Der Weg nach Afrika - Teil4

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Dr. Ferdinand stimmte dem Philosophen zu, dass für den Menschen die Verantwortung für die Zukunft ein hoch gestecktes Ziel ist, weil er ein Defizit im Offensein wie im Anspruch auf die Integrität hat, die für das Ebenbild unerlässlich sind. Da war die Apartheid ein grosses Unheil, wo die Würde und Integrität bei Weissen und Schwarzen geschändet wurde, indem die einen es taten und die andern es litten. Den einen waren die Schandtaten vorzuhalten, den andern, dass sie daraus nicht gelernt hatten. So war es mit der Verantwortung für die Zukunft nicht gut bestellt, weil die Täter schwiegen, mit der heilen Haut davonzukommen suchten, und es die andern nicht verstanden, wie hoch die Freiheit anzusetzen, wie verantwortungsvoll an sie heranzutreten war, um nicht vom einen Scherbenmeer ins andere zu kommen. Von einer Hütung des Erbes im >ebenbildlichen< Sinne und Ansinnen waren beide weit entfernt. Das Erbe wurde schändlich behandelt, wurde getreten und misshandelt. So mussten sich die Erben fühlen, denen Anstand und Würde abhanden kamen. Es fehlten der Respekt und die Furcht, dass mit dem Menschen achtvoll und behutsam umzugehen war, dem im Umgang leicht weh getan werden kann. Weil die einen es nicht begreifen wollten, die andern es nicht begreifen konnten, wuchsen die Menschen (barbarisch) in eine verkümmerte Menschlichkeit hinein, sie wühlten sich da mit Gewalt regelrecht hinein. Das "Zusammenleben" fand ohne Gemeinschaft statt, die nur eine Anhäufung schreiender und schlagender Unterdrücker und einem zusammengepressten Haufen schreiender und geschlagener Unterdrückter war. Da ging es acht- und furchtlos, respekt- und trostlos zu. Es gab kein Zurückschaudern vor dem, was aus dem Menschen werden konnte. Es gab keine Ehrfurcht vor dem Sein mit dem menschlichen Gebot. Da sollte es dann dauern, bis es gelernt werden wollte, dass es ohne Furcht und Ehrfurcht, Achtung und Schaudern nicht geht, dass ohne sie die Menschheit zum Kessel der Gemeinheit erstarrt, wo Raub und Totschlag nur noch technische Probleme waren. Solange der Mensch sich die Würde ausgezogen hat und völlig anspruchlos der Integrität des Heilseins gegenübersteht, also nackt und zerschunden dasteht, ohne sich um die höchsten Werte zu bemühen, um sie zu begreifen und sich mit ihnen neu zu kleiden, solange sollte es mit dem Leben, dem >ebenbildlichen< Erbe und den Erben auch nicht gehn. Offenheit und Anspruch durch Ehrfurcht und Schaudern, sie waren zerrissene Kleider, die nicht zu flicken waren. Wollte man sie wieder tragen, um nicht so schamlos nackt zu bleiben, dann mussten neue Kleider her. Da war das ABC zur Offenheit und Ehrfurcht neu zu lernen.

Flugsafari im Militärhubschrauber vor dem Abzug aus Namibia

Dr. Lizette und Dr. Christine, die beiden Narkoseärztinnen, waren mit ihren Männern beim Abzug des südafrikanischen Militärs nach Südafrika zurückgekehrt. Davor hatten Dr. Lizette und ihr Mann, der Psychologe, der die Erstschützen seelisch auf ‘Vordermann’ brachte, wenn sie beim ersten Scharfschiessen auf wehrlose Menschen Gewissensbisse bekamen, noch an einer Flugsafari in einem Militärhubschrauber über den unberührten Weiten des Kaokofeldes teilgenommen, das im Nordwesten des Landes bis an den Atlantik reicht, wo es vereinzelt noch Buschleute gibt und die Ovahimbas als Nomaden ihre Rinder und Ziegen vor sich hertreiben.

