Fremde Horizonte

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Henny Bode

Fremde Horizonte

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Alpha

Beta

Gamma

Delta

Epsilon

Eta

Theta

Kappa

Lambda

Ny

Pi

Rho

Sigma

Phi

Psi

Omega

Impressum neobooks

Alpha

»Herrgottnocheins, können Sie nicht anklopfen?!«

Horatio Ferroulo wischte sich mit der linken Hand den Cognac von seinem Gehrock und blickte grimmig auf die Scherben zu seinen Füßen, die noch kurz zuvor ein edles und vor allem teures Kristallglas gewesen waren.

»Verzeihung...«, murmelte die Besucherin, »ich habe vergessen, dass...«

»Ja, dass ich ein Lebender bin, der so etwas wie Privatsphäre benötigt und der unangemeldete Besucher, die nicht mal die Tür benutzen können, nicht mag!«, schimpfte der Mann mit hochrotem Kopf.

Mit seiner sauberen Hand richtete er Schnauzbart und Koteletten und stellte sich unwillkürlich auf die Zehenspitzen. Da er von eher gedrungener Statur war, hatte er es sich vor langer Zeit schon angewöhnt, nicht nur Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, sondern sich auch in die Höhe zu recken, wenn er sich Respekt verschaffen wollte.

»Soll ich noch mal reinkommen?«, fragte der Geist und schwebte rückwärts Richtung Bürotür.

Horatio räusperte sich und schob die Glasscherben mit einem Fuß lässig zur Seite. »Nein, nicht nötig, nun sind Sie schon mal hier.«

»Es tut mir sehr leid.« Der Geist blickte betreten auf die Bodendielen. »Ich bin ein wenig nervös... Sonst wäre ich ja nicht hier.«

Horatio musterte seine potentielle Klientin von oben bis unten. Es war ein weiblicher Geist, ihre gräulich wabernde Figur offenbarte eine recht hübsche Frau im reifen Alter — zumindest war sie im reifen Alter gestorben. Ihr enganliegendes Kleid, dessen einstige Farbe man nicht mal mehr erahnen konnte, offenbarte trotz all der Rüschen und Schößchen ihren schlanken Körper. Auf dem Kopf trug sie ein Hütchen, das mit Federn und Blumen verziert war, und ihre Hände in den eleganten Spitzenhandschuhen hielten ein geisterhaftes Sonnenschirmchen fest.

Horatio nickte und entschied für sich, dass die Dame anständig genug aussah, um irgendjemandem ein gutes Erbe hinterlassen zu haben. Daher würde sie ihn wohl auch angemessen entlohnen können. Er ließ sich so würdevoll wie möglich auf dem gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder und machte eine einladende Handbewegung.

»Setzen Sie sich bitte. A-a-aber nicht dort...!«, rief er aus, als die Geisterfrau sich gerade auf einen Holzstuhl zu ihrer Linken setzen wollte. »Der ist nur für Lebende geeignet.«

»Huch!«, rief die tote Frau und schnellte sofort wieder in die Höhe. Hätte sie versucht, auf diesem Stuhl zu sitzen, so wäre sie einfach durch ihn hindurch gesunken und wohl auf dem Boden gelandet.

»Keine Aufregung, ich habe natürlich auch Stühle für die verblichene Kundschaft.«

Horatio sprang beflissen auf und zog ihr einen leicht verstaubten Stuhl heran, dessen Oberfläche, ebenso wie der Fußboden und die Tür, mit einem Lack aus sogenanntem Geisterlicht behandelt worden war. Diese schwach leuchtende, goldfarbene Substanz verhinderte, dass Geister diese Barriere durchbrechen konnten, und so waren sie in der Lage, Fußböden oder Gegenstände ganz selbstverständlich zu benutzen. Geister sahen diese Innovation als Segen an. In Wahrheit war das Material jedoch einst erfunden worden, um sie auszugrenzen und um sicherzugehen, dass nicht ein vorwitziger oder gemeingefährlicher Geist einfach ins heimische Bad oder Schlafgemach eindringen konnte.

»Danke«, sagte die Frau höflich und setzte sich.

