H. G. Wells – Gesammelte Werke

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12 – Das Gesicht des Seleniten

Ich wur­de mir be­wusst, dass ich in auf­ge­reg­tem Dun­kel zu­sam­men­ge­kau­ert saß. Lan­ge Zeit konn­te ich nicht be­grei­fen, wo ich war, noch wie ich in die­se Schwie­rig­keit ge­ra­ten war. Ich dach­te an den Schrank, in den ich als Kind zu­wei­len ge­steckt wor­den war, und dann an ein sehr dunkles und ge­räusch­vol­les Schlaf­zim­mer, in dem ich wäh­rend ei­ner Krank­heit ge­schla­fen hat­te. Aber die­se Geräusche um mich wa­ren nicht die Geräusche, die ich ge­kannt hat­te, und in der Luft hing ein dün­ner Ge­ruch wie der Hauch ei­nes Stal­les. Dann nahm ich an, wir müss­ten noch an der Sphä­re ar­bei­ten, und ir­gend­wie sei ich in den Kel­ler von Ca­vors Haus ge­ra­ten. Ich be­sann mich, dass wir die Sphä­re vollen­det hat­ten, und dann mein­te ich, ich müs­se noch dar­in sein und durch den Raum rei­sen.

»Ca­vor«, sag­te ich, »kön­nen wir nicht et­was Licht ma­chen?«

Es kam kei­ne Ant­wort.

»Ca­vor!«, be­harr­te ich.

Ein Stöh­nen ant­wor­te­te mir. »Mein Kopf!«, hör­te ich ihn sa­gen, »mein Kopf!«

Ich ver­such­te die Hän­de an die Stirn zu drücken, die schmerz­te, und ich ent­deck­te, dass sie zu­sam­men­ge­bun­den wa­ren. Das er­schreck­te mich sehr. Ich hob sie bis zu mei­nem Mun­de und fühl­te die küh­le Glät­te von Me­tall. Sie wa­ren zu­sam­men­ge­ket­tet. Ich ver­such­te die Bei­ne aus­ein­an­der­zu­tun und er­fuhr, dass sie ähn­lich ge­fes­selt wa­ren, und auch, dass ich durch eine di­cke­re Ket­te mit­ten um mei­nen Rumpf an den Bo­den ge­fes­selt war.

Dies er­schreck­te mich mehr, als es in al­len un­sern selt­sa­men Er­leb­nis­sen noch ir­gend et­was ge­tan hat­te. Eine Zeit lang zerr­te ich schwei­gend an mei­nen Fes­seln. »Ca­vor!«, rief ich scharf. »Wa­rum bin ich ge­bun­den? Wa­rum ha­ben Sie mir Hän­de und Füße ge­bun­den?«

»Ich habe Sie nicht ge­bun­den«, ant­wor­te­te er. »Das ha­ben die Se­le­ni­ten ge­tan.«

Die Se­le­ni­ten! da­bei blieb mein Geist eine Wei­le ste­hen. Dann ka­men mir mei­ne Erin­ne­run­gen zu­rück: Die Schnee­wüs­te, das Auftau­en der Luft, das Wach­sen der Pflan­zen, un­ser selt­sa­mes Hüp­fen und Krie­chen un­ter den Fel­sen und der Ve­ge­ta­ti­on des Kra­ters. All die Not un­se­rer wahn­sin­ni­gen Su­che nach der Sphä­re kam mir zu­rück … Schließ­lich die Öff­nung des großen De­ckels, der das Loch ver­barg.

Dann, als ich mich an­streng­te, un­se­re spä­te­ren Be­we­gun­gen bis zu un­se­rer ge­gen­wär­ti­gen Lage auf­zu­spü­ren, wur­de der Schmerz in mei­nem Kop­fe un­er­träg­lich. Ich kam an eine un­über­steig­ba­re Schran­ke, eine hart­nä­cki­ge Lücke.

»Ca­vor!«

»Ja?«

»Wo sind wir?«

»Wie soll ich das wis­sen?«

»Sind wir tot?«

»Was für ein Un­sinn!«

»So ha­ben sie uns?«

Er gab au­ßer ei­nem Grun­zen kei­ne Ant­wort. Die noch zö­gern­den Res­te des Gif­tes schie­nen ihn merk­wür­dig reiz­bar zu ma­chen.