Sie berichteten von Bergzebras, den Wüstenantilopen und Elefantenherden, die es da in Frieden gab und stolz die Weiten durchschritten, dann aber scheuten und aus der Fassung gerieten, als ihnen der Hubschrauber auf die Fersen rückte. Da haben sie doch noch ‘die menschliche Sau’ rausgelassen, dachte Dr. Ferdinand, um die eigenen Ängste an den Tieren auszulassen, die die Menschen nicht, aber die Freiheit in der Wüste kannten. Es waren die schlagenden Rotorblätter dicht über ihnen, die die Ordnung zerstörten, wenn sie wehrlos von oben gejagt wurden. Da bekamen sie panische Angst und stoben in die Flucht, weil sie sich des Lebens nicht mehr sicher waren und sich auch nicht wehren konnten gegen einen Tierfeind, der sich selbst nicht stellte, sondern mit dem Hubschrauber über ihren Köpfen kreiste und ihnen die Ruhe und das Gefühl der Sicherheit raubte. Und genau das war das Motiv, dass die Obendrüberkreisenden auf ihrer Wild- und wilden Jagdsafari im Hubschrauber suchten und die Fotoapparate vor die Augen drückten, wenn die Tiere verängstigt wurden und vor ihnen wegliefen, um ihr Leben und bis zur Erschöpfung liefen. Es war der Instinkt, der sie am Laufen hielt, der ihnen einschärfte, dass mit diesen Menschen nicht zu spassen ist, die ihnen von oben auf den Fersen waren, die da aus guter Sicht und kleiner Entfernung abdrückten, ob am Fotoapparat oder am Gewehr. Da durfte es für die Tiere keine Müdigkeit geben, es sei denn, das Benzin in diesem fliegenden Koloss ging zur Neige, oder der Koloss stiess im Tiefflug gegen eine Wand. Doch das zogen sie nicht in ihr Fluchtkalkül.

Es wurden viele Fotos geschossen, das sagte Dr. Lizette, weil es da spannende Szenen über der steinigen Wüste gab, wo die Elefanten vor riesigen Sandwolken trabten, Antilopen in weiten Sprüngen davongaloppierten und die Bergzebras in dichten Rudeln um die Hänge rannten. Dr. Lizette meinte, dass es die schönsten Erinnerungsfotos aus ihrer Zeit in Oshakati werden würden. Dr. Ferdinand verstand es so, dass die Teilnehmer dieser Flugsafari ihren Wüstenorgasmus hatten, als sie die verzweifelten Tiere in ihrer Not auf der Flucht verfolgten und das Drama, das sie von oben her und gefühlskalt anrichteten, photographisch genossen. Fotos zeigen eben nicht den verfluchten Mangel an Ehrfurcht, die überhebliche Respektlosigkeit des Menschen vor dem lebenden Tier, sondern allein das Tier in den riesigen Weiten der Wüste, wie es davon und um sein Leben rennt. Auch da war der Mensch schon im Ansatz ohne Einsicht und Verstand, sonst hätte er so etwas nicht getan. Sich mit dem Hubschrauber die Überlegenheit zu verschaffen, das entsprach seiner Unbildung mit der verlorenen Offenheit vor der Natur und seiner aufgesetzten Unverschämtheit. Wenn es der Stolz der Tiere war, dann wollten sie sich nicht in ihrer Hilflosigkeit und auf der Flucht photographieren lassen. Das Foto war die Perversion dessen, was das Tier dem Menschen nicht zeigen wollte. Es lebte in Frieden, solange der Mensch von ihm wegblieb.

Dr. Ferdinand war sich sicher, dass diese Fotos ihre Runde machen würden, wo die Kommentare nicht schlechter ausfielen als das schäbige Unternehmen, Tiere auf der Flucht vor einem tief kreisenden und ihnen auf die Fersen rückenden Militärhubschrauber zu photographieren. Manche der Fotos würden da sicherlich vergrössert und eingerahmt an den Wänden hängen, wo eben "spannende Szenen" zu sehen waren. Sie würden immer wieder und besonders dann angeschaut werden, wenn sich der Betrachter schwach fühlte und eine Aufmunterung brauchte. Dazu sollte das Grossfoto an der Wand technisch wie motivisch gut genug sein, wie etwa der herrische Präsidentenkopf, der aus dem goldgerahmten Grossfoto an der Wand hinter dem erhöhten Schreibtischsessel des ehemaligen Direktors in Colonelsuniform den ihm gegenüber auf niedrigem Stuhl sitzenden Untergegebenen streng anblickte, Respekt einflösste und ihm von vornherein klarsehen liess, dass hier mit Schwäche nicht zu rechnen war. Dass in Wirklichkeit eine Unverschämtheit dahintersteckte, die zu diesem Foto führte, das wurde wohl den wenigsten klar, und erst recht nicht denen, die sich an den gemeinen Motiven ergötzten und den Mund nicht mehr zu bekamen. Die Betrachtung setzte da wie schon beim Photographieren ein gewisses Mass an Dummheit voraus, die, wie allzu oft, mit einer abgebrühten Verrohtheit einherging.