»Ich würde Ihnen ja gerne etwas anbieten, aber ich habe selten Umgang mit verblichenen Klienten und weiß nicht so recht, was ich Ihnen offerieren kann.«

Horatio nahm sich eine Zigarre aus seinem Intarsien-Kästchen auf dem Schreibtisch und köpfte sie in einer Mini-Guillotine.

»Nein, danke, ich brauche nichts«, erwiderte der Geist und zog ein Taschentuch aus seinem Handtäschchen.

Horatio entzündete seine Zigarre, nahm einen genüsslichen Zug und pustete ein Wölkchen in die Richtung der Frau. Der weißliche Rauchschleier vermischte sich mit dem gräulichen Nebel des Geistes und schwebte weiter, direkt durch sie hindurch.

»Warum finden Sie ausgerechnet zu mir?«

»Oh, das war eine Empfehlung. Mir wurde gesagt, dass Sie ein hervorragender Privat-Ermittler sind und auch einer der wenigen, die Verblichene als Klienten annehmen.«

»Soso, eine Empfehlung...«

Der Ermittler fühlte sich geschmeichelt, auch wenn Empfehlungen an sein Büro keine Seltenheit waren. Horatio Ferroulo hatte schließlich einen guten Namen in Detektiv-Kreisen. Einem Geist war er allerdings noch nie weiterempfohlen worden.

»Und wie kann ich Ihnen helfen?«

»Naja,... zuerst einmal möchte ich mich bedanken, dass Sie mich anhören wollen. Die Polizei hatte meinen Fall nämlich zurückgewiesen und mich ausgelacht.«

»M-hmm...«

Der Ermittler zwirbelte mit seinen Fingern an einem abstehenden Tabakblatt der Zigarre und betrachtete hochkonzentriert seine Arbeit.

»Ich brauche Hilfe in einem Mordfall. Wissen Sie, meine Tochter ist umgebracht worden.«

»Ich weiß nicht, was Sie wollen, für so etwas ist immer noch die Polizei zuständig. Gehen Sie wieder ins Präsidium, um Mord müssen die sich kümmern. Vielleicht haben Sie es ihnen nicht richtig verständlich gemacht.«

»Meine Tochter war auch eine Verblichene.«

Horatio hielt in der Bewegung inne und blickte auf. Er stierte in die weite Ferne des Raumes und gab schmatzende Geräusche von sich, als sein kluges Gehirn dieses simple, aber doch unmögliche Fakt erst einmal begreifen musste.

»Wie war das gerade?«

Der Geist schluchzte. »Meine Tochter war bereits verblichen...«

»Hören Sie, wenn Sie mich zum Narren halten wollen, dann kann ich Ihnen gerne die Tür zeigen, damit Sie genauso heimlich und leise wieder verschwinden können, wie sie vorhin durch sie hindurchgegeistert sind!« Seine Stimme war zur vollen Lautstärke angeschwollen, sein Kopf wieder hochrot vor Zorn. »Und dafür habe ich mir einen teuren Cognac-Schwenker ruiniert!?!«

»Aber es ist wahr!«, verteidigte sich die Frau und fasste bei dem Versuch, nach der Tischplatte zu greifen, mit der Hand einfach hindurch.

»Tote können nicht sterben! Sie sind ja bereits tot. Darum nennt man sie ja auch Tote. Folglich können Tote auch nicht ermordet werden! Lebende können ermordet werden, dann werden sie zu Toten. Aber Tote nicht! Und jetzt verschwenden Sie nicht länger meine Zeit!«

Mit einer wegwischenden Handbewegung in ihre Richtung ließ er sich in den Polstersessel zurückfallen und nahm zur Beruhigung einen tiefen Zug aus seiner Zigarre.

»Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie es ist, sein eigenes Kind zweimal zu verlieren?« Das Jammern und Schluchzen des Geistes hallte durch das kleine, sonst so gemütliche Büro und verlieh ihm eine schaurige Atmosphäre. »Das erste Mal war ja schon schlimm genug, aber… aber das…! Damals wusste ich wenigstens, was mit ihr passiert. Nur jetzt weiß ich nicht, wohin sie entschwunden ist, und ob ihre Seele überhaupt noch existiert. Ich brauche Sie!«

Flehend ging die Frau vor dem Ermittler auf die Knie. Die Tatsache, dass sie dabei mitten im Schreibtisch kniete, störte sie wenig. Geister nahmen tote Materie schließlich kaum, allenfalls nebelhaft verschwommen wahr.