»Was ge­den­ken Sie zu tun?«

»Wie soll­te ich wis­sen, was zu tun ist?«,

»O, schön!«, sag­te ich und ver­stumm­te. Dann er­wach­te ich aus ei­ner Starr­heit. »O Him­mel!«, rief ich, »ich woll­te. Sie lie­ßen dies Sum­men!«

Wir ver­san­ken wie­der in Schwei­gen und lausch­ten auf den dump­fen Wirr­warr von Geräuschen gleich den ge­dämpf­ten Lau­ten ei­ner Stra­ße oder ei­ner Fa­brik, die uns die Ohren füll­ten. Ich konn­te nicht dar­aus klug wer­den, mein Geist ver­folg­te erst einen Rhyth­mus und dann einen an­de­ren und be­frag­te ihn ver­ge­bens. Aber nach lan­ger Zeit wur­de ich mir ei­nes neu­en und schär­fe­ren Ele­ments be­wusst, das sich nicht mit dem Rest ver­misch­te, son­dern sich gleich­sam von je­nem wol­ki­gen Hin­ter­grund von Tö­nen ab­hob. Es war eine Rei­he re­la­tiv sehr we­nig be­stimm­ter Töne, ein Klop­fen und Rei­ben, wie wenn ein lo­ser Efeuzweig an ein Fens­ter schlägt, oder ein Vo­gel auf ei­ner Schach­tel um­her­hüpft. Wir lausch­ten und späh­ten um uns, aber das Dun­kel war eine sam­me­te­ne De­cke. Es folg­te ein Geräusch wie die fei­ne Be­we­gung der Hem­mung ei­ner gut ge­öl­ten Uhr. Und dann er­schi­en vor mir, gleich­sam in ei­ner schwar­zen Uner­mess­lich­keit hän­gend, eine dün­ne hel­le Li­nie.

»Sehn Sie!«, flüs­ter­te Ca­vor sehr lei­se.

»Was ist das?«

»Ich weiß nicht.«

Wir starr­ten hin.

Die dün­ne hel­le Li­nie wur­de ein Band und brei­ter und blas­ser. Sie nahm den Cha­rak­ter ei­nes bläu­li­chen Lich­tes an, das auf eine ge­tünch­te Wand fiel. Sie hör­te auf, par­al­lel­sei­tig zu sein; sie ent­fal­te­te auf ei­ner Sei­te eine tie­fe Zah­nung. Ich wand­te mich, um Ca­vor dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, und sah sein Ohr mit Ent­set­zen in glän­zen­der Be­leuch­tung – sonst lag er ganz im Schat­ten. Ich dreh­te den Kopf her­um, so gut mei­ne Fes­seln es mir er­lau­ben woll­ten. »Ca­vor«, sag­te ich, »das ist hin­ten!«

Sein Ohr ver­schwand – wich ei­nem Auge!

Plötz­lich ver­brei­te­te sich der Spalt, der das Licht ein­ge­las­sen hat­te, und of­fen­bar­te sich als der Rah­men ei­ner sich öff­nen­den Tür. Da­hin­ter lag ein bläu­li­cher Durch­blick, und in der Tür stand eine gro­tes­ke Sil­hou­et­te vor dem Glan­ze.

Wir mach­ten bei­de krampf­haf­te An­stren­gun­gen, uns um­zu­dre­hen, und da uns das nicht ge­lang, sa­ßen wir da und starr­ten über un­se­re Schul­tern weg nach hin­ten. Mein ers­ter Ein­druck war der ei­nes plum­pen Vier­fü­ßers mit ge­senk­tem Kopf. Dann sah ich, dass es der schlan­ke, zu­sam­men­ge­knif­fe­ne Leib mit den kur­z­en und au­ßer­or­dent­lich ver­dünn­ten, ge­bo­ge­nen Bei­nen ei­nes Se­le­ni­ten war, der den Kopf zwi­schen die Schul­tern ge­drückt hielt. Er war ohne Helm und ohne die Leib­be­de­ckung, die sie äu­ßer­lich tra­gen.

Er war für uns eine lee­re, schwar­ze Ge­stalt, aber in­stink­tiv lieh un­se­re Fan­ta­sie sei­nem sehr mensch­li­chen Um­riss Züge. Ich we­nigs­tens nahm so­fort an, dass er et­was Buck­li­ges mit ho­her Stirn und lan­gen Zü­gen war.

Er kam drei Schrit­te nä­her und blieb eine Zeit lang ste­hen. Sei­ne Be­we­gun­gen schie­nen ab­so­lut ge­räusch­los. Dann kam er von neu­em nä­her. Er ging wie ein Vo­gel, sei­ne Füße tra­ten ei­ner vor den an­de­ren. Er trat aus dem Licht­strahl, der durch die Tür ein­fiel, her­aus, und es schi­en, als ver­schwin­de er völ­lig im Schat­ten.