Der andere, weisse Kollege war jener Dr. Johan mit dem blassen Gesicht und den für Buren nicht ungewöhnlich weit abstehenden Ohren, der mit seiner Frau den Abzug von den Turbulenzen der Übergangsperiode in Richtung Süden vorzog. Der Verkehrpolizist des Dorfes hatte sich ihm noch erkenntlich gezeigt, indem er ihm und seiner Frau die noch fehlenden Führerscheine für Schwerlaster und schwere Kradräder (ob für Omnibusse, da war sich Dr. Ferdinand nicht sicher) ausgestellt hatte. Dieser Kollege, der für kurze Zeit auch Superintendent war, was seinem Image weiter in die Höhe half, hatte es in der richtigen Zeit richtig getroffen und ein Vermögen mit seinen Privatpatienten verdient, zu dem das übliche Gehalt von der Administration dazukam, weil er ab und zu die Patienten mit den leeren Händen an den Augen behandelte, was seine ursprünglich vorgetragene Intention war. Er war ein freundlicher, zielbewusster und meist lächelnder Kollege, der für seine Patienten keine Mühe scheute, sich dafür aber von den Nacht- und anderen Diensten am Hospital befreite, um die Abende und Wochenenden nach persönlicher Vorstellung mit seiner Frau zu gestalten, wozu der störungsfreie Gebrauch des Swimmingpools und der ungestörte Nachtschlaf gehörten. Dr. Johan mit den privaten Ambitionen war in den zwei Jahren konkurrenzlos, anerkannt und sehr erfolgreich bei denen, die es mit barer Münze zahlten. Er hatte es zu etwas gebracht und konnte stolz sein, dass er noch rechtzeitig kam, um abzusahnen, und auf seine Klugheit, es sich nicht gleich anmerken zu lassen, wo es für ihn lang ging, und aufkommende Probleme, wie sie beim Mehrverdienen und Nochmehrwollen nicht selten auftreten, elegant umschiffte. Da hatte das Finanzamt im siebenhunderfünfzig Kilometer entfernten Windhoek mit Sicherheit keinen Cent gesehn, weil für ein Kriegsgebiet die weit vom Schuss sitzenden Beamten lieber die Augen zudrückten, als da mit ihren Sitzärschen noch hinzufahren und für eine Buchkontrolle möglicherweise ihr Leben zu riskieren. So dumm waren die auch nicht, als dass sie mit Bilanzbüchern dort rechneten, wo sowieso alles drunter und drüber ging. Der lächelnde Kollege hatte sich zur richtigen Zeit den richtigen Ort für seine Tätigkeit ausgesucht, hatte sich den Umständen voll angepasst und war voll, wenn nicht mehr, auf seine Kosten gekommen. Er behielt sein Lächeln, als er zur richtigen Zeit den Platz im Untersuchungsraum für Privatpatienten mit der neu eingesetzten Tür räumte und das runtergekommene Hospital unweit der angolanischen Grenze verliess. Er hatte den Weitblick und seine guten Gründe, wenn er zur richtigen Zeit mit den neuen Führerscheinen seine reichen Pfründe unversteuert in Sicherheit brachte. Keiner sagte ihm etwas Abträgliches nach, weil es keinen gab, der sich von dem in so kurzer Zeit zusammengescheffelten Reichtum eine vage Vorstellung machte.

