Buch lesen: «Sorrowville»
Impressum
Vorwort
Kapitel 1: Die Heimstatt des Todes
Kapitel 2: Die Residenz des Ermittlers
Kapitel 3: Die Stätte der Gebeine
Kapitel 4: La Casa Familia
Kapitel 5: Stadt der Engel und Teufel
Kapitel 6: Die Nacht des Grauens
Kapitel 7: Knochenarbeit
Kapitel 8: Das Haus des Geldes
Kapitel 9: Der Hort der Wahrheit
Kapitel 10: Nekrotische Romanze
Kapitel 11: Erkenntnisse in Verwesung
Kapitel 12: Der Fürst der Knochen
Kapitel 13: Die Kathedrale des Untods
Über Sorrowville
Sorrowville
Teil 1: Der Knochenfürst
Malcolm Darker
Impressum
Originalausgabe | © 2020
Verlag in Farbe und Bunt
Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf
www.ifub-verlag.de / www.ifubshop.com
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
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Alle Rechte liegen beim Verlag.
Herausgeber: Björn Sülter
Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey
Cover-Illustration: Terese Opitz
Cover-Gestaltung: EM Cedes
Satz & Innenseitengestaltung: EM Cedes
ISBN (Print): 978-3-95936-252-8
ISBN (Ebook): 978-3-95936-253-5
ISBN (Hörbuch): 978-3-95936-254-2
Vorwort
Die Goldenen Zwanziger in Amerika – Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft erblühen. Doch in manchen Städten sind selbst die Fassaden von Schmutz besudelt, und nicht einmal der Schein trügt.
An diesen Orten haben Verbrechen und Korruption die Herrschaft ergriffen. Verborgen in den Ruinen der Rechtschaffenheit lauern überdies unsagbare Schrecken, welche die Vorstellungskraft schwacher Geister und krimineller Gemüter sprengen. Kaskaden des Wahnsinns, geboren aus einem zerstörerischen Willen zu allumfassender Macht, zerren am Verstand einst braver Bürger.
Dagegen stellt sich Zacharias Zorn, Privatermittler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Er ist derjenige, der Licht in die Finsternis zu tragen imstande ist – unter Einsatz seines Lebens und seiner Seele.
Willkommen … in Sorrowville!
Kapitel 1: Die Heimstatt des Todes
Wolken verdeckten den Himmel und erlaubten keinen Blick auf die Sterne. Wo an anderen Orten die Augen in der Unendlichkeit des Kosmos schwelgten, manifestierte sich hier ein graues Wabern, das wie eine Glocke über der Stadt in der Black Hollow Bay hing.
Sorrowville ergab sich der Dunkelheit.
Das Licht des fast vollen Mondes drang nicht bis zum Boden durch, sodass die Schatten in den Parks und Avenues, in den Hinterhöfen der Lagerhäuser und Fabriken rund um den Hafen oder in den Winkeln der Main Street dunkler und bedrohlicher wirkten als gewöhnlich. Doch am finstersten war es auf dem Green Wood Cemetery am Rand von Sorrowville. Die Kleinstadt war weit entfernt, und ein dichter Tannenwald begrenzte das Feld der Toten an drei Seiten wie eine Mauer.
Ein einzelnes Licht durchdrang die Finsternis nahe der Tannen, eine Gaslampe, gehalten vom einzigen Menschen, der in der Nacht hier unterwegs war. Bernhard White, genannt Bernie, war Friedhofswärter auf dem Green Wood Cemetery und sorgte seit dreißig Jahren dafür, dass es niemand wagte, den schmiedeeisernen Zaun zu überklettern, um sich an den letzten Ruhestätten der Bürger von Sorrowville zu schaffen zu machen. Nicht wenige hatten es versucht, kaum einer hatte je Erfolg gehabt.