Ei­nen Mo­ment such­ten mei­ne Au­gen ihn am falschen Ort, und dann sah ich ihn im vol­len Licht vor uns bei­den ste­hen. Nur wa­ren die mensch­li­chen Züge, die ich ihm ge­lie­hen hat­te, durch­aus nicht da.

Na­tür­lich hät­te ich das er­war­ten sol­len; ich tat es nur nicht. Es traf mich als ein ab­so­lu­ter für einen Mo­ment über­wäl­ti­gen­der Schlag. Es war, als sei es kein Ge­sicht, als müs­se es durch­aus eine Mas­ke sein, ein Grau­en; eine Un­förm­lich­keit, die als­bald Lü­gen ge­straft oder er­klärt wer­den wür­de. Es war kei­ne Nase vor­han­den, und das We­sen hat­te stump­fe, bau­chi­ge Au­gen auf der Sei­te – in der Sil­hou­et­te hat­te ich sie für Ohren ge­hal­ten. Ohren wa­ren nicht da … Ich habe ver­sucht, einen die­ser Köp­fe zu zeich­nen, aber ich kann es nicht. Ein Mund war vor­han­den, nach un­ten ge­bo­gen wie der mensch­li­che Mund in ei­nem wild star­ren­den Ge­sicht …

Der Hals, auf dem der Kopf saß, war an drei Stel­len mit Ge­len­ken ver­se­hen, fast wie die kur­z­en Ge­len­ke an ei­nem Krebs­bein. Die Ge­len­ke der Glie­der konn­te ich nicht se­hen, weil sie in Bin­den gehüllt wa­ren, die die ein­zi­ge Klei­dung aus­mach­ten, die das We­sen trug.

Da stand das Ding und blick­te uns an.

Mein Geist wur­de ganz von der tol­len Un­mög­lich­keit des Ge­schöp­fes in An­spruch ge­nom­men. Ich glau­be, er sel­ber war auch ent­setzt, und viel­leicht mit mehr Grund zum Ent­set­zen als wir. Nur, zum Hen­ker! er zeig­te es nicht. Wir wuss­ten we­nigs­tens, was die­se Be­geg­nung un­ver­ein­ba­rer Ge­schöp­fe zu­stan­de ge­bracht hat­te. Aber man stel­le sich vor, wie es zum Bei­spiel an­stän­di­gen Lon­do­nern Vor­kom­men wür­de, wenn sie auf ein Paar le­ben­der We­sen stie­ßen, so groß wie Men­schen und al­len an­de­ren ir­di­schen Tie­ren ab­so­lut un­ähn­lich, und die­se Ge­schöp­fe lie­fen un­ter den Scha­fen im Hyde Park um­her! So muss es ihm vor­ge­kom­men sein.

Man stel­le sich uns vor! Wir wa­ren an Hand und Fuß ge­bun­den, er­mü­det und schmut­zig; un­se­re Bär­te zwei Zoll lang, und un­se­re Ge­sich­ter ver­schrammt und blu­tig. Ca­vor muss man sich in sei­nen Knie­ho­sen den­ken (die an meh­re­ren Stel­len von dem Ba­jo­nett­strauch zer­ris­sen wa­ren), in sei­nem Jä­ger­hem­de und sei­ner al­ten Kricket­müt­ze, sei­nem sträh­ni­gen Haar in so wil­der Un­ord­nung, dass es eine Sträh­ne in jede Him­mels­rich­tung streck­te. In die­sem blau­en Lich­te sah sein Ge­sicht nicht rot aus, son­dern sehr dun­kel, sei­ne Lip­pen und das trock­nen­de Blut auf mei­nen Hän­den er­schie­nen schwarz. Wo­mög­lich war ich in noch schlim­me­rer Ver­fas­sung als er, weil ich noch in den gel­ben Schwamm­pilz hin­ein­ge­sprun­gen war. Un­se­re Ja­cken wa­ren auf­ge­knöpft, und un­se­re Schu­he wa­ren uns aus­ge­zo­gen und la­gen zu un­sern Fü­ßen. Und wir sa­ßen mit dem Rücken nach die­sem wun­der­li­chen blau­en Licht ge­wen­det und späh­ten auf ein Un­ge­heu­er, wie Dü­rer es hät­te er­fin­den kön­nen.

Ca­vor un­ter­brach die Stil­le; be­gann zu re­den, wur­de hei­ser und räus­per­te sich. Drau­ßen be­gann ein schreck­li­ches Brül­len, als wäre ein Mond­kalb in Not. Es en­de­te mit ei­nem Krei­schen, und dann war al­les wie­der still.