Geringschätzig blickte der Ermittler auf den Geist herab. »Wie anbiedernd, das ist ja furchtbar. Stehen Sie schon endlich auf!« Er konnte es nicht ertragen, wenn Frauen — lebend oder tot — sich derart erniedrigten. »Ich höre mir Ihre Probleme ja schon an.«

Mit feuchten Augen erhob sich der Geist wieder. Trotz des hinderlichen Rockes gelang ihr das mühelos, denn Geister benötigten keine Muskeln und kannten keine Schwerkraft. »Danke, vielen Dank!« schluchzte sie.

»Jaja, setzen Sie sich wieder hin.« Horatio beugte sich in seinem Sessel nach vorne und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf sie. »Aber ich warne Sie! Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist mit mir nicht gut Kirschen essen!«

 

Der Geist schüttelte heftig den Kopf, ohne dass auch nur eine Blüte oder Feder an ihrem Hütchen verwehte oder zerzauste. »Nein, ist es nicht. Sie können sie sich ansehen. Sie liegt immer noch dort, wo ich sie gefunden habe... hoffe ich. Nur wollte mir bisher niemand dorthin folgen.«

Horatio zog beide Augenbrauen hoch. »Ach, tatsächlich?« Er wusste nicht so genau, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Wollte sie ihm eine Falle stellen? Oder war hier tatsächlich etwas Merkwürdiges im Gange? Er glaubte zwar nicht an eine solche unmögliche Märchengeschichte oder überhaupt an jeglichen abergläubischen, übersinnlichen Hokuspokus, doch seine Neugier meldete sich leise zu Wort. Zeit, die Aussage der Verblichenen genauer unter die Lupe zu nehmen und auf den Prüfstand zu stellen.

Entschlossen löschte er das Licht der Petroleumlampe, sodass nur noch das weiche Schimmern des Geistes das Zimmer erhellte. »Gehen wir!« Er nahm seinen Gehstock, setzte seinen Zylinder auf und verließ das Büro. Hinter ihm huschte der Geist durch die Wand neben der Tür und stieß dabei ein Bild vom Nagel, das einen Rahmen mit Geisterlicht-Lackierung besaß.

»Herrgottnocheins! Sie sollen endlich diese vermaledeite Tür benutzen!«, brüllte Horatio so laut, dass man es auch in den Nachbarbüros noch hören konnte.

Beta

»Meine Herren...« Der Große Vorsitzende klemmte sein Monokel umständlich vor sein Auge und zog eine hochmütige Miene. »Ich heiße sie herzlich willkommen zu unserem heutigen Logentreffen.«

Die Propeller des Luftschiffes dröhnten laut, und der Lärm drang durch ein offenes Fenster. Mit einem Wink bedeutete der Vorsitzende dem Stewart, das kleine Fensterchen zu schließen. Augenblicklich trat Stille ein und der Mann mit dem aristokratischen Gesichtsausdruck nickte zufrieden. Alle Augen der 20 versammelten Herren waren auf ihn gerichtet, als er eine kunstvoll verzierte Holzkugel griff und mit dem abgeflachten Boden fünfmal in einem bestimmten Rhythmus auf den Tisch klopfte — das Geheimzeichen der Loge, das jede Sitzung einleitete. Einige der Anwesenden rückten noch einmal ihre Schärpen zurecht, die über ihren vornehmen Fräcken lagen und die ihre unterschiedlichen Ränge aufzeigten. Gespannte Stille herrschte, als der Vorsitzende würdevoll die Hand zum Logengruß hob.

