Wir sind ein bisschen skeptisch, weil uns die Musiker sehr jung vorkommen und wir auch den Eindruck haben, dass sie sich mit professioneller Wurstigkeit ihrer Aufgabe entledigen. Erst einige Tage später werden wir zu schätzen wissen, wie gut und feurig diese jungen Leute ihre Musik gespielt und verkauft haben.

Dann nämlich, als wir von Kinvara aus einen Tagesausflug nach Galway unternehmen. Dort nennt man uns im Tourist Office zwei Pubs, in denen schon am späten Nachmittag, so gegen fünf Uhr also, irische Musik gespielt wird.

Aus der belebten Fußgängerzone bahnen wir unseren Weg hinein ins Tig coili, the Home of Traditional Music, wie uns schwarz geschwungene Buchstaben auf gelbem Hintergrund verkünden. Lärmende Geschwätzigkeit schlägt uns entgegen, an der Bar stehen eng gedrängt Dutzende von Menschen in kleinen Gruppen zusammen, die sich gesten- und wortreich austauschen und den Eindruck erwecken, dass es im Moment nichts Wichtigeres auf der Welt als ihr eigenes Mitteilungsbedürfnis gibt. Was die nämlich überhaupt nicht interessiert, ist der Grund für unser Kommen. Unmittelbar neben der Eingangstür sitzen da auf einer Eckbank drei Männer jenseits der 60 zusammen, alle grau, und dem Musiker an der Bodhran fallen die Haare in gekräuseltem Silber bis auf die Schultern. Am rechten Handgelenk trägt er einen metallenen Armreif und ein Band aus türkisen Steinen, zu dem ein schwerer, gleichfarbiger Ring am Mittelfinger passt. Sein fleischiges Gesicht drückt ein merkwürdig gemischtes Gefühl aus, als sei er unendlich gelangweilt und gleichzeitig innerlich amüsiert über eben diesen Zustand. Er versucht, mit seinem Instrument den anderen beiden an einer Fidel und einem Banjo etwas Leben einzutauchen, aber sowohl sein eigenes rhythmisches Klopfen wie auch deren gezupfte und gestrichene Saitenklänge haben gegen die Lachssalven und das zirpende Stimmengewirr keine Chance. Mit Gleichmut scheinen diese in die Jahre gekommenen Musiker dem Umstand zu begegnen, dass ihnen fast niemand Beachtung schenkt. Außer uns haben sich noch zwei oder drei andere Touristen diesem Trio zugewendet, das sich vor einer Galerie mit alten Fotos durch sein Metier kämpft. Eine ärmlich gekleidete, farbige Bettlerin mit einem aufgedunsenen Gesicht, bläulich verfärbten Lippen setzt sich nun direkt neben die Formation, direkt unter den Wegweiser "St. Paddy's Place", und zählt mit ausgestrecktem rechten Zeigefinger ein paar Münzen auf ihrer linken Handfläche. Ob diese Frau die Musiker kennt oder einfach nur nach einem Sitzplatz gesucht hat, von dem sie im Moment zumindest niemand vertreibt? Wir sind befremdet, fast ein bisschen frustriert von der marginalen Existenz, die die musikalischen Bruchstücke und Fetzen traditioneller irischer Musik in diesem Pub führen. Wie in stiller Übereinkunft trinken wir deshalb zügig unsere Gläser aus und suchen das Weite. So hatten wir uns den Höhepunkt unseres Ausflugs nicht vorgestellt.

Nach drei Runden über Market-, Main- und Bridge Street, die eine Art Ring im Zentrum von Clifden bilden, parken wir schließlich direkt vor dem einzigen China-Restaurant der kleinen Ortschaft. Abgeschreckt von den aberwitzigen Preisen dieses Lokals verspeisen wir mit mäßigem Genuss jeweils eine Portion Fish 'n Chips in einem Take away shop auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Jetzt haben wir so richtig Appetit auf ein kühles Bier in einem der Pubs, aus denen wir bei unserer Fahrt um den Stadtkern die ersehnten irischen Melodien vernommen haben. Hier scheint es also gleich mehrere Lokale zu geben, in denen traditionelle Musik gespielt wird. Wir landen in Griffin's Bar, wo sich unter dessen Webadresse drei sehr junge Männer niedergelassen haben. Sie spielen Akkordeon, Flöte und Fidel, aber irgendwie kommt keine Stimmung auf, vielleicht ist es auch noch zu früh am Tag, und weil wir von der langen Reise und Zimmersuche müde sind, brechen wir schon nach der ersten Pint auf und freuen uns auf unser Bett. Kurz vor der Ausgangstür entdeckt Irene auf einer Ablage einen Flyer, der für den folgenden Montag im Station House Theatre eine Show mit traditioneller Musik und Tanz ankündigt. Die wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen und beschließen, gleich am nächsten Morgen Karten zu reservieren. Die Kurzbeschreibung der Vorstellung legt uns die Vermutung nahe, dass wir hier endlich am Ziel unserer Wünsche angelangt sein könnten.