Bernie absolvierte wie jede Nacht eine seiner Runden entlang des Zauns. Mit routinierten Handgriffen überprüfte er hier und da den Halt der Eisenstreben und die Beschaffenheit des Bodens. Es gab wenige Stellen, die für eine Überkletterung geeignet waren, und Bernie kannte sie alle. An vielen hatte er Fußangeln ausgelegt, doch außer einigen unglücklichen Tieren war seit Jahren kein Grabschänder mehr in seine Fänge geraten. Egal, welch niedere Instinkte man besaß, selbst die vielen Unglücklichen in Sorrowville, die den Verstand an Absinth oder Opiate verloren hatten und dringend Geld benötigten, wagten sich nicht mehr in Bernies Reich.
Bernhard White war der Wächter der Toten, und sein Ruf glich dem Sensenmann selbst. Wer ihm nachts begegnete, sah sich einem jähen Ende gegenüber, und diejenigen, die die Gerüchte über ihn für übertrieben gehalten hatten, lagen nun nahe jenen, deren letzte Ruhe sie hatten stören wollen.
Die Familiengrüfte der Reichen hatten einst ein lohnendes Ziel für den Abschaum der Stadt dargestellt, doch sie waren noch nie so sicher wie in den vergangenen Jahrzehnten gewesen. Die Totenruhe von Eltern und Großeltern, von zu früh verstorbenen Geschwistern oder der in die Heimat überführten Gefallenen des Großen Krieges war niemals so tief gewesen wie unter der nächtlichen Herrschaft des Totenwächters Bernhard White. Vom Bürgermeister über die Industriellen und die Oberhäupter der Familienclans bis hinunter zu den verbliebenen gottesfürchtigen Bürgern und Arbeitern wusste man seine Wacht zu schätzen und vergalt sie dem bald Sechzigjährigen reichlich. Es gab wohl keinen anderen Friedhofswächter in Maine oder Neuengland, der durch ihre Zuwendungen über ein ähnliches Einkommen verfügte wie er.
Bernie war jeden Cent wert, und das wusste er. Trotz der Finsternis entging ihm wenig, denn er verfügte über ein außerordentlich gutes Gehör. Zudem begleitete ihn sein Hund Reiver, eine meist schlecht gelaunte Bulldogge von grotesker Größe. Diejenigen, die den Zaun überwanden, sahen sich mit seinen dolchartigen Reißzähnen konfrontiert, und mehr als ein Halbstarker hatte bei einer nächtlichen Mutprobe den Tod zwischen seinen Kiefern gefunden. Die meisten von ihnen aber hatte Bernie mit der Winchester gerichtet, die er auch jetzt lässig über der Schulter trug, während er die Runde fortsetzte.
Er kehrte auf den zentralen Weg zurück, den so genannten ›Gräberboulevard‹, denn an beiden Seiten befanden sich die Krypten der wichtigsten Familien der Stadt. Dies war der einzige Weg auf dem gesamten Friedhof, der mit weißem Kies bedeckt und durchgehend beleuchtet war. Gaslampen auf kunstvoll gestalteten Ständern illuminierten den Boulevard der Toten mit schaurig flackerndem Licht. Sanderville, Marinelli, Felsburgh oder de Witt stand auf Messingschildern an den Portalen der Krypten geschrieben. Ihre Katakomben beherbergten die Leichen aus einem halben Dutzend Generationen Familiengeschichte und länger. Manche gingen zurück bis zum Unabhängigkeitskrieg. Die Verblichenen residierten in prunkvolleren Häusern als ein Großteil der Bevölkerung von Sorrowville.
Bernie war fast am Ende seiner Runde angelangt und wischte sich den Regen von der Halbglatze. Eine Flasche Bourbon wartete im Wachhaus nahe des Haupttors. Trotz des offiziellen Verbots von Alkohol durch die staatlichen Stellen verfügte er über regelmäßigen Nachschub von hoher Qualität, nicht zuletzt gewährleistet durch die Zuwendungen der genannten Familien. Die Prohibition mochte andernorts ein großes Thema sein, in Sorrowville hingegen existierte sie lediglich de jure.
Als Bernie die Runde geistig schon abgeschlossen hatte, schlug Reiver an.