Plötz­lich mach­te der Se­le­nit kehrt, schwenk­te in den Schat­ten, stand einen Mo­ment an der Tür still und blick­te zu­rück und schloss sie dann, und noch ein­mal wa­ren wir in die­sem mur­meln­den Ge­heim­nis des Dun­kels, in das wir er­wacht wa­ren.

 

13 – Mr. Cavor stellt ein paar Vermutungen auf

Eine Zeit lang sprach kei­ner von uns. All die Din­ge, die wir über uns ge­bracht hat­ten, in einen Brenn­punkt zu brin­gen, schi­en mei­ne Geis­tes­kräf­te zu über­stei­gen.

»Sie ha­ben uns«, sag­te ich schließ­lich.

»Es war die­ser Pilz!«

»Ja – wenn ich ihn nicht ge­ges­sen hät­te, wä­ren wir schwach ge­wor­den und ver­hun­gert.«

»Wir hät­ten die Sphä­re fin­den kön­nen.«

Ich ver­lor über sei­ner Hart­nä­ckig­keit die Ge­duld und fluch­te vor mich hin. Eine Wei­le hass­ten wir uns schwei­gend. Ich trom­mel­te mit den Fin­gern zwi­schen mei­nen Kni­en auf den Bo­den und knirsch­te mit den Glie­dern mei­ner Fes­seln ge­gen­ein­an­der. Dann zwang es mich, wie­der zu re­den.

»Ei­ner­lei, was ma­chen Sie dar­aus?«, frag­te ich de­mü­tig.

»Es sind ver­nünf­ti­ge Ge­schöp­fe – sie kön­nen Din­ge ma­chen und tun – – Die Lich­ter, die wir sa­hen …«

Er hielt inne. Es war klar, er konn­te nichts dar­aus ma­chen.

Als er wie­der sprach, ge­sch­ah es, um zu ge­ste­hen: »Schließ­lich sind sie men­schen­ähn­li­cher, als wir zu er­war­ten ein recht hat­ten. Ich glau­be – –«

Er hielt auf­rei­zend inne.

»Ja?«

»Ich glau­be auf je­den Fall – auf al­len Pla­ne­ten, wo es ein in­tel­li­gen­tes Tier gibt – wird es die Hirn­scha­le nach oben tra­gen, Hän­de ha­ben und auf­recht ge­hen …«

Dann schweif­te er plötz­lich in an­de­rer Rich­tung ab.

»Wir sind ein Stück drin­nen«, sag­te er. »Ich mei­ne – viel­leicht ein paar tau­send Fuß oder mehr.«

»Wa­rum?«

»Es ist küh­ler. Und un­se­re Stim­men sind so viel lau­ter. Die­ser ver­blass­te Cha­rak­ter – der ist völ­lig fort. Und das Ge­fühl in den Ohren und im Hals.«

Das war mir nicht auf­ge­fal­len, aber jetzt tat es das.

»Die Luft ist dich­ter. Wir müs­sen in ei­ni­ger Tie­fe sein – viel­leicht so­gar eine Mei­le in­ner­halb des Mon­des.«

»Wir ha­ben nie an eine Welt im Mond ge­dacht.«

»Nein.«

»Wie konn­ten wir auch!«

»Wir hät­ten dar­an den­ken kön­nen. Nur – man nimmt geis­ti­ge Ge­wohn­hei­ten an.«

Er dach­te eine Zeit lang nach.

»Jetz­t«, sag­te er, »scheint es so selbst­ver­ständ­lich.«

»Na­tür­lich! Der Mond muss un­ge­heu­re Höh­len ha­ben, eine in­ne­re At­mo­sphä­re und im Zen­trum sei­ner Höh­len ein Meer.«

»Man wuss­te, dass der Mond ein ge­rin­ge­res spe­zi­fi­sches Ge­wicht hat als die Erde, man wuss­te, dass er drau­ßen we­nig Was­ser oder Luft hat, man wuss­te auch, dass er ein Schwes­ter­pla­net der Erde war, wenn er in sei­ner Zu­sam­men­set­zung ver­schie­den wäre. Der Schluss, dass er hohl ist, war so klar wie der Tag. Und doch hat man das nie als Tat­sa­che ge­se­hen. Kep­ler na­tür­lich –«

Sei­ne Stim­me ver­riet jetzt das In­ter­es­se ei­nes Man­nes, der eine hüb­sche Schluss­fol­ge ent­deckt hat.

»Ja«, sag­te er »Kep­ler mit sei­nen sub­vol­ca­ni hat­te recht.«

»Ich woll­te, Sie hät­ten sich die Mühe ge­macht, das vor un­se­rer An­kunft her­aus­zu­fin­den«, sag­te ich.

