DIE FAHRT NACH T

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
DIE FAHRT NACH T
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Herbert Beyertz

DIE FAHRT NACH T

Roman einer Reise zu den Wurzeln

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

I

II Waldverschlagen

III Das Erbe

IV Tag der grossen Sonnenfinsternis

V Zwischen den Meeren

VI Geschwader silberner Schlitten

VII Eschenborn

VIII Post aus Frankreich

IX Zwölfte Rauhnacht

X Songlines

XI Die Nacht war lang

XII Adams Turm

XIII Dobri ljudi

XIV Im Schatten eines Schattens

XV On voit le soleil

Impressum neobooks

I

Herbert Beyertz

Herbert Beyertz • Die Fahrt nach T...

Herbert Beyertz


Inhalt


Seinem gedämpften „Noch“ folgt nach einer Weile

„seine letzte Fahrt – auf meine Kosten.“

„Ebbes, und ist nur ein Frachtboot… Ninon hätte etwas besseres verdient als so einen Appelkahn.“

„Der Appelkahn heisst Jason, Mutter – lies doch, gross und deutlich am Heck: Jason, nicht Ninon.“

Huberdina, als hätte sie’s überhört:

„Arm Kind. Nie verstand ich, wo ihr doch so glück- lich schient mit den beiden Jungs. Wollt ihr nicht noch einen Versuch machen? Jan, glaube ich, hat es am schwersten getroffen.“

Adam, obschon genervt, in guter Beherrschung:

„Das glaube ich nicht. Aber wir telefonieren manch- mal wieder. Merkwürdig, wie gern sie von dir spricht.“

„Adam, ich möchte wieder nach Den Haag. Kannst du das nicht machen? Oder haben wir das Haus nicht mehr?“

„Mutter, du weisst, es geht nicht. Du brauchst Hilfe, die ich dir dort schwer sichern kann. Sobald die Villa am Turm renoviert ist – glaube mir, nirgendwo wirst du es besser finden. Und Katzen kannst du so viele halten wie du willst.“

„Ich weiss nicht, Adam. Dort in den Ardennen, die vielen Soldaten…“

„Wieso?! Ausser zu den Herbstmanövern gibt es da keine Soldaten.“

„Du verstehst nicht. Die Gefallenen, die Gräberfelder, all die…“

„Nicht im Umkreis von zehn Meilen! Ich bitte dich… Aber es wird kühl, Mutter, gehen wir wieder unter Deck.“


Auf halbem Weg wendet sich Huberdina noch einmal

zum Wasser:

„Diese grossen Fische da… Lieve God.“


sam geleerten Moseltraminer, nachdem er seinen späten

Gast zum Gartentörchen geleitet hatte.

Gedämpftes Gelächter folgte stets dem letzten Gruss, wenn der Jeep mit seinem schwarzen Fahrer die schlecht beleuchtete Dorfstrasse davonfuhr. „Hat er nicht eine eigenartige Stimme?“ mochte dann Vater Jacques die Mutter fragen, worauf Elsa immer nur das eine zu erwidern wusste, indem sie den mitternächtigen Pegel ihres Mannes zu taxieren versuchte: „Er ist eben Amerikaner.“-

Der Farmerssohn aus Wisconsin (mit bayrischen Vor- fahren) hatte eine Reederstochter von Holland an dem Tag geehelicht, als ein deutscher Admiral die bedin- gungslose Kapitulation des Großdeutschen Reiches un- terzeichnete. Somit feierte der Leutnant der US Air Force einen doppelten Sieg. Ein Kind war bereits un- terwegs, die Heirat schien (wenn auch nicht unbedingt für ihn) zwingend, Adam wurde das Kind getauft.

Wo hat er Holgers Vater kennengelernt? Kilroys wirk- lichen Namen vernahm der Junge erst, als Vater Jacques an einem Sonntag nach dem Mittagessen (bei Elsas und Holgers Pudding, bei seinem Glas Wein) ins Erzählen kam... ,,Also, deine Mutter wird es Wort für Wort be- stätigen – nicht wahr, Elsa?“

Mutters Augen gingen zur Decke, während Vaters Zeigefinger ans Glas schnippte, was, je nachdem wie voll es war, einen eigenen schönen Klang ergab. Wie oft hat er seine Geschichten so begonnen!


Mutter ihre goldene Armbanduhr, weil sie mal dringend

musste, zwischen Heilbronn und Stuttgart verlor. Zwei Wochen später, auf der Rückfahrt, haben wir das gute Stück an genau derselben Stelle wiedergefunden. Und das war – na, mein Junge?“

„Ein gutes Omen!“ rief Holger glücklich.