»Was ist?«, fragte Bernie. »Hast du was gehört?«
Der Hund schnüffelte und bellte mehrmals. Bernie stellte die Lampe ab, um im Licht der Gaslaternen zu verfolgen, was Reiver alarmiert hatte. Schon sprang die Bulldogge auf eine der Grüfte zu. Wenn er es richtig sah, war es jene der Familie de Witt.
Bernie lud die Winchester durch und folgte Reiver zum Portal der verwitterten Grablege. War während seiner Runde jemand durch das Friedhofstor geschlüpft oder darüber geklettert? Er hatte erst vor kurzem die Eisensporne auf der Oberkante geschliffen. Jedem, der während der Überquerung nicht vorsichtig genug war, würden sich die Spitzen wie Speere in den Körper bohren.
Fast hoffte Bernie darauf. Er hoffte, dass Reiver einen Eindringling aus der Krypta zerrte, der um sein Leben bettelte, während der Hund ihm das Bein zerfetzte. Noch mehr hoffte er darauf, dass es eine Frau war, die sie erwischten, wie damals in ’17, vielleicht ein Suchtopfer von Laudanum und Absinth, mehr tot als lebendig. Bernhard war zum Schein darauf eingegangen, sie mit dem Leben davonkommen zu lassen, als sie sich ihm hingab. Er erinnerte sich gerne an sie, an ihre weiche Haut. Mehr noch erinnerte er sich ihren ungläubigen Blick, bevor er ihr mit der Winchester ein Ende bereitet hatte.
Doch Reiver zerrte keine Frau hervor. Tatsächlich hatte er bis auf dieses eine Mal damals nie eine Frau aufgespürt. Bernies Hoffnung keimte dennoch jedes Mal aufs Neue auf, wenn jemand es wagte, sein Reich zu betreten. Ein triumphierendes Hochgefühl ergriff von ihm Besitz, das Gefühl, der Richter über Leben und Tod zu sein.
Doch unvermittelt kniff der Hund den Schwanz ein und entfernte sich langsam von der Krypta.
»Was machst du da, du Drecksvieh?«, brüllte Bernie, der nicht glauben konnte, was er sah. »Fass, du dreckige Töle!«
Schemenhaft sah er eine Gestalt, die sich langsam auf das Portal zubewegte, und er hörte ein schlurfendes Geräusch.
Bernie schoss ohne eine weitere Warnung. Wer sich hier herumtrieb, hatte nichts Gutes im Sinn und sein Leben in dem Augenblick verwirkt, in dem er über den Zaun kletterte.
Die Kugel der Winchester traf den Eindringling an der Schulter. Er wurde herumgeworfen, so dass er in den Schatten des Portals verschwand.
»Na bitte!«, murmelte Bernie zufrieden. Er lud das Gewehr nach und lief an Reiver vorbei auf das Grab zu, nicht ohne dem Hund einen Tritt zu verpassen. »Feiger Köter! Seit wann hast du Angst vor einem Strolch, der uns bestehlen will?« Vielleicht wurde die Bulldogge allmählich zu alt für ihre Aufgabe, denn schließlich diente sie Bernie schon seit mehr als einem Jahrzehnt.
Der Friedhofswärter war noch nicht ganz an der Grablege angekommen, als er erneut die Umrisse einer schmalen menschlichen Gestalt im diffusen Halblicht ausmachte. Dieses Mal bewegte sie sich schneller und kam auf Bernie zu. Er riss das Gewehr hoch und drückte sofort ab. Der Schuss verfehlte sein Gegenüber und schlug im Dach der Krypta ein.
Ihm blieb keine Zeit, um zu reagieren, dann war die Gestalt heran. Bernie gefror das Blut in den Adern, als er erkannte, was er sich gegenüber sah. Das Grinsen eines Totenschädels schlug ihm entgegen. Ein beinahe vollständig skelettierter Körper, dessen blanke Knochen im Licht der Gaslampen gut zu erkennen waren, stürzte sich auf ihn.
Der Tod trug weder Kapuzenmantel noch Sense, als er das Tor zu seinem Reich öffnete.