»Nun dann... die Zeugen mögen vortreten.«

Die messingbeschlagenen Flügeltüren direkt gegenüber dem Vorsitzenden wurden geöffnet und drei Personen traten ein. Ihre Bewegung in der länglichen Kabine war genau vorgeschrieben: Ein verschnörkeltes Oval als Muster auf dem Teppichboden wies den Bereich zu, in dem die vorsprechenden Personen zu stehen hatten. Flankiert wurde die markierte Fläche von zwei langen Tischreihen, zu jeder Seite eine, an denen je zehn der Mitglieder saßen und die Befragten neugierig und aufmerksam beäugen konnten. Kein Zucken der Personen im Zeugenstand, keine Bewegung, kein noch so kleines Detail konnte ihnen so entgehen. Doch trotz der strengen Beobachtung fühlte man sich nicht unbehaglich. Alles wirkte ordentlich, die Einrichtung war gediegen und strahlte eine gemütliche Atmosphäre aus. Exakt einhundertfünfundzwanzig Lämpchen standen über die Tischchen und Fensterbänke verteilt, und ihr heller Schein drang durch die Fenster, die rund um die Gondel angeordnet waren, weit in die beginnende Nacht.

Einige der Mitglieder klemmten ihre Monokel unter die Augenbrauen, als sich die beiden Männer und eine Frau auf das gekennzeichnete Areal in der Kabinenmitte stellten. Es waren einfache Leute, in Hemden mit hochgekrempelten Ärmeln und schlichter Weste. Die Frau trug ein schmuckloses Kleid aus Bluse und Rock mit einer Schürze und einem Tuch um die Schultern, ihre Haare waren in Flechtzöpfen hochgesteckt. Fast synchron begrüßten sie den Vorsitzenden mit der vorgegebenen Handgeste.

»Nun, was ergaben Ihre Beobachtungen?«

Einer der Männer trat vor und händigte dem Vorsitzenden eine Mappe aus, in der sich ein Stapel Papiere und zuoberst ein Porträt befanden. »Wir haben diesen Mann hier im Auge. Er experimentiert bereits seit einer Weile an einer neuen Erfindung mit dem Ziel, sie patentieren zu lassen.«

Der Adjutant, der direkt hinter dem Logenführer stand und ihm die meiste Zeit nicht von der Seite wich, reckte seinen Kopf und trat neben den thronartigen Stuhl. Er beugte sich so nah zum Vorsitzenden hinab, dass er schon fast in dessen Pomade klebte, mit der das dunkle Haar sorgfältig zurückgegelt war. So leise, dass nur der Logenführer es hören konnte, flüsterte er: »Dieser Mann ist uns durchaus bekannt. Er hatte schon öfters an neuen Apparaturen gearbeitet und wird nicht müde, es erneut zu probieren. Versuche, ihn schonend in die Loge einzuführen, scheiterten.«

Der Vorsitzende nickte und gab mit einem Handwink zu erkennen, dass sich der Adjutant nun wieder aus seiner Frisur entfernen dürfe.

»Irgendwelche Ergebnisse? Handfestes?«

Behutsam folgte der zweite Mann der durch ein Rankenmuster vorgegebenen Linie auf dem Teppich zum Tisch des Großen Vorsitzenden. Ohne Worte stellte er einen Glaskolben mit einer stark riechenden, gelblichen Flüssigkeit neben die Dokumentenmappe. Der Vorsitzende fächelte mit einer Hand den Geruch zu seiner Nase und nickte bestätigend.

»Ja, kennen wir. Das ist ein Kerosin-Gasöl-Gemisch. Wurde bereits öfters erfunden und von mehreren Personen unabhängig voneinander hergestellt.«

Er schob den Glaskolben zur Seite, wo ein Bediensteter ihn an sich nahm und aus dem Raum trug.

Die Frau räusperte sich und zog augenblicklich die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich. In ihren Händen hielt sie ein großes zusammengerolltes Blatt, das sie sofort zu öffnen begann. »Wir haben sogar genaue Zeichnungen seiner Prototypen für die Maschine, die mit diesem Gemisch zum Laufen gebracht werden soll, auftreiben können. Hier...« Mit einer schwungvollen Bewegung landete das Poster auf dem Tisch, die aufgerollten Enden wurden rasch zu den Seiten geschoben und mit Logendevotionalien wie dem Ordensbecher und der Holzkugel beschwert.

Ihre Stimme zitterte leicht vor unterdrückter Aufregung, als sie beflissen ihre Darstellung beschrieb und ihre Finger zur Unterstützung der Ausführungen über das Papier huschten. »Hier können Sie sehr genau die Details im Aufbau der Kolben sehen. Dies hier sind die Pumpen, die Pfeile markieren die Bewegungen. Die exakte Beschreibung zur Funktionsweise der so benannten Wärmekraftmaschine liegt in den mitgeführten Dokumenten vor.«

Das Monokel fest in die Augenhöhle geklemmt, studierte der Vorsitzende die Zeichnung und die nebenstehenden Beschreibungen gründlich. Minuten vergingen, ohne dass einer der Anwesenden sich rührte oder etwas zu sagen wagte.