„Ja, und am Morgen vor Beginn der Passionsspiele machten Mutter und ich einen Ausflug zur Hochplatte. Wir sahen München am Horizont und Hohenschwangau in den Alpen an diesem herrlichen Tag – nächstes Mal fährst du mit.“

„Darf Myriam dann auch mit?“

Er stutzte, sein Blick wanderte zu Elsa. Sie lächelte erst verlegen, aber sagte mit ruhiger Gewissheit:

„Natürlich, sobald sie wieder ganz gesund ist.“

Nun eine kleine Pause, in der Vaters Auge einer Fliege

überm Tischtuch folgt. Mit einem ganz raschen Klaps seiner eingerollten Serviette erlegt er sie – selten, dass ihm eine entging. Nicht mal ein Blutfleckchen sieht man an der Waffe des Meisterschützen, mit der er die Fliege vom Tisch kehrt.

„Ein ziemliches Gedränge da oben, auf dem Plafond waren die meisten wohl wie wir Besucher der Passion, die Aussicht ist ja auch phänomenal. Mutter hatte die Kamera mit und dein Vater stellte sich in Richtung Burg an das Geländer. Von einer Bank neben Mutter erhob sich ein Mann, wartete noch zwei Knipser ab und kam dann lächelnd auf mich zu: You are Pilatus?

Ein Amerikaner, dachte ich gleich, die Engländer sind nicht so neugierig.Yes, yes, sagte ich, I am Pilatus. Lei- der lachte Mutter, und der Ami brauchte jetzt eine an-


dere Antwort. So kamen wir ins Gespräch. Er stellte

seine Frau vor, eine Holländerin… Was für eine feine

Dame, nicht wahr, Elsa?“

Elsa warf kopfnickend einen Blick auf ihre goldene

Uhr und nahm, was noch auf dem Tisch stand, an sich. Sofort meldete Jacques Protest an:

„Bitte, meine Liebe, diesen Rest in der Flasche, wo mich jede zehn Deutsche Mark kostet, wirst du nicht wegschütten!?“

„Oh verzeih, ich konnte es nicht sehen bei dem dunk- len Glas.“ Und lächelnd, ihrem Jaques über die Glatze streichend, sagte sie noch (da musste es ihr schon richtig gut gehen, der es oft nicht gut ging):

„Ich bin ja auch nicht so ein Lurjäger.“

Nachdem Vater den Rest seinem Glas zugegossen, einen Schluck getan, fuhr er fort:

„Ezra Symons, der war`s! Jetzt weisst du, wie mein amerikanischer Freund heisst und bringst mich nicht mehr in Verlegenheit.“-

Dieser Ezra Symons van Porst (den Namen seines Schwiegervaters übernahm er gleich mit der Tochter) wurde von dem Moment an, also noch auf der Hohen Platte, des Vaters Freund, als sie über Jagd und Jagd- gebräuche bei uns und in Übersee zu sprechen kamen. Zwei Jäger vor dem Herrn hatten sich gefunden.

„Mein Englisch ist zwar nicht so gut wie mein Fran- zösisch, aber – schliesslich haben wir Albion nicht er- obert.“

„Warum nicht, Vater?“

„Das war der Morphinist. Der wurde immer fetter und unser Material immer dünner. Die – Luftherrschaft,


mein Junge, die entscheidet jeden Krieg… Hast du dazu

das Material, oder hast du es nicht. Wenn ich das Gold damals nicht gerettet hätte (und Holger denkt: auf einer Insel im Hariksee), wo wären wir geblieben! In den har- ten Jahren, wir hätten sonntags nicht einmal ein Huhn im Topf gehabt.“


Ende: zu früh kehrte sie mit einem Hasen im Maul zu-

rück, als noch ein Häschen an ihr vorbei stob und Ezra schoss, ohne Wanda rechtzeitig wahrzunehmen.

Später, im Burgrestaurant, bei Hirschragout und Ahrweinen bester Lage, wurde auch dieser Fehlschuss begossen und vergessen. Jacques soll da eine Rede gehalten haben, auf die arme Wanda und den Meister- schützen Ezra, die ein göttliches Gelächter beschloss. Keiner von beiden ging noch einmal auf die Jagd.


„Holger Ley, deine Schrift ist so schlecht, als hättest du

deinen Aufsatz mit einem Pinsel geschrieben.“

Zum Gekicher von zwanzig Jungen und Mädchen er- hielt er ihn zurück: „Ungenügend“.-

Zweihundert Meter talauf die berühmte Höhle, in der man im Neunzehnten Jahrhundert die Spuren des Vor- menschen entdeckt hatte. Das war aber noch nicht der Maler gewaltiger Friese, der shaman artiste Altamiras und Lascauxs, dessen Überreste dort geborgen wurden. Ausgestorben mit einer der Sintfluten (Hopis wie Mayas wissen von drei), gab es für den Neandertaler, für diesen finsteren Burschen, weder Arche noch Lied.