 

Ein schwerer Verlust war dagegen der Weggang des hervorragenden Spezialisten der inneren Medizin, Dr. David S., der unter grossem Einsatz und mit brillantem Wissen diese Abteilung im wahrsten Sinne des Wortes auf Vordermann und auf eine Standardhöhe gebracht hatte, die unter den miserablen Hospitalbedingungen Bewunderung verdiente. Ihm war es durch ständiges Monieren zu verdanken, dass da Ordnung und Sauberkeit einkehrten, die Betten sauber bezogen wurden und die Patienten Waschschüsseln, Spucknäpfe und saubere Hospitalkleidung bekamen. Dr. David S. war hart und gewissenhaft in der Arbeit und ein begabter Lehrer in der Weiterbildung der ihn begleitenden, jungen Kollegen. Die wurden akademisch poliert und hatten ihre Kenntnisse ernorm erweitert. Durch ihn hatten sie die systematische Arbeit am Patienten schätzen gelernt. David ging an die Wits-Universität nach Johannesburg zurück, um sich neuen Aufgaben in der Forschung zu widmen. Er war gross als Arzt und gross als Mensch und von allen hoch geachtet. Da konnte ihm keiner das Wasser reichen. Er bekam den grossen Abschied mit einem Geschenk, ihm sang der Chor der Schwestern und Studenten der Krankenpflegeschule den Schmerz des Abschieds aus den Herzen. Weil er Mensch war und mit beiden Füssen auf dem Boden stand, hatten ihn alle gemocht. So wurde er zum Abschied geküsst, wo schwarze Lippen die weisse Wange berührten. Er selbst wischte sich die Tränen aus den Augen, die andern waren nicht weniger gerührt, weil jeder wusste, dass es so einen Arzt am Hospital nicht mehr geben wird.

Neue Gesichter sassen in der Morgenbesprechung, wo der Trend von Weiss nach Schwarz unübersehbar und an den Fingern abzuzählen war. Der Superintendent gab sich Mühe, in den Haufen Ordnung zu bringen. Er verteilte die neuen Kollegen und Kolleginnen nach Wunsch und Können auf die verschiedenen Disziplinen, wo die meisten zur inneren Medizin und zum 'Sorting' im 'Outpatient department' und einige wenige zur Gynäkologie, Chirurgie und Kinderheilkunde kamen. Da blieb für die Orthopädie keiner übrig, weil da keiner hin wollte, die Knochenarbeit war ihnen zu schwer, und keiner hin konnte, da ihr Kenntnisstand praktisch null war. So mussten sich Dr. Ferdinand und der philippinische Kollege auf diesem operationsintensiven Sektor allein weiter durchschlagen. Sie taten es, ohne mit der Wimper zu zucken, auch wenn ihnen die Rücken und Hände schmerzten. Mit der Phase des Übergangs gingen die Schussverletzungen zurück, was erfreulich war. Dagegen kamen mehr Kinder mit fürchterlichen Minenverletzungen, nachdem sie mit diesen Tötungstellern auf den Feldern in Berührung kamen, oder sie auflasen, die dann in ihren Händen explodierten und sie entweder gleich an Ort und Stelle töteten oder ihnen die Hände, Arme und Beine abrissen. Die Verletzungen an Kindern, die nun frei herumliefen, waren die schlimmsten Umstände, die den Übergang begleiteten. Hunderte von ihnen verloren auf diese unerhörte Weise ihr Leben, viel zu viele Kinder wurden durch Minen entstellt und verkrüppelt, weil sie es überlebten. So war der Weg in die Unabhängigkeit nicht nur mit Steinen, sondern mit vielen Minen ausgelegt, die täglich ihre Opfer forderten, als gönnte das alte Regime dem neuen nicht den Frieden. Die eingefleischten Pretorianer in den Hochburgen des Burentums hielten krampfhaft die Hebel der Macht in ihren Händen. Sie wollten dort unten verhindern, was hier oben passierte. Für sie stand zuviel auf dem Spiel, um da von den Hebeln zu lassen, die ihnen über drei Jahrhunderte den Vorteil und Reichtum brachten.