Knochige Finger packten Bernies Arme und gruben sich mit unnatürlicher Kraft in sein Fleisch. Der Friedhofswächter schrie auf und ging zu Boden, als die Knochenhände seine Oberarme zerfetzten. Sie wühlten sich durch Haut, Sehnen und Muskeln und fanden, wonach sie suchten. Wie um einen Ast schlangen sich die Hände um seine Oberarmknochen und rissen sie aus dem Schultergelenk. Erst den linken, dann den rechten.
Blut spritzte in Fontänen auf den Boulevard der Toten. Der Lebenssaft färbte den Kies im Schatten der Nacht tiefschwarz und versickerte dampfend im Acker jener, die lange vergangen waren.
Bernies Körper versank in Bewusstlosigkeit, während sich um ihn herum weitere Skelette erhoben. Die Erde wurde zerwühlt, und Grabplatten zerbarsten unter dem Ansturm des Untods, der sich den Weg in die Freiheit bahnte. Der Boulevard war bald von jenen bevölkert, die tot waren.
Während sie nach allem trachteten, was lebte, begannen die Wiedergänger der Familie de Witt den noch warmen Körper des Friedhofswärters auszuweiden. Sie labten sich an seinem Fleisch und seinen Innereien, zerrissen Gliedmaßen und nagten jeden einzelnen Knochen ab, bis sein Gerippe ebenso blank im Lichte der Gaslaternen schimmerte wie ihre eigenen. Sie zerschmetterten den Schädel und nahmen sein Hirn in sich auf, fütterten den finsteren Äther in ihrem Kern, der ihnen das unheilige Leben eingehaucht hatte, auf dass er an Stärke gewann.
Reiver, die Bulldogge, hatte sich längst aus dem Staub gemacht und in den hintersten Winkel des Green Wood Cemetery verzogen. Schier wahnsinnig vor Angst und Entsetzen angesichts des leibhaftigen wandelnden Tods kauerte sie in der Dunkelheit nahe des Tannenwalds. Dort war es ebenso still geworden wie auf dem Friedhof, denn jeder Waldbewohner spürte das Grauen, das dort die Herrschaft übernommen hatte, und flüchtete, so schnell er konnte.
Für Reiver jedoch gab es kein Entrinnen. Der Zaun war für den Hund zu hoch, um ihn zu überqueren. Die Stangen waren zu fest im Boden verankert und zu stabil geschmiedet, um sie zu durchbrechen.
Die Toten waren zu viele, als dass er ihnen entkommen konnte. Im Gegensatz zu dem Tier kannten sie keine Furcht oder Erschöpfung. Sie nahmen sich das, was lebte, und verleibten es dem finsteren Kern ihres Daseins ein.
Die lebendig gewordenen Gerippe hetzten den Begleiter des Friedhofswächters, der selbst so viele Leben gieriger Eindringlinge beendet hatte, zu Tode. Am Ende der Nacht blieb auch von ihm nicht mehr übrig als ein zerfetztes Skelett.
Kapitel 2: Die Residenz des Ermittlers
Zacharias Zorn war alles andere als ein Frühaufsteher. Ganz im Gegenteil, er hasste den Morgen mit seiner charakteristischen Stimmung des Neubeginns. Auch die frische Luft der See oder die Geräusche der Stadt, die sein Haus auf den Klippen über der Black Hollow Bay erreichten, und nicht zuletzt der Krach, der von unten aus dem Flur zu ihm ins Schlafzimmer hinaufdrang, konnten seine Lebensgeister nicht wecken.
Seine Sekretärin Mabel Winters war wie jeden Morgen pünktlich auf die Minute um halb neun zur Arbeit erschienen, und sie legte großen Wert darauf, dass auch Zacharias sich halbwegs an einen normalen Tages- und Arbeitsrhythmus hielt. Immerhin hatte das Geklapper von Schüsseln und Tassen etwas Gutes: Sie kochte Kaffee, und das war der einzige Grund, warum Zack sich nicht umdrehte und das Kissen über die Ohren zog, um weiterzuschlafen.