 

„Warum nimmst du deine Geige so wenig vor? Tante

Isgard meint...“ Sie stockte, schaute bekümmert nach den Papieren, die Holger mit rotem Gesicht vom Kü- chentisch raffte. „Du hast doch so schön angefangen.“

– Neben seinem Bücherregal hatte er vier Zeichnungen Kubins zu den Prosadichtungen Georg Trakls geheftet. Diese Zeichnungen waren in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs entstanden. Als „das graue Antlitz des Schreckens“ sah man gleichnishaft ein Jahrhundert konterfeit, das so unwirtlich schien und nur in seltenen, herausgehobenen Stunden – etwa beim Erleben Beet- hovenscher Musik – Menschen noch von Erlösbarkeit zu sprechen vermochte. Gewiss nur ahnungsweise, wie Kranichrufe in einer Rauhnacht, tönte dann auch ihm der wortlose Wechselgesang eines Tauben: als der un- auslöschliche Beweis, den Leonhard Bernstein „Gottes- beweis“ genannt hat. Mit Beethovens Musik gäbe es etwas, „das richtig ist, das stimmt und stetig nur seinem ureigensten Gesetz folgt, dem wir vertrauen können und das uns niemals im Stich lässt.“


Natürlich verstand der Vierzehnjährige das nicht. Da

sagte sie:

„Beethoven hing dieser Spruch über seinem Schreib- tisch in Wien, im Schwarzspanierhaus. Wenn wir in Bonn das Beethovenhaus wieder einmal besuchen, kommst du mit. Im Tempel der Göttin Isis war das zu lesen. Auch mir bleibt der Spruch ein grosses Rätsel, obwohl er doch schon so lange hier hängt.“

Sie lachte ein bisschen, zwei Goldzähne blitzten aus einem liebevollen Juffergesicht. „Ja, genau seit dem Jahr deiner Geburt. Es war der erste Ausflug deiner Mutter mit mir nach dem Kriege. Nächstes Mal fährst du mit, willst du?“

„Was hat es mit Musik zu tun – hat es?“ Eine Beklom- menheitn erfasste Holger, vielleicht weniger der Rätsel- worte, eher wegen seines dürftigen Geigenspiels, das er soeben wieder bei der leichten Haydn-Sonate bewiesen hatte. Und wohl auch vor den beiden Köpfen rechts und links. Isgard erhob sich, fast traurig blickte sie nun, ob- wohl sie lächelte, und beschloss ihren Unterricht mit den Worten:

„Die Musik ist so ein tönender Schleier. Doch wir Menschen schlafen noch – oder wir erinnern uns nicht tief genug, wie sollten wir ihn heben! Wir sind nur wie Wandhorcher an einer Höhlenwand... Ein Wort übrigens von Ernst Barlach.“ Sie zeigte nach dem Bücherbord zwischen den beiden Fenstern, auf dem neun Fotos in einem gemeinsamen Passepartout standen.

„Sie stammen von einem nicht vollendeten Beet- hoven-Denkmal dieses grossen Künstlers: Fries der Lauschenden. Wunderbar wie drüben der Spruch! Wenn


wir doch so zu lauschen verstünden, wie Barlach es ge-

meint hat! Zwischen dem Denkmal, das nicht errichtet werden durfte, und dem Tempel, wieviele Jahrhunderte liegen dazwischen!... Ja, woher kommen wir, wohin gehen wir? Das frage ich mich doch oft.“

II Waldverschlagen

Fing sie die die Sprache?

T rägt sie Musik der Delphine?- Gertrud Kolmar


In diesen Tagnächten soll es in einer Anstalt am Nieder-

rhein zu einer schweren Randale gekommen sein, er- zählte Nachbar Jost beim Kaffee nach der Beerdigung der alten Frau. „Ley, wie heisst doch gleich die Stadt...“ Ich hob meine Schulter in Unwissenheit und war ganz Ohr.