Er ant­wor­te­te nichts, son­dern summ­te lei­se vor sich hin, als er sei­nen Ge­dan­ken folg­te. Ich ver­lor die Ge­duld. »Was mei­nen Sie denn, ist aus der Sphä­re ge­wor­den?«, frag­te ich.

»Ver­lo­ren«, sag­te er wie ei­ner, der eine un­in­ter­essan­te Fra­ge be­ant­wor­tet.

»Un­ter die­sen Pflan­zen?«

»Wenn sie sie nicht fin­den.«

»Und dann?«

»Wie kann ich das wis­sen?«

»Ca­vor«, sag­te ich mit ei­ner Art hys­te­ri­scher Bit­ter­keit, »die Din­ge se­hen glän­zend aus für mei­ne Ge­sell­schaft …«

Er gab kei­ne Ant­wort.

»Gü­ti­ger Him­mel!«, rief ich aus. »Den­ken Sie doch nur an all die Mühe, die wir uns ge­ge­ben ha­ben, um in die­se Pat­sche zu ge­ra­ten! Wozu sind wir ge­kom­men? Was ging uns der Mond an oder wir den Mond? Wir ha­ben zu viel ge­wollt, wir ha­ben zu viel ver­sucht. Wir hät­ten mit den klei­nen Sa­chen be­gin­nen sol­len. Den Mond ha­ben Sie vor­ge­schla­gen! Die­se Ca­vo­rit-Roll­ja­lou­si­en! Ich bin si­cher, wir hät­ten sie für ir­di­sche Zwe­cke an­wen­den kön­nen. Si­cher! Hat­ten Sie wirk­lich ver­stan­den, was ich vor­schlug! Ein Stahl­zy­lin­der – –«

»Quatsch!«, sag­te Ca­vor.

Wir hör­ten auf mit­ein­an­der zu re­den.

Eine Zeit lang un­ter­hielt Ca­vor ohne viel Hil­fe von mir einen ge­bro­che­nen Mo­no­log.

»Wenn sie sie fin­den«, be­gann er, »wenn sie sie fin­den … was wer­den sie da­mit an­fan­gen? Ja, das ist eine Fra­ge. Vi­el­leicht ist das die Fra­ge. Auf je­den Fall wer­den sie sie nicht ver­ste­hen. Wenn sie solch Zeug ver­stän­den, wä­ren sie längst auf die Erde ge­kom­men. Wä­ren sie? Wa­rum soll­ten sie nicht? Aber sie hät­ten et­was ge­schickt – – Sie hät­ten von ei­ner sol­chen Mög­lich­keit nicht die Hand las­sen kön­nen. Nein! Aber sie wer­den sie un­ter­su­chen. Of­fen­bar sind sie in­tel­li­gent und neu­gie­rig. Sie wer­den sie un­ter­su­chen – hin­ein­stei­gen – mit den Knöp­fen spie­len. Weg! … Das hie­ße für uns: auf den Rest un­se­res Le­bens den Mond! Selt­sa­me Ge­schöp­fe, selt­sa­mes Wis­sen …«

»Was das selt­sa­me Wis­sen an­geht« – sag­te ich, und die Wor­te ver­sag­ten mir.

»Hö­ren Sie, Bed­ford«, sag­te Ca­vor, »Sie sind aus ei­ge­nem, frei­em Wil­len auf die­se Ex­pe­di­ti­on ge­gan­gen.«

»Sie sag­ten zu mir: ›Nen­nen Sie es Pro­spek­tern‹.«

»Beim Pro­spek­tern läuft man im­mer Ri­si­ko.«

»Be­son­ders, wenn man es un­be­waff­net un­ter­nimmt, und ohne vor­her jede Mög­lich­keit aus­zu­den­ken.«

»Ich war so von der Sphä­re in An­spruch ge­nom­men. Die Sa­che stürz­te auf uns los und trug uns fort.«

»Stürz­te auf mich los, mei­nen Sie.«

»Stürz­te eben­so­sehr auf mich. Wo­her soll­te ich wis­sen, als ich über Mo­le­ku­lar­phy­sik zu ar­bei­ten be­gann, dass die Ge­schich­te mich hier­her brin­gen wür­de – von al­len Or­ten hier­her!«