Umständlich schwang er die Beine aus dem Bett und legte den Kopf in die Hände. Es war spät gewesen, wie üblich. Er hatte zu viel getrunken, wie immer. Die Kopfschmerzen waren vorhanden, aber nicht hämmernd – ebenfalls nichts Neues. Nach einer Weile gab er sich einen Ruck, stand auf und trottete zur Tür.
Der Kaffeegeruch auf dem Flur half zumindest ein bisschen. Nachdem er sich in dem winzigen Bad, das immerhin über einen Anschluss mit fließendem Wasser verfügte, frisch gemacht hatte, war er endgültig im Diesseits angekommen.
Mabel saß bereits an ihrem Schreibtisch, als er die Treppe ins Erdgeschoss seines Häuschens oberhalb der Klippen herunterkam. Neben ihrem Stuhl lag ihr Hund Trevor und schlief. Während die erste Etage mit Mühe und Not sein Schlafzimmer, das eher einer Kammer glich, und das Bad beherbergte, war es hier unten geräumiger. Neben dem Eingangsflur, der auch als Empfangszimmer diente, gab es drei weitere Räume. Nicht viel, um Wohnung und Arbeitsräume eines Privatermittlers unterzubringen, aber für Zack reichte es.
Die Kaffeetasse stand am üblichen Platz auf der Anrichte neben der Küchentür, und Zack nahm den ersten Schluck des dampfenden Gebräus dankbar zu sich.
»Guten Morgen, Mr. Zorn!«, sagte Mabel, blickte über ihre Lesebrille hinweg und deutete so etwas wie ein Lächeln an. Die Sekretärin wusste, dass man ihn vor dem ersten Schluck nicht ansprechen durfte, und in den sieben Jahren, die sie nun gemeinsam arbeiteten, hatte sich eine Routine zwischen ihnen entwickelt, die selten von der Norm abwich.
Dazu gehörte auch, dass Zack sich zum Kaffee eine Zigarette anzündete. Barfuß, nur mit der frisch gebügelten Hose und einem Unterhemd angetan, lehnte er sich an den Türrahmen und hörte dem zu, was Mabel ihm zu erzählen hatte.
»Zeit, mal wieder ein wenig zu arbeiten, Mr. Zorn, oder nicht? Es liegt eine Menge Papierkram an«, begann sie. »Sie haben die Berichte für Inspector Turner immer noch nicht unterzeichnet, er hat deswegen schon zweimal nachgefragt. Außerdem sollen Sie im Stadtarchiv vorbeikommen. Mrs. Stranger hat Ihnen die Sachen herausgesucht, nach denen Sie gefragt hatten. Ich fürchte außerdem, dass wir die Rechnung für die Reparatur Ihres Wagens nicht bezahlen können. Ehrlich gesagt können wir gerade überhaupt nichts bezahlen, da wir diesen Monat noch nichts eingenommen haben. Ich frage mich, wie Sie mir nächste Woche den Lohn auszahlen wollen, Mr. Zorn! Ich kann nicht schon wieder warten, das geht nun wirklich nicht, das verstehen Sie doch? Haben Sie die Beträge für die Carpenter-Sache angesetzt? Die würden Ihnen ein, zwei Monate Liquidität verschaffen – und dann könnten Sie auch das County Hospital bezahlen. Sie wissen schon, wegen der Schusswunden.«
Zack wusste nur zu gut, was sie meinte. Er kratzte sich an der Schulter. Es war noch keine drei Monate her, dass er sich zwei Kugeln eingefangen hatte. Bis heute wusste er nicht genau, wer auf ihn geschossen und ihn fast getötet hätte, aber es war nicht schwer, die Killer des Marinelli-Clans hinter dem Attentat zu vermuten. Der Familie, die in Sorrowville mehr Macht besaß als Bürgermeister und Polizei zusammen, war er schon zu oft in die Quere gekommen.
»War das alles?«, fragte er Mabel und schlürfte weiter am Kaffee. Wie meist war ihm die prekäre finanzielle Situation bewusst. Auch das Ignorieren seiner Verbindlichkeiten gehörte zum alltäglichen Pflichtprogramm, wenngleich sich der schlechte Umsatz des ausklingenden Jahres 1926 nicht mehr leugnen ließ.