Der Machtwechsel und die Folgen

Das neue Kommandoschiff mit den schwarzen Masten ging vor Anker. Schwarze Menschen kamen ins Büro des Superintendenten, die bei der Swapo gehobene Posten hatten. Sie kamen aus dem Exil zurück und erschraken beim Anblick der Wunden, die die Apartheid und der gegen sie gerichtete Befreiungskampf in ihrer Heimat, dem Ovamboland, gerissen hatten. Sie kannten das Land nicht wieder, das sie als junge Menschen verliessen, als es noch dichte Wälder gab und ihre Väter und Mütter, die vielen Geschwister noch lebten. Sie suchten nach den Wäldern, nach den Vätern und Müttern und den Geschwistern und fanden sie nicht mehr. Das Land war zur Wüste verödet. Abgehackte Baumstümpfe stachen aus dem Sand, die die Plätze markierten, wo sich einst laubbehängte Bäume reihten, unter denen sie mit Eltern und Freunden sassen, weil es da den erwünschten Schatten gab. Nun brannte die Sonne auf weite Flächen nieder, denen jeglicher Schutz genommen war. Die Krale waren verwildert, niedergebrannt und platt gewalzt, der letzte Dung versandet. Tiefe Krater und Gräben waren dort, wo einst die Schule mit dem alten Lehrer war, wo draussen die Rinder und Ziegen weideten. Das Land war bis zur Nacktheit abgeholzt, zur scheusslichen Fratze entstellt, zur unbeschreiblich trostlosen Wüste verkommen. Dass da Menschen waren, die Mahangu und Mais, Melonen und Bohnen zwischen schattigen Bäumen pflanzten, zogen und pflegten, die weidenden Rinder und Ziegen, die spielenden Kinder mit der Oma, die ihnen zusah und dabei die Wäsche wusch, das alles war verschwunden. Die Heimat von einst, sie gab es nicht mehr, und der Verlust schmerzte in der Erinnerung. Die Menschen kamen aus dem Staunen über die Verwüstung nicht hinweg.

Auch staunten sie und der Superintendent, dass sie sich lebend wiedersahen. Sie sahen es gegenseitig den Gesichtern an, dass sie älter geworden waren. Einer hatte den 'Dr' der Medizin, den ihm eine polnische Universität mit Abschluss des Studiums zuerkannte. Der hatte das Lächeln parat, weil er das Exil überlebte, was viele nicht schafften. Der erschien im Anzug mit Krawatte, obwohl die Hitze zum Öffnen des Kragenknopfes brüllte. Ein älterer Herr, der mit seiner weissen Frau und zwei jungen Kindern Wochen später im Büro des Superintendenten sass, der sass mit weissem Hemd und offenem Kragen. Er wirkte menschlich und bescheiden. Ihm hatte die Geschichte achtzehn Jahre Haft, siebzehn Jahre auf Robben Island (Gefängnisinsel vor Kapstadt) aufgedrückt, wo er unter verbesserten Haftbedingungen mit dem grossen Nelson Mandela Schach spielte. Die Geschichte der Entbehrungen war dem sympathischen Herrn, der zur Eliteklasse der neuen Mannschaft gehörte, ins Gesicht gemeisselt, dem ein tiefer Ernst aufsass, der sich nicht durch ein einfaches Lächeln verspielte. Dr. Ferdinand mochte ihn und sein Gesicht, weil beides stimmte und zusammenpasste. Seine ausnehmende Bescheidenheit weckte das Gefühl, dass man diesem Menschen trauen konnte, der auf das, was er durchgemacht hatte und die langjährige politische Haft von sich aus nicht zu sprechen kam. Zu diesem Mann sah Dr. Ferdinand auf, spürte Brüderlichkeit und stellte sich vor, dass der ältere Herr sein älterer Bruder war, auch wenn sie von der Hautfarbe her verschieden waren. Er sollte Andimba Toivo ya Toivo später noch einige Male wiedersehen.

Mit den Kollegen und Kolleginnen aus dem Exil kam auch ein Röntgenologe aus Tansania mit Frau und Kindern. Ihm wurde ein Haus mit drei Schlafzimmern zur Verfügung gestellt, das hinten in 'Klein-Angola' auf dem Hospitalgelände neben dem Haus stand, in dem der Superintendent mit seiner kinderreichen Familie wohnte. Zuvor bewohnte das Haus die sympathische Dr. Ruth, die fleissige Frauenärztin, mit Mann und Sohn. Da gab es ein Zerwürfnis in der Familie, weil der Mann ohne Alkohol nicht leben konnte, in Rauschzustände verfiel und dem Bösen im Charakter seinen Lauf liess, wenn er der herzensguten Frau ein blaues Auge schlug, mit dem sie dann operierte und ihre Patienten sah. Die Kollegen schämten sich, wenn sie am Morgen diesen guten Menschen mit dem blauen Auge im Teeraum des 'theatre' sahen, die selbst kein Wort darüber verlor. Der Mann war ihr in der Bildung unterlegen und konnte das Schlagen nicht seinlassen. So trennten sie sich, und Dr. Ruth ging mit ihrem Sohn nach dem äussersten Süden des Landes, bis an den Oranje, den Grenzfluss zu Südafrika, wo sie in Oranjemund, wo der Oranje in den Südatlantik mündet, ihre Tätigkeit im Hospital der Stadt mit der grossen Diamantenmine aufnahm. Ihr Weggang war ein schwerer Verlust für das Hospital im hohen Norden. Sie hinterliess eine so grosse ärztliche und menschliche Lücke, die eigentlich nicht mehr geschlossen wurde. Die Patienten und Schwestern weinten ihr nach Süden nach.