»Hm...«, murmelte er schließlich und blickte von dem Poster auf. »Sieht aus, als könnte dies ein erfolgreicher Versuch sein.«

Die Mitglieder nickten einander zu, und einige begannen leise raunend eine Diskussion.

»Wie nimmt sein Umfeld diese Idee auf?«, unterbrach der Vorsitzende das Gemurmel mit lauter Stimme.

Der Mann, der den Glaskolben mitgebracht hatte, meldete sich zu Wort: »Gemischt bis skeptisch. Einige blicken in gespannter Erwartung auf seine Arbeit. Manche bezweifeln die praktische Machbarkeit. Die Lobby der Dampfmaschinenfabriken, bei der es sich bereits herumgesprochen hat, verspottet ihn.«

»Aha. Dann sind sie wohl noch nicht soweit.« Höflich wandte er sich an die drei Vorsprechenden. »Werte Dame, meine Herren... Die Loge dankt ihren Zeugen vielmals. Sie haben der Menschheit einen großen Dienst erwiesen und werden für die zufriedenstellende Ausführung ihrer Arbeit würdig entlohnt werden.«

Die Befragten verbeugten sich, nur die Frau zögerte kurz und räusperte sich erneut, um etwas zu sagen.

»Ach, Verzeihung... Gibt es diesmal vielleicht einen bequemeren Weg zurück nach unten? Die Strickleiter ist für mein Kleid und meine Stiefeletten doch recht unkomfortabel.«

»Nein, so leid es mir tut.« Der Vorsitzende schüttelte vehement den Kopf. »Wir landen niemals!«

Die drei Besucher verabschiedeten sich und wurden hinausgeleitet, die Türen geschlossen.

Nun war der innere Zirkel wieder unter sich. Der Rang der sogenannten »Zeugen«, bei dem auch Frauen gestattet und als Beobachter sogar erwünscht waren, wurde zwar respektiert. Doch als inaktive Mitglieder der Loge wurden sie von den höheren Rängen meist nur mit der Bezeichnung »observierendes Fußvolk« von oben herab gewürdigt. Auf keinen Fall dürften sie bei den wichtigen Entscheidungen dabei sein. Ihre Aufgabe war lediglich die Überwachung ihres Umfeldes und die sofortige Meldung von auffälligen Aktivitäten, die in das Interessengebiet der Loge fielen. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Propeller an der Gondel röhrten, als das Gefährt zu einem kurzen Sinkflug ansetzte, um die Zeugen hinabsteigen zu lassen. Die Zeit für einen Beschluss war gekommen.

»Nun, meine Herren — Ihr Urteil?«

Wieder schwoll ein eifriges Gemurmel im Raum an, als die Mitglieder untereinander minutenlang das Für und Wider dieses Falles abwägten. Das laute Klopfen des Vorsitzenden mit der Holzkugel unterbrach schließlich die angeregte Diskussion. Wie auf Kommando war es augenblicklich still, und 18 der Herren hoben ihre Hand. Damit war die Abstimmung auch schon beendet, und nun war es am Großen Vorsitzenden, dieses Ergebnis auszuwerten und die weiteren Schritte zu bestimmen.

Eine Weile herrschte Stille, während der Vorsitzende überlegte. Die Wolken zogen vor den Fenstern vorbei, vom Mond erleuchtet. Die Zeit schien dort, so hoch oben, still zu stehen. Endlich eine Regung, ein Schniefen mit entschlossener Miene. Eine knappe Bewegung mit der Hand bedeutete dem Schriftführer, augenblicklich wichtige Beschlüsse zu protokollieren.

»Fehlschläge generieren. Sämtliche Arbeiten unverzüglich vernichten. Es muss nach einem Unfall aussehen. Diesen Mann weiter im Auge behalten, sein Wirken möglichst verschleiern.«

Alle nickten zufrieden, lehnten sich entspannt in ihren Sitzen zurück oder lächelten sich zu.