»Bei allem Respekt, ich bin der Ansicht, das reicht vollkommen, Mr. Zorn!«, erwiderte Mabel in strengem Ton, der ihn an seine Mutter erinnerte. Die grauhaarige Angestellte war nur knapp fünfzehn Jahre älter als er, doch in Einstellung und Habitus trennte sie weit mehr als eine halbe Generation. »Sie sollten das alles ein wenig ernster nehmen, sonst geraten Sie bald in richtige Schwierigkeiten, Mr. Zorn. Ewig geht das nicht so weiter, das verstehen Sie doch?«
»Ich weiß, ich weiß«, murmelte Zack und löste sich vom Türrahmen. Es stand nichts Dringendes an, also musste er den Tag wohl oder übel mit den Papieren verbringen und liegengebliebene Dinge abarbeiten. Allein schon, damit er Mabel in der kommenden Woche auszahlen konnte und sich nicht allmorgendlich ihre Ermahnungen anhören musste.
»Bringen Sie mir die dringendsten Sachen in mein Büro«, sagte er im Vorbeigehen. »Als erstes kümmere ich mich um die Carpenter-Geschichte, damit Sie auch künftig was zu beißen haben, meine Teuerste. Aber dafür brauche ich definitiv mehr Kaffee.«
Zack öffnete die Tür zu seinem Büro, aus dem ihm abgestandene Luft und eine Mischung aus kaltem Rauch, Bourbon und vergilbtem Papier entgegenschlugen. Ein vertrauter Duft, ein Odem von Heimeligkeit und Sicherheit.
Als er eintreten wollte, wurde die Haustür aufgestoßen.
Während Mabel erschrak und zur Tür starrte, als rechne sie mit einem Raubüberfall, hielt Zack lediglich inne und zog betont lange an seiner Zigarette. Es gab nur eine Person, die außer Mabel so selbstverständlich bei ihm ein- und ausging.
»Lissy. Guten Morgen!« Zack drehte sich nicht einmal um.
»Keine Zeit für Höflichkeiten, Honey!«, kam es kurz angebunden von einer Frauenstimme zurück. »Zieh dir was an und komm mit. Auf dem Friedhof hat es einen Toten gegeben.«
»Auf dem Friedhof? Ist das denn ungewöhnlich?«
»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Ich rede hier nicht von einer Trauerfeier im familiären Kreis, sondern von einem Mord.«
»Einen Moment«, erwiderte Zack und winkte ab. Bevor er ein Mordopfer in Augenschein nahm, brauchte er vor allem eins.
Mehr Kaffee. Mit einem Schuss Bourbon.
Zack knöpfte sich erst im Wagen die letzten Knöpfe des Hemds zu, während er die Augen zu Schlitzen verengte, da ihm der Rauch der Zigarette, die im Mundwinkel hing, in die Augen stieg. Dass Lissy wie üblich fuhr wie eine Geistesgestörte, erschwerte die Sache zusätzlich.
»Also, was liegt an?«, fragte er irgendwann mit einem Seitenblick.
»Pass auf, das wird dir gefallen!«, antwortete sie, bevor sie ebenfalls an ihrer Zigarette zog. Wie immer war die Reporterin der Sorrowville Gazette perfekt geschminkt und frisiert. Ihre dunkelblonden Locken reichten ihr bis in den Nacken, das Gesicht war gepudert, und die streng gezeichneten Augenbrauen betonten grüne Augen, die auf die Straße gerichtet blieben, während sie sprach. »Ich war noch nicht wach, als Doyle mich angerufen hat. Sein Kontakt bei der Polizei hat ihm gesteckt, dass es einen Großeinsatz oben am Green Wood Cemetery gibt. Dort muss ein ziemliches Gemetzel stattgefunden haben. Stell dir vor, es hat den alten Bernie erwischt.« Das süffisante Grinsen, das den letzten Satz unterstrich, zeugte davon, dass Lissy keinerlei Bedauern ob dieser Tatsache empfand. Ihre dunkelrot geschminkten Lippen schlossen sich erneut um den Tabakstengel.