Dr. Daniel, der Röntgenologe, war ein freundlicher Kollege, der die Abteilung auf Vordermann brachte und jederzeit erreichbar war. So war er eine willkommene Hilfe bei der diagnostischen Abklärung der Patienten. Zum ersten Mal nach all den Jahren gab es Befundberichte zu den Röntgenbildern, die kompetent und lesbar waren. Sie erleichterten die Arbeit insbesondere für jene Kollegen, die beim Lesen des Röntgenbildes noch ungeübt waren. Dr. Daniel beschaffte ein kleines Ultraschallgerät, mit dem er grössere Blutungsherde im Schädel, Gallen- und Nierensteine lokalisierte und bei schwangeren Frauen das Geschlecht und die Lage des Föten bestimmte. Da wurde Dr. Lizette in den letzten Monaten ihrer Tätigkeit am Hospital und eine deutsche Jungärztin neugierig, die er hilfsbereit in die Untersuchungstechnik mit dem Ultraschall einführte. Das Hospital bekam dadurch einen akademischen 'Touch', aus dem die jungen Kolleginnen ihren Bildungsvorteil zogen.

Es kamen noch drei Kollegen aus Nigeria und einer aus Uganda. Von den Nigerianern war Dr. Onu ein Urologe, der in Budapest seinen Facharzt machte und mit Frau und zwei Kindern kam. Der zweite Nigerianer war Dr. Dennar, der für die Anästhesie kam. Er liess seine Familie in Nigeria zurück, denen er das bessere Geld zum Leben überwies. Dr. Mojekwu war der dritte Nigerianer. Der brachte seine junge Frau mit und zeichnete sich durch seine gleichbleibende Freundlichkeit vor den beiden andern Nigerianern aus. Dr. Mugimo aus Uganda war von hoher Intelligenz und nicht weniger freundlich. Er hatte an der bekannten Makerere-Universität in Kampala studiert. So wurde die Ärzteschaft gegen Ende des Übergangsjahres (1989) zunehmend afrikanisch durchmischt. Die neuen Kollegen belebten das Hospital durch die verschiedenen Sprachen und Ansichten, Temperamente und Expertisen. Da merkte Dr. Ferdinand doch die Unterschiede im Wissensstand, wo die hinzugekommenen Afrikaner den aus dem Exil zurückgekehrten Kollegen weit überlegen waren, die an den Universitäten im Ostblock studiert und dort ihre Examina abgelegt hatten. So war der Übergang vielgestaltig und vielschichtig, brachte Gutes und liess auf eine bessere Zukunft hoffen. Wenn da nicht so viele Minen lägen, die zurückgelassen wurden, und weiter viele Menschenleben kosteten, wäre der Weg ein schöner gewesen, der zu Frieden und Freiheit führte.

Und wenn da nicht soviel geklaut und geplündert würde. Dann hätten die Menschen die Integrität zum Offensein mit dem Anspruch zur >Ebenbildlichkeit< (Jonas) behalten, mit denen sie reif gewesen wären, die hohen Werte von Frieden und Freiheit zu verstehen und verantwortungsvoll zu begreifen. So gab es Licht und Schatten. Das Licht gehörte zur Hoffnung, der Schatten zur Nachdenklichkeit. Das Erste war erstrebenswert, weil es den Anspruch auf die hohen Werte zu erklimmen vermochte, das Zweite war widerwärtig, weil es dem Anspruch entgegenstand, ihm gemein ins "Gesicht" schlug.