»Das ist die­se ver­fluch­te Na­tur­wis­sen­schaft«, rief ich. »Die ist der wah­re Teu­fel. Die mit­tel­al­ter­li­chen Pries­ter und Ver­fol­ger hat­ten recht, und die Mo­der­nen ha­ben völ­lig un­recht. Sie las­sen sich mit ihr ein – und sie bie­tet Ih­nen Ga­ben, sind so wie Sie die Ga­ben neh­men, schlägt sie Sie auf eine un­er­war­te­te Art in Stücke. Alte Lei­den­schaf­ten und neue Waf­fen – bald wirft sie Ihre Re­li­gi­on um, bald wirft sie Ihre so­zia­len Ide­en um, bald wir­belt sie Sie in die Wüs­te und ins Elend da­von!«

»Auf je­den Fall nützt es nichts, wenn Sie jetz­t mit mir zan­ken. Die­se Ge­schöp­fe – die­se Se­le­ni­ten oder wie wir sie auch nen­nen wol­len – ha­ben uns an Hän­den und Fü­ßen ge­bun­den. In wel­cher Stim­mung es Ih­nen auch be­liebt, die Sa­che durch­zu­ma­chen, durch­ma­chen wer­den Sie sie müs­sen … Wir ha­ben Er­leb­nis­se vor uns, die un­se­re gan­ze Küh­le er­for­dern wer­den.«

Er hielt inne, als ver­lan­ge er mei­ne Bei­stim­mung. Aber ich groll­te. »Zum Hen­ker mit Ih­rer Wis­sen­schaft!«, sag­te ich.

»Das Pro­blem lau­tet: Mit­tei­lung. Ges­ten, fürch­te ich, wer­den an­ders sein. Zei­gen, zum Bei­spiel. Au­ßer Men­schen und Af­fen zei­gen kei­ne Ge­schöp­fe.«

Das war mir zu hand­greif­lich ver­kehrt. »Ziem­lich je­des Tier«, rief ich, »zeigt mit den Au­gen oder mit der Nase.«

Ca­vor dach­te dar­über nach. »Ja«, sag­te er schließ­lich, »und wir nicht. Es gibt sol­che Ver­schie­den­hei­ten – sol­che Ver­schie­den­hei­ten?«

»Man könn­te … Aber wie kann ich das sa­gen? Da ist die Spra­che. Die Töne, die sie von sich ge­ben, eine Art Flö­ten und Pfei­fen. Ich sehe nicht, wie wir das nach­ah­men soll­ten. Ist das ihre Spra­che? Sie kön­nen an­de­re Sin­ne ha­ben, an­de­re Mit­tel der Mit­tei­lung. Na­tür­lich sind sie Geis­ter, und wir sind Geis­ter; es muss et­was Ge­mein­sa­mes ge­ben. Wer weiß, wie weit wir nicht zu ei­ner Ver­stän­di­gung kom­men kön­nen?«

»Die Din­ge sind an­ders als wir«, sag­te ich. »Sie sind mehr von uns un­ter­schie­den als die fremd­ar­tigs­ten Tie­re auf der Erde. Sie sind ein ver­schie­de­ner Lehm. Was nützt es, so zu re­den?«

Ca­vor über­leg­te. »Das sehe ich nicht ein. Wo Geis­ter sind, wer­den sie et­was Ähn­li­ches ha­ben – selbst wenn sie auf ver­schie­de­nen Pla­ne­ten ent­wi­ckelt sind. Na­tür­lich, wenn es eine Fra­ge der In­stink­te wäre, wenn wir oder sie nichts wä­ren als Tie­re – –«

»Ja, sin­d sie et­was an­de­res? Sie glei­chen viel eher Amei­sen auf den Hin­ter­bei­nen als mensch­li­chen We­sen, und wer ist je mit Amei­sen zu ir­gend­wel­cher Ver­stän­di­gung ge­kom­men?«

»Aber die­se Ma­schi­nen und die Klei­dung! Nein, ich bin nicht Ih­rer Mei­nung, Bed­ford. Der Un­ter­schied ist groß – –«