Nach einem wunderschönen Tagesausflug nach Kylemore Abbey kehren wird zeitig nach Clifden zurück, denn wir wollen noch in Ruhe essen, bevor wir uns dann zum Station House Theatre begeben.

Die Show soll um acht Uhr beginnen, aber wir holen die vorbestellten Karten schon gegen sechs ab. Eigentlich glaube ich nicht, dass die zweiflügelige Eingangstür schon geöffnet ist, aber trotzdem springe ich die paar Stufen hinauf und drücke spielerisch dagegen. Ich bin überrascht, dass sie leicht aufschwingt und ich eintreten kann. Im Eingangsbereich stehe ich einem Tresen aus Naturholz gegenüber, links an der Fensterfront ein paar Sitzmöbel, aber kein Mensch weit und breit. Oder doch? Hinter einer hohen, ebenfalls zweiflügeligen Tür höre ich Geräusche. Das müssen die Musiker sein, die ihre Show vorbereiten: Stellprobe, Sitzprobe, Soundcheck, man kennt das ja. Ich öffne sie langsam und vorsichtig. Der Raum, das Theater dahinter, rechteckig und etwa vier Meter hoch, zwei Reihen mit einfachen Klappstühlen und Mittelgang. O.k., ab der fünften Reihe etwa steigt der Zuschauerraum an, dort sollten wir versuchen, einen Platz zu bekommen. Ein Junge und eine füllige junge Frau machen sich an der Verkleidung des Bühnenabsatzes zu schaffen, und dann kommt ein schlanker Blonder in dunkelblauer Kleidung auf mich zu:

Wen suchen Sie? fragt er mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Wollen Sie Eintrittskarten kaufen? stellt er die zweite Frage, ohne meine Antwort abzuwarten.

Ich erkläre ihm mein Anliegen, ich hätte die Karten schon am Vormittag reservieren lassen, und ich wolle sie nur abholen und bezahlen.

Er eilt hinter seinen Tresen.

Ihr Name, bitte?

Ja, gewiss, zwei Karten. Zwei von vier Reservierungen,

ergänzt er, ohne dass ich ihn danach gefragt hätte.

Oho, denke ich mir, das wird eine dünn besuchte Veranstaltung. Ob da Stimmung aufkommt und der Funke überspringt?

Aber ich bezahle einfach, und indem mir der schlanke Blonde die Tickets aushändigt, frage ich ihn noch, ob denn die Plätze nummeriert seien – nein, das sind sie nicht –, und ob es genüge, wenn wir um halb acht kämen.

 

Aber ja, natürlich, that should be all right.

Mit den Karten in der Tasche laufen wir die paar Schritte hinüber zu dem dazugehörigen Pub, um dort die erste, die wirklich erste akzeptable Mahlzeit seit Beginn unseres Aufenthalts in Irland einzunehmen.

Pünktlich genau zu der anvisierten Zeit sind wir wieder drüben im Foyer des Theaters, einem doch reichlich kahlen Raum, und: Wir sind die ersten und bislang einzigen Besucher. Der schlacksig blonde Ire begrüßt mich wie einen alten Bekannten, und ich frage ihn, ob sich wohl noch mehr Zuhörer einfinden würden.

Fast entrüstet wirft er mir ein: Ja, natürlich – yes, of course, entgegen, und wir beschließen, die verbleibende Zeit zu einem Gang auf die Toilette zu nutzen.

Als wir zurückkommen, sind wir doch in Gesellschaft einer Familie, Eltern mit zwei Kindern, die wir schon drüben beim Essen haben sitzen sehen. Und als hätten wir in die Zukunft der nächsten zwanzig Minuten sehen können, nehmen wir auf dem Zweisitzersofa unmittelbar vor der Eingangstür zum Vorstellungsraum Platz. Denn, was wir nicht für möglich gehalten haben, in der letzten Viertelstunde vor acht Uhr, kleckert es, klotzt es und strömt es nur so, als hätten sich alle Besucher darauf geeinigt, in diesen letzten fünfzehn Minuten ein Ticket zu kaufen. Kurz vor acht geht dann die Tür auf, der Junge, der heraustritt, gibt zu verstehen, der Einlass sei eröffnet und bittet darum, ihm die Karten zu zeigen.

Wir sind die zweiten, die eintreten. Unsere Wahl des Sitzplatzes ist schon getroffen, denn den habe ich bereits vor zwei Stunden beim ersten Blick in den Zuschauerraum ausgesucht. Der füllt sich nun innerhalb weniger Minuten bis fast auf den letzten Stuhl mit hauptsächlich Familien, Gruppen von Frauen, auch ein paar jugendliche, aufgedonnerte Mädchen sind dazwischen, in der Mehrheit sind das Iren, und wir vermuten, es könnten viele Fans der einheimischen Musiker dabei sein.