Die mit Tranquillizern ruhig gestellten Bewohner eines geschlossenen Hauses wurden auf einmal leben- dig, aus Apfelsaft und Weissbrot hatten sie sich einen Schnaps gebraut. Nach einer wundervoll durchzechten Nacht (Karneval auf fünf Kanälen) „kam das Ende na- türlich ganz schnell: Schlägerei, Grossalarm, verletzte Wächter...“ Aber einer sei entflohn und konnte bis zur Stunde nicht eingefangen werden.


gefunden. Die beiden Nachbarinnen rechts und links

sind ihr nicht Unbekannte, und zwar von niederrhei- nischen und berliner Behausungen her: Zenta Maurina (ein Foto der Dreissijärigen aus Lettlands Zeit) zur Lin- ken, Eleonora Duse (als Die Frau vom Meer in Ibsens Drama am Vorabend des Ersten Weltkriegs) zur Rech- ten... Ikonen in Dreisamkeit!

Hier, im alten Grenzland Römischer Herrschaft, gab es den Kult der Drei Göttinnen an Quellen und Flüssen. Auch unterm Bonner Münster wurden zahlreiche Wei- hesteine der Aufanischen Matronen geborgen. Wie viele tauchten erst aus den Trümmern zerbombter Städte auf! Schützende, nährende Göttinnen der Erde, in der Mitte stets die Jüngste, das Mädchen mit einem Korb voll Früchten auf seinen Knien.


over Beethoven“ röhren die nicht schlechter als Chuck

Berry oder die Rolling Stones. Als Samuel durch meine Mutter von meiner Geige hörte, die ich kaum noch aus ihrem schwarzen Kasten hervorholte, zeigte er lachend seinen später so berühmten Goldzahn und schlug mir auf die Schulter:

„Lass die Geige in ihrem Sarg, Holger, besorg dir eine Gitarre, sobald du vernünftig Akkorde schlagen kannst, machst du mit.“

Elsa schien der Vorschlag ihres Neffen garnicht so

übel, sie meinte sogar: „Wenn deine Begeisterung ihn ansteckt, Samuel, geht ihm auch seine Geige nicht ver- loren.“

Die Gitarre habe ich mir gekauft. Noch im selben Jahr lernte ich bei ihrem zweiten wellmahrer Konzert, in der Turnhalle meines alten Gymnasiums, Soledad Salinas kennen. Sie war Schülerin in der Musikschule in Neuss, der Leiter ein alter Studienfreund Isgards. Soledad war weder mit Samuel noch Ronald verbunden, aber da war ein Adam im Hintergrund, von dem ich lange Zeit nur durch Samuel gerüchtweise hörte, nachdem Soledad zu diesem boyfriend, einem Reederssohn, gezogen war.

Obwohl es zu einer „Elektrischen“ schon gelangt hätte, bin ich stattdessen mit dem Fahrrad und meiner Gitarre einen Herbst lang durch die Grenzländer von Maas und Mosel gestromert. Ich übernachtete in Ju- gendherbergen oder schlief in Wäldern in einem winzi- gen Zelt. Das gefiel mir so gut, dass ich auch im folgenden Jahr zu Samuel keinen Kontakt suchte. So blieben Samuel, Ronald und Manni (mir ein fast Unbe- kannter, der noch im selben Jahr mit Suicid abging) al-


lein. Meistens spielten sie in den Niederlanden, seltener

in Belgien, in Wellmahr meines Wissens nicht mehr. Adam muss damals, nach Mannis Tod, hinzugestossen sein, das war im Sommer der ersten Mondlandung, als Adam seine spanische Geliebte schoss auf die Rückseite desselben Mondes, wo auch ich einmal gelandet war: im Mare Crisium wie Soledad, nur zu einer anderen Zeit.

Hin und wieder hörte ich später durch Soledad von Ronnie und Sam, als sie einige Jahre, fast am Ende, in Kanada lebten, aber wiederkehrten zu ihrem grossen kurzen Comeback. Und plötzlich waren sie verschwun- den, verschwunden wie Höhlenmenschen, deren Höhle durch ein mittelschweres Erdbeben versiegelt wurde.

Eine Single, Dolphin Song, Soledad gewidmet, be- gleitete von nun an unseren gemeinsamen Weg.


verlor ihre Fackel nicht: über Nacht konnten Hundert-

tausend Händepaare sich zusammenschliessen. Jeder- zeit, aus der Tiefe der Zeit, „konnten Kräfte in Erscheinung treten, die alle Ordnung umgestalten, um uns von den knechtenden Mächten zu befreien.“

Aber die von Studentenschaften vieler Hochschulen ausgehende Provokation, ihr doktrinäres Gehabe, zog am Ende nur Gräben verschiedener Breite und Unver- söhnlichkeit durch ein ganzes Volk. Man wollte eine

„fleischfressende Pflanze“ in eine honigspendende Blume verwandeln? Stattdessen machte Protest aus Faule-Eier-Werfern Bombenbastler oder versandete in Resignation. Die Droge nahm ihren Siegeslauf.