»Er ist un­über­steig­lich.«

»Die Ähn­lich­keit muss ihn über­brücken. Ich er­in­ne­re mich, dass ich ein­mal einen Auf­satz von dem ver­stor­be­nen Pro­fes­sor Gal­ton über die Mög­lich­keit ei­ner Mit­tei­lung zwi­schen den Pla­ne­ten ge­le­sen habe. Lei­der schi­en es mir da­mals nicht wahr­schein­lich, dass mir das von ir­gend­wie ma­te­ri­el­lem Nut­zen sein könn­te, und ich fürch­te, ich habe ihm nicht die Auf­merk­sam­keit ge­schenkt, die ich ihm hät­te schen­ken sol­len – wenn man die­sen Stand der Din­ge be­rück­sich­tigt. Aber … Halt, las­sen Sie mich se­hen! – Sei­ne Idee war, mit je­nen all­ge­mei­nen Wahr­hei­ten zu be­gin­nen, die al­len denk­ba­ren geis­ti­gen Exis­ten­zen zu­grun­de lie­gen müs­sen, und dar­auf eine Ba­sis zu be­grün­den. Zu­nächst mit den großen Prin­zi­pi­en der Geo­me­trie. Er schlug vor, ir­gend­ei­nen füh­ren­den Lehr­satz des Eu­k­lid zu neh­men und durch Kon­struk­ti­on zu zei­gen, dass uns sei­ne Wahr­heit be­kannt sei, zum Bei­spiel zu be­wei­sen, dass die Win­kel an der Ba­sis ei­nes gleich­sei­ti­gen Drei­ecks gleich sind, und dass, wenn man die glei­chen Sei­ten ver­län­gert, auch die Win­kel auf der an­de­ren Sei­te der Ba­sis gleich sind, oder dass das Qua­drat auf der Hy­po­te­nu­se ei­nes recht­wink­li­gen Drei­ecks gleich der Sum­me der Qua­dra­te über den bei­den Ka­the­ten ist. Da­durch, dass wir un­se­re Kennt­nis die­ser Din­ge dar­tä­ten, wür­den wir zei­gen, dass wir im Be­sitz ei­nes ver­nünf­ti­gen In­tel­lekts sind … Wenn ich nun … wenn ich die geo­me­tri­sche Fi­gur mit ei­nem nas­sen Fin­ger zeich­ne­te, oder sie auch nur in der Luft an­deu­te­te …«

Er ver­stumm­te. Ich über­leg­te sei­ne Wor­te. Eine Zeit lang bann­te mich die­se wil­de Hoff­nung aus Mit­tei­lung, auf Ver­stän­di­gung mit die­sen ge­spens­ti­schen We­sen. Dann nahm jene zor­ni­ge Verzweif­lung, die ein Teil mei­ner Er­schöp­fung und mei­nes phy­si­schen Elends war, ihre Herr­schaft wie­der auf. Ich sah mit plötz­li­cher, neu­er Le­ben­dig­keit, wie furcht­bar tö­richt al­les war, was ich je ge­tan hat­te. »Esel!«, sag­te ich, »o, Esel, un­säg­li­cher Esel … es scheint, ich bin nur da, um her­um­zu­lau­fen und wi­der­sin­ni­ge Din­ge zu tun … Wa­rum ha­ben wir das Ding je­mals ver­las­sen? … Hüp­fen auf der Su­che nach Pa­ten­ten und Kon­zes­sio­nen in den Mond­kra­tern her­um! … Wenn wir nur den Ver­stand ge­habt hät­ten, ein Ta­schen­tuch an einen Stock zu bin­den, um zu zei­gen, wo wir die Sphä­re ge­las­sen ha­ben!«

Ich sank in Wut zu­sam­men.

»Es ist klar«, über­leg­te Ca­vor, »sie sind in­tel­li­gent. Man kann ge­wis­se Din­ge auf­stel­len. Da sie uns nicht so­fort ge­tö­tet ha­ben, müs­sen sie Ge­dan­ken des Er­bar­mens ha­ben. Des Er­bar­mens! auf je­den Fall der Selbst­be­herr­schung. Vi­el­leicht des Ver­kehrs. Sie wer­den uns viel­leicht ent­ge­gen­kom­men. Und die­ser Raum und der Ein­druck, den wir von sei­nem Hü­ter hat­ten. Die­se Fes­seln! Ein ho­her Grad von In­tel­li­genz!«

»Ich woll­te zum Him­mel«, rief ich, »ich hät­te nur zwei­mal ge­dacht! Sprung nach Sprung. Erst ein An­fang aufs Ge­ra­te­wohl und dann ein zwei­ter. Es war mein Ver­trau­en zu Ih­nen! Wa­rum bin ich nicht bei mei­nem Dra­ma ge­blie­ben? Dem war ich ge­wach­sen. Das war mei­ne Welt, und das Le­ben, zu dem ich ge­schaf­fen war. Das Dra­ma hät­te ich zu Ende brin­gen kön­nen. Ich bin si­cher … es war ein gu­tes Dra­ma. Ich hat­te das Sze­na­ri­um so gut wie fer­tig. Dann … stel­len Sie sich vor! auf den Mond zu sprin­gen! Prak­tisch be­trach­tet – hab’ ich mein Le­ben weg­ge­wor­fen! Die alte Frau in dem Gast­ho­fe bei Can­ter­bu­ry hat­te mehr Ver­stand.«

Ich blick­te auf und un­ter­brach mich mit­ten im Satz. Die Dun­kel­heit war von neu­em dem bläu­li­chen Lich­te ge­wi­chen. Die Tür ging auf, und meh­re­re ge­räusch­lo­se Se­le­ni­ten ka­men in den Raum. Ich wur­de ganz still und starr­te ihre gro­tes­ken Ge­sich­ter an.