Nach den ersten freien Wahlen, dem historischen Novum, die von der UNTAG unter Leitung des UN-Sonderbeauftragten Martti Ahtisaari überwacht und international beobachtet, von der UNO für "frei und fair" erklärt wurden, erzielte die SWAPO (South-West Africa People's Organisation) bei einer Wahlbeteiligung von über 96% 57,32% der Stimmen und damit 41 Sitze der 72 Mitglieder zählenden, verfassungsgebenden Versammlung. Namibia wurde als letztes afrikanisches Land am 21. März 1990 unabhängig und Sam (Shafiishuna Samuel) Nujoma, der am 14. September 1989 nach dreissig Jahren Exil von seinem Swapo-Hauptquartier in Lusaka (Sambia) schwerbewacht über den östlichen Caprivizipfel zurückkehrt war, sein erster Präsident. Die Swapo stellte die Regierungspartei, und die neue Mannschaft griff unverzüglich nach den Hebeln der Macht. Dieses Hebelgreifen mit der schwarzen Hand hatte für das Hospital gleich seine Folgen. Da wurde der schwarze Superintendent auf den Stuhl des weissen Direktors in Zivil gesetzt, der seinen Stuhl ohne grosses Aufsehen räumte.

 

Dr. Witthuhn hatte bis dahin seine Sache gut gemacht. Ihm war es in den kritischen Jahren zu verdanken, dass er das Hospital trotz aller Widrigkeiten und miserablen Zustände für die Menschen in Not offenhielt und es nicht in den Klauen weisser Opportunisten zerquetschen und schliessen liess. Es war seinem Grosseinsatz auch zu verdanken, dass es einen neuen, orthopädischen Operationstisch gab. Da kämpfte er und tat mehr für die schwarzen Menschen als so mancher schwarze Arzt, von denen einer, der damals schon opportunistisch begabt war, auf dem Wege der Beugung war. Der persönliche Einsatz für die Menschen in bitterer Not und das Verdienst, das Hospital für diese Menschen gehalten zu haben, werden unvergessen bleiben, auch wenn es Menschen gibt, die an diese Zeiten nicht mehr denken wollen. Dr. Witthuhn gehört zu den Einzelkämpfern in dieser Zeit, zu den Helden, der sich um die Menschen der schwarzen Haut verdient gemacht hat.

Den Machtwechsel wollte auch er mit einer Zukunftsperspektive begreifen und begriff in seiner Grosszügigkeit, seinem grossen Herzen und seiner musischen Begabung, dass da gleich manches anders kam. Da war er intelligent und tolerant, um zu verstehen, dass zwei Menschen nicht auf einem Stuhl sitzen konnten, zumal wenn der Stuhl gepolstert war und zwei Armlehnen hatte. So verliess er den erhöhten, drehbaren Direktorstuhl mit der hohen Rückenlehne und den gepolsterten Armlehnen, verliess das angenehm klimatisierte Büro und das runtergekommene Hospital, dem er eine gute Besserung wünschte. Ihm wurde kein gebührender Abgang beschert, wie er dem hervorragenden Arzt Dr. David S. gegeben wurde. Das stimmte Dr. Ferdinand traurig, weil es Dr. Witthuhn als abgehender Direktor, dem die weisse Administration nicht hold war, besser verdient hätte. Er verliess das Hospital sang- und klanglos als ein Mann, der integer war, dem, wenn schon nicht ein Zapfenstreich, so doch ein beherzt kehliger, mehrstimmiger Abgesang zugestanden und wohlgetan hätte. "Leon, dein Verdienst nimmt dir keiner weg", dachte Dr. Ferdinand, als er Dr. Witthuhn über den Vorplatz zum Ausfahrtstor begleitete, der ein Arzt mit Herz war und jegliche, opportunistische Anbiederung verabscheute.