Underground-Blätter gaben zuweilen die Parolen aus für sich fanatisierende Gruppen und verschwanden mit diesen. Was zunächst noch so frenetisch tönte: „Der Or- gasmus der Revolution ist antizipierbar!“, das lautete wenig später bei demselben Revoluzzer – klammheim- lich natürlich: „Füttere deinen Affen, aber lass mich in Ruh.“


zeugs mit Hilfe arabischer Freunde, in Mogadischu ge-

stellt.

Das ganze Land war über viele Monate in eine At- mosphäre getaucht, schneidender als Novembernebel. Aufgestanden war das Gespenst eines Volkes, dessen Geschichte wie kein anderes von Verrat und Selbstverrat gezeichnet ist. Und so wie Friedrich Hebbel 1848

„bis in den von Bären bevölkerten deutschen Urwald blickte (und ihn zu seinem Nibelungen-Drama inspirie- ren sollte), so blickte man in ein „Deutschland im Herbst“.-

Nach diesem Herbst, und nach einem Heimataufent- halt Soledads am Guadalquivir, machten wir uns auf die Suche nach den so rätselhaft im Vorjahr Verschollenen. Ich hatte ein Motorrad geleast, ein etwas geräumigeres Zelt mit Schlafsäcken auf einem Düsseldorfer Floh- markt erstanden. Unbehelmt (Helme waren damals noch nicht pflichtig) klapperten wir nun dasselbe Land zwischen Maas und Erft, wie zuvor ich allein, ab. Wir wechselten die Campingplätze wie später die unmöbi- lierten Zimmer. In keiner Amtsstube und in keiner Dorf- schenke erfuhren wir irgendetwas das Sinn machte über ihr Verschwinden. Ein pensionierter Postbeamter an einer Theke Kalterherbergs schüttelte nicht als letzter den Kopf:

„Wenn die nu mal keine Sympathisanten gewesen sind, wen kümmern die noch! Zwei Musiker aus Ka- nada, du lieber Gott.“-

Nebel und Graupelschauer tagegelang. An unserm letzten Zeltabend sagte Soledad – und bei ihrem vor- letzten Joint:


„Basta! Die zwei sind längst über den grossen Teich.“

„Meinst du? Wenn deine Delphine bloss keine Lem- minge gewesen sind! Lass doch den Joint, Soli, Liebes, pennen wir.“

„Bitte, erst noch mein kleiner Joint. Dann amor...“- Soledad verliess endgültig Deutschland, als ich, in

ihre Heimat ihr zu folgen, mich nicht entschliessen konnte. Stand aber wenig später im Hegau, im tiefsten Nebelland, vor einem Bildstock und las dem halb ver- witterten Stein einen uralten Wallfahrerspruch ab. Und kam mir endlich selber als so ein Pilger auf dem langen Weg nach Santiago de Compostela vor und zum Meer von Cabo de Finisterre.


Ich war etwas hinter den beiden zurückgeblieben,

hatte mich zum Pinkeln ans Gebüsch gestellt. Eine ei- gentümlich gespannte Ruhe herrschte – wie vor Gewit- tern, anstatt danach wie jetzt. Kein Vogellaut liess sich vernehmen, kein Windhauch regte einen Wipfel. Und da, wieder auf dem Pfad, aber noch einmal innehaltend, um einen Schuhriemen fester zu binden, sah ich aufbli- ckend ihn.

Er stand zwischen zwei Weissdornbüschen, ein deut- lich unter mittelgrosser, doch ausserordentlich kräftiger Mann, gekleidet in etwas wie Bärenfell. Das breite Ge- sicht schuppig ziegelrot, die Stirn mächtig mit selt- samen Höckern. Tieffschwarzes dichtes Haar sträubte sich nach allen Seiten wie dunkle Flammenzungen, seine Augen, klein und tiefliegend, rollten wild in einem tragischen Antlitz. Der Mann schien mit verzweifelten Blicken den Himmel über uns abzusuchen, nahm nur ganz flüchtig, wenn auch beharrlich wiederkehrend, Kenntnis von mir, der ich kaum fünf Meter vor ihm stand. Noch halb gebückt, stand ich gebannt – und den- noch furchtlos! Denn ich wusste (und erinnerte): eine solche Trauer, in welcher ich nur einmal, das war in T, einen Menschen angetroffen, lässt einen nicht um sich selber fürchten.