Und die kommen jetzt nacheinander auf die spärlich beleuchtete Bühne, setzten sich und nehmen ihre Instrumente auf, ein Banjo, eine Fiddle, ein Akkordeon, eine Flöte und eine Tinwhistle. Das Akkordeon beginnt, und die anderen Musiker fallen nacheinander in eine fröhliche, lebendige Melodie ein, manche setzen ab, setzen aus, reihen sich wieder ein in den gemeinsamen Rhythmus, und die Musik steigert sich durch ihr Zusammenspiel zu einem fulminanten Crescendo, das die Zuschauer zum Mitklatschen, zum Mitklopfen, zum Mitwiegen des ganzen Körpers animiert. Uns treibt es die Gänsehaut vom Rücken ausgehend hinauf in den Kopf und bis hinunter in die Unterschenkel. Mit Herz und Können bieten uns die Musiker dort vorne genau die Art traditioneller Musik, die wir so lange vergeblich gesucht haben. Sie wechseln beim Tempo der Stücke ab, nehmen andere Instrumente zur Hand, eine Harfe, noch eine andere Flöte, ein Klavier begleitet Liebes- und Abschiedsgeschichten, die eine der Musikerinnen als bewegenden Sologesang vorträgt. Und dann wirbelt eine kleine, handtuchzarte Acht- oder Neunjährige zu ihrem Sean nos Tanz auf die Bühne. Bekleidet ist sie mit einer schwarzen, lockeren Stoffhose und einem schwarzen Top. Die dunkelbraunen Haare fallen ihr in kräftigen Locken bis zu den Hüften, um die sie eine lila Schleife gebunden hat. Ihr Körper scheint kein Gewicht zu haben, so leicht und schwerelos wie sie sich hüpfend, drehend und steppend zur Musik bewegt. Und sie bleibt nicht allein: Die Musik wechselt nun mit einem feinen Übergang in ein anderes Tempo, noch schneller und noch leichter geht es voran, und nacheinander treten zunächst ein schlankes, athletisch gewachsenes Mädchen, ein junger Bursche ganz in Schwarz, und dann noch eine Brünette von gleichem Alter und gleichem Wuchs wie ihre Kollegin auf, deren blonde, nach hinten zusammengebundene Haare weit über die Schultern fallen. Die beiden Mädchen, wir schätzen sie auf 15 oder 16, tragen rote, ärmellose Oberteile, dem Augenschein nach federleichte Seitenröcke, die gerade bis zur Mitte der Oberschenkel reichen und beim Springen und Hochwerfen der Knie oder des ganzen Beins munter um die Hüften schwingen. Ihre schlanken Beine stecken in schwarzen, blickdichten Strümpfen und münden unten in das eigentliche Instrument der Tänzer: Die verstärkten "Tips" und "Heels" der schwarzen Lederschuhe, die - in der Wahrnehmung zerfließen uns hier Ursache und Wirkung - die Füße und Beine zum Hüpfen, Springen und zum Drehen und zu einer für uns nicht durchschaubaren, aberwitzig schnellen Schrittfolge nach vorne, nach hinten und seitwärts treiben. Die drei Akteure schweben mehr, als dass sie tanzen, das Bühnenholz unter ihnen scheint nur als Klangkörper wichtig zu sein und weniger oder gar nicht, um sie als menschliche Wesen, die dem Gesetz der Schwerkraft unterliegen, zu tragen. Eigenartig, aber doch besonders und schön anzuschauen sind die kerzengerade gehaltenen Oberkörper und die parallel dazu herabhängenden Arme, die den Ausdruck und die Intensität des Tanzes von Beinen und Füßen nur noch verstärken. Wir sind begeistert. Eine wunderschöne Darbietung, lebendig, von hoher professioneller Qualität, und gleichzeitig liebenswert, bodenständig und zum Greifen nah.

Der junge Mann in diesem Trio, dem Programm nach muss es Seamus Flaherty sein, ist noch keine 15 Jahre alt und ein wirkliches Multitalent. Außer dem fantastischen Tanz, den er abliefert, spielt er noch Whistle, Harfe und Bodhran. Gesanglich fasziniert uns auch seine a cappella Ballade, deren tragische Verstrickungen und Gefühle wir dem schlanken, schwarzhaarigen Burschen aufgrund seines wirklich zarten Alters allerdings nicht recht abnehmen wollen.

Zufrieden, ja glücklich, verlassen wir den Vorstellungsraum, wir nehmen uns die Zeit, um die Darbietungen der letzten beiden Stunden in uns noch nachklingen und nachwirken zu lassen. Und als wir fast als letzte draußen ins Foyer kommen, stehen sie da, alle ausnahmslos aufgereiht, die Musiker und Tänzer und Sänger, die uns einen so schönen Abend beschert haben. Und nicht nur einfach so: Bescheiden, aber doch zugewendet blicken sie uns an, die einen etwas schüchterner als die anderen, und, ich glaube, es ist Conall Flaherty, Seamus' älterer Bruder, der auf uns zutritt, uns die Hand reicht und sich für unser Kommen bedankt. Noch schöner hätte unser Besuch im Station House Theatre wahrlich nicht enden können.

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