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein Logenjünger von den niederen Rängen stolperte in den Sitzungsraum. Er war außer Atem und schien derart aufgewühlt, dass er die Schrittordnung auf dem Teppich ignorierte.

»Ich bitte die Störung zu verzeihen, Oberster Vorsitzender. Aber... das sollten Sie sich unbedingt anhören.«

»Was ist denn?«

»Es ist etwas passiert. Etwas Unerwartetes.«

Gamma

Es war schon dunkel, als der Ermittler mit dem Geist das Bürogebäude verließ. Nur noch wenige Kutschen huschten ratternd über das Kopfsteinpflaster, Nachtwächter zündeten die Gaslaternen an, ein Luftschiff zog leuchtend über den Himmel. Wolken verdunkelten den Mond, und Horatio kam die Finsternis ganz gelegen. Er war ein angesehener Mann, und auch, wenn jeder wusste, dass er bei seiner Arbeit keinen Unterschied zwischen Lebenden und Verblichenen machte, so wollte er nicht unbedingt mit einer Geisterfrau zusammen spazieren gehend gesehen werden. Das hätte Getuschel und Gerede geben können.

Sie liefen hinunter ins Hafenquartier, spazierten durch düstere und schmale Gassen, bis sie auf einem großen Platz angelangten, der direkt mit der Mole verbunden war.

»Wo führen Sie mich eigentlich hin?«

»Dort.« Der Finger der Frau zeigte in die Richtung einer alten, verfallenen Villa. Der Putz bröckelte bereits von den Wänden, die Fensterläden hingen schief und verrotteten, das Dach war eingefallen. Kein Ort für Lebende. Das Haus war schon vor langer Zeit verlassen worden, da es baufällig geworden war. Solche Ruinen wurden bevorzugt von Verblichenen benutzt, da diese keine intakten Wände brauchten und auch keinen Schaden zu befürchten hatten, falls Schindeln durch das marode Dach brachen. Nur wenige teilten sich Häuser mit den Lebenden, die ihnen keinesfalls über den Weg trauten, solange das stille Örtchen nicht mit Wänden aus Geisterlicht umgeben war. Dieser Ort jedoch war anders. Er jagte dem Ermittler einen noch größeren Schauer über den Rücken als der Besuch in der Irrenanstalt, den er für seinen letzten Fall erneut hatte tätigen müssen.

Horatio schluckte, und sein Schnauzbart zitterte, was verriet, dass seine Zähne klappern mussten.

»Das Spukhaus?« fragte er ungläubig.

»Ich sagte doch, dass mir sonst keiner zum Ort des Geschehens folgen wollte.«

»Aber wie kamen Sie ausgerechnet hierher?«

 

»Ich wusste, dass meine Tochter hier war. Sie verabredete sich immer heimlich mit einem mir Unbekannten.«

»Was denn — hier?«

Der Ermittler strich sich durch die Koteletten und schniefte. Er war skeptisch. Das alles roch für ihn nach einer Falle, und er war sich nicht sicher, ob er wirklich herausfinden wollte, was für ein Spiel hier getrieben würde.

»Bitte...«, flüsterte der Geist und seufzte. »Bitte.«

Horatio stieß seinen Gehstock auf das Straßenpflaster und nickte energisch. »Nun gut. Ich seh’ mir das mal an.«

Das sogenannte Spukhaus war in diesem Quartier so etwas wie die letzte Station für verlorene Existenzen, eine Sammelstelle für die alten Geister, die über all die Zeiten hinweg ihren Verstand verloren hatten und dort ihr trauriges Dasein fristeten. Dieser Tummelplatz des Elends war zudem für jüngere Geister genau der richtige Platz, um unerkannt heimliche Treffen zu arrangieren. Hier stellte niemand Fragen.

»Wie heißt Ihre Tochter?« fragte der Ermittler und versuchte, mit dem Smalltalk sein Unbehagen zu überspielen.

»Elsa.«

»Wie heißen Sie eigentlich, wenn ich fragen darf?«

Der Geist drehte sich zu ihm. »Frau Kronberg.«

Horatio nickte und hob zum Gruß seinen Zylinder leicht an.