Plötzlich war er weggetaucht. Man rief mich, Bernd Kuzevow, unser Führer zum Kessler Loch, winkte: „Wir sind gleich da!“

Benommen, stolpernd, müde wie nach kilometerlan- gem Marsch, machte ich mich auf ihre Spur.-


Am Hohentwiel, wieder im Naturfreundehaus, er-

reichte mich die Nachricht von meines Vaters schwerer

Krankheit. Isgard, die mir schrieb:

„Schlafend fanden sie ihn, als Frank mit seiner Toch- ter ihn besuchen wollte. Schlafend brachte man ihn ins Krankenhaus. Ob er noch einmal aufwacht? Die Ärzte halten es für möglich...“

III Das Erbe

brote… Später Hubert und Karl, Isgard, deine Muhme

war auch dabei, weisst du…“

Die Dame tritt jetzt mit einem Kopfnicken näher, um auf dem Rundtisch vor Jacques unter allerlei Fläschchen und ärztlichem Besteck etwas Ordnung zu schaffen. Der junge Mann stellt nach einem ähnlichen Kopfnicken, das wie abgeschaut wirkt, ein Buch in den Schrank zu- rück und schiebt die Glastüre vor. Ich nicke wortlos ebenfalls, ein gewissermaßen von beiden übernomme- nes Kopfnicken.

 

Jacques in unsrer Mitte – er scheint halb erblindet, zu- mindest bleibt sein rechtes Auge wie von einer Läh- mung geschlossen. Wie peinvoll der heillose Zustand meines Vaters mich auch trifft, ich versuche es mir nicht anmerken zu lassen. An die Dame gewandt, die ich als

Ärztin ansehe, lege ich Lässigkeit in meine Frage:

„Ja was hat er denn, Frau Doktor?“

Frau Dokter schaut mich an, als hätte sie von mir eine so törichte Frage nicht erwartet. Ein dunkles Augenpaar, prüfend ein ernster Blick… Dann, nach einer wohl- dosierten Weile, die es erst auszukosten gilt, gestattet sie sich ebenfalls eine Frage. Warum, seit jener verbli- chen (sagte sie „verblichen“? Verwirrend ihre französi- sche Aussprache), hier nicht mehr gesäubert worden sei.

„Und fasset beide einmal an, ich möchte ihn doch lieber in der Küche versorgen.“

„Wassenberg... In mare veritas, weisst du... Heiliges

Lourdswasser!“ Der wirft ja alles durcheinander.

Nun aber überrascht, wie kinderleicht der Greis in un- sern Armen liegt – nur so ein Jüngelchen! Die Ärztin, Beruhigendes murmelnd, findet sogar Zeit (dabei fällt


mir Jacques listig zwinkerndes linkes Auge auf), ihm

zärtlich über die Glatze zu streichen.

Da poltert jemand auf eine Weise die Treppe hoch, die mir bekannt vorkommt. Und so ist es: Onkel Karl, Vaters jüngster Bruder, immerhin ein vertrautes Gesicht.

„Ha, ihr Leute – bin ich richtig zum grossen Schmau- sen? Fisch gibt’s, Scholle auf Schorle, was wünscht man mehr.“

Der alte Poltergeist! Sein Frauchen gluckst uns aus der Küche entgegen: Tante Kathrin ist also die Köchin dieses Nachtmahls, meinen Appetit regt das nicht unbe- dingt an. Was haben die beiden wohl ausgeheckt? Pass auf, Holger, die hauen dich in die Pfanne, als wärst du der Fisch.

Kathrin, kinderlos – nicht Karl –, so schmal wie er ge- wichtig, mit einer mädchenhaft hellen Stimme, die erst vom Tag ihrer Silbernen Hochzeit an etwas Krächzen- haftes hinzugewonnen haben muss. Von ihrer völlig un- auffälligen Brust hatte Vater Jacques einmal behauptet, es wäre ein Brett, in das man zwei Dachnägel geschla- gen hat.

„Lecker, lecker…“ Wo Onkel Karl sich niederläßt, da geht es stets zur Sache. Selbst unser Held strahlt und wirkt auf einmal fast seinem Gewicht entsprechend ver- jüngt. Zwischen ihm und seinem dicken Bruder finde ich am grossen Küchentisch eben noch ein Plätzchen. Die giftgrüne Kapsel nimmt Jacques mit Lust von Da- menhand zwischen seine dünnen Lippen, schluckt sie mit Schorle, die ich ihm reichen darf. Der Südfranzose entwickelt einen ähnlich bemerkenswerten Appetit wie


Karl, indes seine Cheffin nur leicht an ihrem Glase

nippt, ein Stückchen Fisch probiert.