»Ist es das, was mir gefallen soll?«
»Vielleicht. Gibt wohl wenige, die ihm eine Träne nachweinen, aber ich glaube, es sind eher die ungeklärten Begleitumstände seines Ablebens, die dich interessieren dürften – und mich ebenfalls.«
»Wie geheimnisvoll«, murmelte Zack und starrte durch das Fenster des Cadillacs hinunter auf die Stadt. Die Schlote der Fabriken im Hafenviertel qualmten bereits. Ihr schwarzer Rauch verdunkelte den Himmel noch mehr als die Novemberwolken, die über der Bucht hingen.
»Viel weiß ich nicht, außer, dass man die kläglichen Überreste von ihm gefunden hat. Und ziemlich viel Blut.«
»Ist womöglich dieser gemeingefährliche Hund durchgedreht und hat ihn zerfleischt? Das wäre nicht unbedingt ungewöhnlich.« Zack befasste sich zwar auch mit Ermittlungen in ›normalen‹ Kriminalfällen, wenn die Bezahlung stimmte, allerdings hatte er sich vor allem auf Verbrechen und Zwischenfälle spezialisiert, bei denen es in den Augen normaler Menschen ›nicht mit rechten Dingen zuging‹. Die Interpretationen dieser Ereignisse besaßen jedoch einen weiten Spielraum, weshalb Zack es genauso häufig mit wahnsinnigen Gewalttätern oder Mördern, den Umtrieben von Möchtegern-Okkultisten wie mit Todesfällen und Abscheulichkeiten zu tun hatte, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen bei weitem überstiegen.
»Es hat sich nicht so angehört«, sagte Lissy, zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie im Aschenbecher in der Mittelkonsole aus. »Steckt wohl mehr dahinter. Vielleicht hofft Doyle aber auch nur, dass ich ihm eine packende Geschichte liefere, um die Gazette morgen damit aufzumachen. Wir hatten länger keinen spektakulären Todesfall mehr, der über eine Leiche hinausgeht, die von einer Tommy Gun zersiebt wurde. Ich hoffe doch sehr, dass es was Schlimmeres ist, sonst können wir uns das Ganze sparen.«
Zack nickte. Sie sprachen eine Weile nicht, da die Straße hinauf zum Friedhof in erbärmlichem Zustand war und beide aufgrund der tiefen Schlaglöcher im Auto hin- und hergeworfen wurden.
Erst als sie auf den Platz außerhalb des Friedhofsgeländes fuhren, wurde es ruhiger. Dort standen mehrere Autos. Leute liefen aufgeregt hin und her.
»Oh mein Gott, was für ein Haufen Menschen!«, sagte Lissy. »Das hatte ich nicht erwartet. Anscheinend hat die Nachricht schnell die Runde gemacht.«
Zack nickte und stieg aus dem luxuriösen Roadster. »Ich habe sie nicht bestellt. Gebraucht habe ich sie erst recht nicht.«
Neben den Wagen der städtischen Polizei fanden sich dort Motorräder sowie eine Luxuskarosse, wie sie sich nur die reichsten Menschen in Sorrowville leisten konnten.
»Gottverdammt, was für ein Schlitten.« Zack blieb neben einer großen Maybach-Limousine stehen und betrachtete sie nachdenklich. »Das ist der Wagen von Manny de Witt. Was hat der hier zu suchen?«
»Vielleicht ein zufälliger Besuch in der Familiengruft? Um Mummy und Daddy trauern, bevor er den restlichen Tag im Puff verbringt?«, vermutete Lissy, zog den Mantel mit Pelzkragen enger um die Schultern und zündete sich die nächste Kippe an. »Verdammt, ist das kalt. Ich hoffe wirklich, es stimmt, was Doyle mir erzählt hat, sonst friere ich mir hier völlig umsonst den Hintern ab.«
»Dann wollen wir doch mal sehen, dass sie etwas möglichst Grauenvolles für uns haben.« Zack lächelte grimmig. »Um deiner Bekanntheit als Reporterin und meines leeren Bankkontos willen.«
Der kostenlose Auszug ist beendet.