»...Hannah«, fügte sie unsicher lächelnd hinzu.

»Ein schöner Name. Und Ihr... ähm... Gatte?«

Sie seufzte, und Horatio fiel in diesem Moment zum ersten Mal bewusst auf, dass Geister erstaunlich oft seufzten.

»Ich lebe getrennt. Mein ehemaliger Gatte sitzt noch lebend im Heim des Niedermoorgefängnisses und wird dort wahrscheinlich noch ewig die Wärter und seine Pflegerin quälen und triezen. Wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe kein Interesse daran, auf ihn und seinen Tod zu warten. Unsere Ehe war schon im Leben nicht glücklich. Immerhin war er es, der mir den Strick um den Hals gelegt und zugezogen hat. Und das vor den Augen unserer Tochter.«

Horatio schluckte und griff sich unwillkürlich an den Hals. »Hat er sie auch...?«

»Nein, Elsa starb bei einem Unfall mit einer Kutsche, die Pferde gingen durch.« Mit diesen Worten verschwand Hannah durch das Eingangsportal.

Der Ermittler öffnete die Tür unter lautem Knarren, und ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Wie gut, dass Geister keinen Geruchssinn mehr haben, dachte er und zog ein Tuch aus der Tasche seines noblen weinroten Gehrocks, um es sich vor die Nase zu halten.

Die einst vornehme Villa war leer, die letzten Bewohner hatten ihr ganzes Hab und Gut mitgenommen, als sie das Haus verlassen hatten. Nur die Uhr auf dem Kamin war noch da, eine milde — wenngleich auch zynische — Gabe an die nachfolgenden Geisterbewohner. Das Innere war dunkel und verfallen, sogar die zahlreichen Geister glommen an diesem traurigen Ort nur noch schwach.

All diese verlorenen Seelen, seufzend, heulend. Sie hockten vertrocknet in den Ecken und starrten die Wände an. Einige wippten unaufhörlich vor und zurück, andere hingen einfach in der Luft, wieder andere schwebten hin und her, immer und immer wieder. Einige wenige rasten schreiend durch die Etagen und Wände. Ihr jämmerliches Äußeres glich faulem Dörrobst und verwelktem Kraut. Sie waren überall und saßen übereinander, ineinander verknäuelt, wie aufeinander geschobene Haufen grau-dreckiger Tücher, sodass man die einzelnen Geister kaum erkennen und auseinanderhalten konnte und noch nicht einmal zu schätzen vermochte, wie viele dort zu einer Traube vereint saßen. Der Wahnsinn vieler Jahrhunderte. Niemand kümmerte sich um sie — wer wollte schon mit solchen uralten, gebrochenen Kreaturen zu tun haben, ganz gleich, wie ehrenwert sie auch zu Lebzeiten gewesen sein mochten. Selbst Könige endeten so.

»Kommen Sie«, bat ihn die Frau, als ein alter Geist kreischend an ihm vorbeirauschte.

Horatio griff sich ans Ohr. »Aua, das war laut.«

Hannah schwebte die Treppe hinauf, und Horatio hatte große Mühe, ihr über die morschen Stufen zu folgen. Einige brachen unter seinen Tritten sogar ein, und das Geräusch erschreckte ein Häufchen Geister, die sich über dem Geländer zusammengeballt hatten.

Auf der Empore angekommen, wies Hannah ihm den Weg zu einer Tür. Sie konnte die Türe nicht für ihn öffnen, da nichts in dieser Villa mit Geisterlicht verkleidet oder bestrichen war.

Horatio trat ein und fand einen leeren Raum vor. Wozu er einst benutzt worden war, konnte man nicht mehr erkennen. Nur in einer Ecke stand ein gekachelter Ofen mit hübschen Zierfliesen, und zerschlissene Vorhänge wehten vor dem verfallenen Fenster.

In der Mitte des Zimmers lag auf dem Boden ein Geist. Die gräulichen Schemen waren gefesselt und umschlossen von einem golden schimmernden Seil, das offensichtlich mit Geisterlicht behandelt worden war. Die Fesseln verhinderten, dass der Geist einfach durch den Boden oder die Decke schweben konnte und hielten das nebelige Gebilde in diesem Raum fest.