Es wird lebhaft, da Onkel Karl Gelegenheit findet, sich über die gesammelten Vorzüge des Hauses und der Praxis parterre auszulassen. Und scheint es zunächst nur die Komödie zur Täuschung eines sogenannten Verbli- chenen (oder vielleicht noch mehr seines Sohnes?), so nimmt doch gutes Einvernehmen über einen notwendi- gen Wandel mit jedem Schluck und Bissen zu. Dass aber Jacques noch zum Spielverderber werden könnte

– aber nein: schon wie er ohne meine Hilfe seinen Be- cher in die Hände nimmt! Zwar verschüttet er die Hälfte

über das Wachstuch des halbenTisches, doch lächelt er dabei so nett entschuldigend, dass jeder es sofort ver- standen hat: er wollte uns doch nur zeigen, wie gut er sich schon allein zu helfen weiss.


Die fremde Dame (würde doch ihr Name endlich fal-

len!) schlägt ihr Notizbuch auf, murmelt ein paar Zah- len, darauf einen Namen, der allen vertraut ist:

„Johannes Hinrich“. Ihr goldener Federhalter verzeich- net ihn erkennbar. Für den Franzosen ein Signal:

„Isch war doort. Abber, noch nicht im Haus. ÜÜrlaub

– sagte die Tochter. A la côte Dalmatie, ils partent mer- credi.“

Man weiß, der Architekt und Klubfreund meines Va- ters. Verdanke ich ihm nicht meine Notgeburt, die hoch- schwangre Elsa aus einem brennenden Auto rettend auf dem Weg zum Hospital? Johannes Hinrich schien immer genau dann zur Stelle, wenn es bei uns brannte oder gebrannt hatte. Und es brannte hin und wieder. Auch das seltsame Zwischengeschoss war sein Werk – nach einer Brandbombe, die das Haus im Weltkrieg traf. Hinrich würde auch jetzt Rat wissen und dieses ruinöse Anwesen für den Richtigen in eine schmucke Villa zu- rückverwandeln. Was jedoch meine Anwesenheit so notwendig erscheinen liess, während Bruder Frank keine Probleme hatte fernzubleiben – eine Antwort auf diese nur gedachte Frage kommt postwendend von der Spüle, von Onkel Karls besserer Rippe. Als könnte sie Gedanken lesen!

„Die Schlüsselchen, Holger.“ Und schon gluckst sie wieder. „Was hat sich dein Väterchen bloss dabei ge- dacht! Frank war doch auch noch da.“

Ja, Frank, naturalisierter Amerikaner, hatte Lohnens- werteres im Fadenkreuz als diese Bruchbude. Dass aus- gerechnet dem unmöglichen Neffen hier die Schlüssel anvertraut waren, das bekümmert Tante Kathrin wie


eine Todsünde – so deute ich wenigstens die Querfalte

ihrer Stirn. Und ergreife das Wort, spreche möglichst langsam, gebe gewissermassen zu Protokoll, aus- schliesslich der Fremden zugewandt.


Der Gaskogner schräg vor mir blickt jetzt etwas feu-

rig. Doch davon unberührt bleibt meine Rede, Momente des Stockens überbrücke ich mit sparsamen Schlucken.

„Ich kann Ihnen daher, verehrte Dame, nicht viel mehr als gewisse Folgen benennen, dieses Haus betreffend, sowie, nach dem Urteil meiner Mutter, das auffällig ver-

änderte Wesen meines Vaters.

Sie entdeckte eine niemals vermutete Frömmigkeit an ihrem Gatten. Der inzwischen nicht mehr notwendige Luftschutzkeller erlaubte etwas wie ein Zwischen- geschoss einzuziehen. Johannes Hinrich, der Architekt, er ist der Bruder des Notars und Testamentsvollstrecker, hat dieses knappe, nur ein Kind aufrecht stehen lassende Gewölbe allerdings mit einer Panzertür versehen.“

Ohne meinen Blick schweifen zu lassen, spüre ich die Erregung meines Onkels. Tante Kathrin, am Gasherd gelehnt, entfährt ein Seufzer, der beinah ein Schluchzer ist.

„Die – Schlüsselchen hat er mir zubestimmt. Ob auch den Inhalt der hauseigenen Höhle, das wird uns der Notar verraten. Oft und oft habe ich mit dem Alten die- sen später sichten und ordnen dürfen – nun ja, und na- türlich auf seine Funktionstüchtigkeit prüfen. Für einen Dreikäsehoch war’s jedes Mal eine Erleuchtung.“

Der Franzose schaut plötzlich finster drein, der Patriot wittert alte deutsche Schandtat.