 

Dann ver­wan­del­te sich plötz­lich mei­ne Emp­fin­dung un­an­ge­neh­mer Fremd­heit in In­ter­es­se. Ich sah, dass der vor­ders­te und der zwei­te Schüs­seln tru­gen. Ein ele­men­ta­res Be­dürf­nis we­nigs­tens konn­ten un­se­re Geis­ter ge­mein­sam ver­ste­hen. Es wa­ren Schüs­seln aus ei­nem Me­tall, das wie un­se­re Fes­seln in dem bläu­li­chen Licht dun­kel aus­sah, und jede ent­hielt eine An­zahl weiß­li­cher Frag­men­te. All der neb­li­ge Schmerz und das Elend, das mich be­drück­te, stürz­te zu­sam­men und nahm die Ge­stalt des Hun­gers an. Ich blick­te wöl­fisch nach die­sen Schüs­seln, und ob­gleich es mich in Träu­men heim­ge­sucht hat, da­mals er­schi­en es mir als eine Klei­nig­keit, dass am Ende der Arme, die ei­ner zu mir senk­te, kei­ne Hän­de sa­ßen, son­dern eine Art Lap­pen und ein Dau­men, wie am Ende ei­nes Ele­fan­ten­rüs­sels.

Das Zeug in der Schüs­sel war lo­sen Ge­we­bes und von weiß­lich brau­ner Far­be – etwa wie Stücke ei­nes kal­ten souf­flé, und es roch wie Pil­ze. Nach ei­nem teil­wei­se ge­öff­ne­ten Leich­nam ei­nes Mond­kal­bes, den wir bald dar­auf zu se­hen be­ka­men, nei­ge ich zu dem Glau­ben, dass es Mond­kalb­fleisch ge­we­sen sein muss.

Mir wa­ren die Hän­de zu eng ge­fes­selt, dass es mir kaum ge­lin­gen woll­te, die Schüs­sel zu er­rei­chen; aber als sie mei­ne An­stren­gung sa­hen, lös­ten zwei von ih­nen sehr ge­wandt eine der Win­dun­gen um mein Hand­ge­lenk. Ich fass­te so­fort einen Bis­sen von der Nah­rung. Sie war eben­so lo­ser Tex­tur, wie sie auf dem Mond al­les or­ga­ni­sche Wachs­tum zu ha­ben scheint; sie schmeck­te etwa wie eine Waf­fel oder ein nas­ser Bai­ser, aber sie war durch­aus nicht un­an­ge­nehm. Ich nahm zwei wei­te­re Bis­sen. »Ich muss­te – es­sen!«, sag­te ich und riss ein noch grö­ße­res Stück ab …

Eine Zeit lang aßen wir in äu­ßers­ter Selbst­ver­ges­sen­heit. Wir aßen und tran­ken dann auch wie Land­strei­cher in ei­ner Gar­kü­che. Nie zu­vor oder seit­her bin ich bis zu dem ra­sen­den Gra­de heiß­hung­rig ge­we­sen, und hät­te ich es nicht er­lebt, ich hät­te nie glau­ben kön­nen, dass ich eine Vier­tel­mil­li­on Mei­len von un­se­rer ei­gent­li­chen Welt ent­fernt in äu­ßers­ter See­len­be­klem­mung, um­ge­ben, be­ob­ach­tet, be­rührt von gro­tes­ke­ren und un­mensch­li­che­ren We­sen, als es die schlimms­ten Schöp­fun­gen ei­nes Albs sind, in äu­ßers­ter Ver­ges­sen­heit all die­ser Din­ge hät­te es­sen kön­nen.

Sie um­stan­den uns und be­ob­ach­te­ten uns, und hin und wie­der ga­ben sie ein lei­ses, flüch­ti­ges Zwit­schern von sich, das, glau­be ich, bei ih­nen die Stel­le der Spra­che ver­trat. Ich schau­der­te nicht ein­mal bei ih­rer Berüh­rung. Und als der ers­te Ei­fer mei­nes Es­sens vor­über war, konn­te ich be­mer­ken, dass auch Ca­vor mit der­sel­ben scham­lo­sen Hin­ge­bung ge­ges­sen hat­te.