»Ach herrje...«, entfuhr es Horatio. Vorsichtig trat er an den Geist heran und betrachtete ihn genau.

Es war der Geist eines jungen Mädchens, sie mochte vielleicht im Alter von zarten 18 Jahren zum ersten Mal gestorben sein. Ihr Leuchten war vollkommen erloschen, nur das Seil und das Glimmen der Geisterfrau ließen den Ermittler die bizarre Szenerie erkennen. Elsas Geisterkörper war zu verschwommenen Schemen verwischt. Es wirkte, als begönne sich ihre gesamte Struktur aufzulösen, zu verwesen und zu vergehen. Es gab keinen Zweifel — der Geist war tot. Wirklich tot. Jemand hatte eine bereits Verstorbene endgültig ins Ableben geschickt.

»Wie ist so etwas möglich?« Horatio schüttelte den Kopf. »Wie kann man eine Tote umbringen? Das geht doch gar nicht.«

Hannah fing im Hintergrund wieder leise an zu schluchzen.

Horatio blickte sich um. In diesem Raum war nichts. Nichts außer abgestandener Luft und Kälte.

»Jetzt weiß ich es...«, flüsterte der Ermittler.

»Was denn?«

»Das, was mir hier so merkwürdig vorkam. Was mich die ganze Zeit über schaudern ließ, seit ich den Raum betrat. Ist es Ihnen nicht aufgefallen?«

»Nein, was?«

»Niemand sonst ist hier, hier in diesem Raum. Die Verblichenen sind überall, aber niemand ist hier.«

Er glaubte, Hannah schlucken zu hören. »Was mag das bedeuten?«

Horatio blickte sich um, und ihm wurde noch unbehaglicher als zuvor. »Ich weiß es nicht. Aber hier stimmt etwas nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste und nicht ein sehr rationaler Mensch wäre, würde ich mich dazu hinreißen lassen zu sagen, etwas Übernatürliches geht hier vor. Aber... es wird eine Erklärung für all das geben. Und ich werde sie finden.«

Seine Füße in den vornehmen Lederschuhen strichen über den Dielenboden. Im Staub der vielen Jahre fanden sich Abdrücke. Jemand war hier gewesen, es gab diffuse Spuren von Schuhen, die sich durch den Raum bewegt hatten. Kleine staubfreie Stellen auf dem schmutzigen Boden zeugten von einem oder mehreren schweren Gegenständen, die hier vor Kurzem gestanden haben mussten. Doch nichts von alledem war aussagekräftig genug, um weitere Hinweise zu liefern. Er ging hinüber zum Ofen, öffnete die Tür und blickte hinein.

»Hoppla!«

»Haben Sie etwas gefunden, Herr Ferroulo?«

Mit seinem Tuch griff er in den Ofen und holte vorsichtig etwas Asche heraus.

»Ja, hier. Ich hatte gehofft, eine Waffe oder sonstige Spur zu finden, aber stattdessen fand ich dies: Die Asche ist durchsetzt mit zu Pulver zerstoßenem Geisterlicht. Ich habe weder eine Ahnung noch eine Vermutung, was das zu bedeuten hat, aber ich glaube, das ist wichtig und hängt mit der Lösung irgendwie zusammen.«

Er wickelte die Asche in das Tuch ein und steckte dieses in die Tasche seines Gehrocks.

»Wissen Sie, mit wem sie sich hier treffen wollte und warum?«

Hannah schwebte ein paar Zentimeter über dem Boden und machte einen sehr verlorenen Eindruck. »Nein, ich weiß nicht, mit wem. Aber sie sagte einmal etwas von einem Gleichgesinnten. Und sprach von einer unglaublichen Neuigkeit, die in ihr langweiliges Leben Aufregung und Hoffnung, Veränderung bringen würde.«

»Vielleicht hat dieser sogenannte Gleichgesinnte sie unter dem Vorwand eines Abenteuers hierher gelockt...«, sinnierte Horatio und spielte dabei am Knauf seines Gehstocks. »Ich werde die... ähm... Leiche... also Elsa, die werde ich mitnehmen müssen. Zur genaueren Untersuchung. Das kann ich hier schlecht.«

»Oh, ich kann das nicht mit ansehen...«, jammerte Hannah, drehte sich um und huschte durch den Fußboden davon.