„Mein ÄÄrr! Ca suffit. Weshalb Sie meinen, wir sind iiier? Eh bien: Sie haben Schlüssel, und diese Dame hat

– wenig Zeit, n’est-ce-pas, Madame?“ Das letzte bringt er recht unsicher, fast bittend hervor. Und die Dame auf- blickend, lächelt in die Runde und sagt so ruhig als hätte


sie sehr viel Zeit, wobei sie ihre Augen zuletzt auf mir

ruhen lässt:

„Lachen Sie bitte nicht, lieber Holguèr, oder – weinen Sie nicht (charmanter kann man nicht erschossen wer- den!), aber die Alleinerbin von jenem dort (und nach einem seltsam ernsten Blick, coup d’oeil auf Jacques), das bin ich.“

Onkel Karl stöhnt auf, Tante Kathrin wird unruhig wie eine Junghenne vor ihrem ersten Ei, und der Gaskogner ergreift seinen Pokal, glitzernd von Rotspon. Doch der Blick seiner Herrin lässt ihn den Pokal sogleich wieder absetzen.

„Eine solche Ruine, mon cher Claude, wie aus einem chinesischen Film – glauben Sie, das wäre etwas zum Anstossen?“

„Pardonnez-moi, mais seulement… Vous entendez… “

„Hélas! Es wird wahrhaftig Zeit. Es wandelt bereits auf Mitternacht zu, und der morgige Tag – man erwartet erneut Orkane von Frankreich.“ Nun wieder an mich gewandt, sehr heiter, indes sie ihr Notizbuch zuklappt:

„Den ersten Termin hat Holguèr versäumt, wird er dies- mal erscheinen?“

„Aber ja,“ rufe ich erschrocken, „morgen früh, halber

Neun… Werd's nicht verschwitzen!“

Jetzt aber bäumt sich Onkel Karl auf. „Also, Bur- sche!“ Seine Pranke landet auf meiner Linken so kraft- voll, dass ich ein „Aua!“ nicht unterdrücken kann. Er hält sie fest, sein Speichel sprüht Kaskaden über das Wachstuch und erreicht sogar das Notizbuch der Erbin, das zum Glück geschlossen liegt.


„Was – is – drin!“

Über seinen feuchten Ausfall selber erschrocken, fügt er mit einem komischen Schwanken in der Stimme auf Altfränkisch hinzu:

„Grannt Exüsses, Madame Labalöh! Mäh – sett ga- menn là…”

Da aber kommt – kaum vernehmbar, nur zu hören wegen der plötzlichen Stille, und weil er es noch zwei- mal wiederholt, kommt von Jacques:

„Alle geweiht…“

Und Onkel Karl explodiert:

„Was? Was quatscht der da? Doch nicht Kerzen – ein- fach Kerzen?!... Himmelkreuzdonnerwetter! Kerzen!... Dieser Idiot.“

Und Jacques noch einmal – leiser noch, sich von uns immer weiter entfernend, schon jenseits schier:

„Alle geweiht.“


Der Morgen danach (oder war es der nächste? Gar der

übernächste?) so ruhig, wie von einem Frieden, den

„himmlisch“ zu nennen das äussere Chaos allerdings verbot. Nun lockte es die Menschen, sofern sie nicht Or- kangeschädigte waren, in Scharen auf die Strasse. Die Schwalmener Allee war zum Flussbett verwandelt. Füh- rerlos treibende Autos, schwimmende Koffer und Kis- ten, sowie Plastik in jeder Form und Farbe sah man treiben in brauner Flut. Die hangwärts erhöhten Fuss- wege waren aber frei und von Spaziergängern und Rad- fahrern belebt. Eine Neugier, die kaum noch von einer viele Stunden durchlebten Panik zu wissen schien, fast eine Feiertagsstimmung hatte sich verbreitet. Ich selbst stand ja auch hier, fasziniert von dem über Nacht ent- standenen Strom durch die Stadt. Meinen Termin bei Notar Hinrich habe ich natürlich nicht einhalten können. Die beiden Schlüssel werde ich seinem Bruder überge- ben, den zu besuchen mir jetzt um so notwendiger scheint. Autos blieben bereits liegen, sperrige Teile wur- den immer seltener, nur Zeitungspacken nahmen aus unerklärbaren Gründen zu. Und immer ausgelassener das Geklingel der Radfahrer – schulfrei fröhliches Ge- klingel!... Nur dieses kleine Mädchen dort an der Hand seiner Grossmutter, was macht es für ein bekümmertes Gesicht! An einen Alleebaum gelehnt, höre ich die Kleine, mit furchtsamem Blick auf den strudelnden Strom, wieder und wieder die Frage stellen: „Nicht wahr, Omi, nur alte Leute sterben.“