Mit der friedlichen Machtübergabe und -übernahme, die nicht ohne Zwischenfälle und Toten verlief, von den Menschen und vielen Kindern abgesehen, die täglich Opfer der zurückgebliebenen Minen waren, war auch der Auftrag der UNTAG erfüllt, der ihr durch die UN-Resolution 435 vorgeschrieben war. Das Schweizer medizinische Corps packte seine Sachen zusammen und machte dem Hospital noch grosszügige Schenkungen. Da waren die sechs Krankenbetten mit Matratzen von bester Qualität, einige verpackte Siebe mit neuen Instrumenten, die so gut wie nicht gebraucht waren, einen Photokopierer und drei manuelle Reiseschreibmaschinen, den grossen Kühlschrank und die Waschmaschine. Von hohem Wert waren die acht, noch zugeklebten, grossen Kartons mit nagelneuen Laken und Bettbezügen aus bestem Leinen. Bei der Verteilung der Bettwäsche dachte Dr. Ferdinand auch an das katholische Missionshospital in Oshikuku, das es vor und während des Übergangs nicht weniger hart getroffen hatte, wo Schwester Gabriele und Schwester Maria Gottfried als Ärzte und die andern Schwestern Grossartiges geleistet hatten. Das sagte er den Matronen, die mit grossen Augen auf die Kartons mit der Bettwäsche schauten. Die Matronen verstanden, dass das Missionshospital Unglaubliches geleistet hatte, verstanden aber weniger, dass das Missionshospital in Anerkennung seiner Leistung an der grosszügigen Spende teilhaben zu lassen. Es wurden Argumente ausgetauscht, in denen die Matronen mit ernsten Gesichtern die Not an Bettwäsche vortrugen und einige Male wiederholten. Schliesslich setzte Dr. Ferdinand seinen Kopf durch, dass drei der acht Kartons nach Oshikuku gingen, wofür sich Schwester Maria Gottfried in einem handgeschriebenen Brief herzlich bedankte. Sie liess in ihrem Brief durchblicken, dass die Bettwäsche zur rechten Zeit kam, da bei der ständigen Überbelegung die Laken und Bezüge des Hospitals verbraucht seien und nicht ausreichten, weshalb die Patienten ihre Bettwäsche mitbrächten. Am Schluss ihres Briefes reichte sie Gottes Segen an den grosszügigen Spender weiter. Es sei hier angemerkt, dass Dr. Ferdinand bei seinen Saalrunden darauf achtete, ob er die Schweizer Laken und Bezüge auch auf den Betten der Patienten fände. Er fand einige und war erstaunt, dass nicht mehr Betten mit dem guten Leinen bezogen waren. Er war noch mehr erstaunt, als nach wenigen Monaten die Schweizer Laken und Bezüge auf den Betten nicht mehr zu finden waren. Da hegte er den dunklen Verdacht, dass die grosszügige Spende mit der ausgezeichneten Leinenqualität engherzig missbraucht und über dunkle Kanäle den Weg durchs Ausfahrtstor genommen hatten. Er wurde den Verdacht nicht los, dass da die Integrität zum Offensein mit dem Anspruch auf die >Ebenbildlichkeit< (Jonas) erneut geschändet wurde.

Auf dem erhöhten Stuhl des Superintendenten sassen in kurzer Folge eine Kollegin, die in Moskau ihre Ausbildung in der Gynäkologie und Gebursthilfe absolvierte, dann ein schwarzer Kollege, der ebenfalls in Moskau studiert und in der Gynäkologie begonnen hatte. Nach den beiden Exilkollegen kam Dr. Naftali, ein nicht mehr junger, schwarzer Kollege, der, wie Dr. Nestor, der neue ärztliche Direktor, seit vielen Jahren eingeschriebenes Mitglied der Swapo war. Dr. Naftali hatte sich durch seinen Fleiss um das evangelisch-lutherische Missionshospital in Onandjokwe verdient gemacht, in dem er über viele Monate der einzige Arzt war, der Tag wie Nacht den Dienst am kranken Menschen versah. Dieses Verdienst konnte ihm keiner nehmen. Er führte die Morgenbesprechungen straff und sachbezogen, aus denen sich was machen liess, wenn nicht das Geld zur praktischen Umsetzung fehlte. Dr. Naftali war der vierte, schwarze Superintendent in der Geschichte des Hospitals, der es dem ersten insofern nachmachte, als er die Sache ernst nahm, sich bei jeder Besprechung Notizen machte, und nicht versprach, was er nicht halten konnte. Darin unterschied er sich jedoch von seinem Vorgänger, dass er sich gleich von Anfang an von den Nacht- und Wochenenddiensten freiwillig ausnahm, sich für private Entbindungen allerdings rufen liess. Da rechnete Dr. Ferdinand die Kameradschaft, sich nicht vom "gewöhnlichen" Dienst freizustellen, dem ersten schwarzen Superintendenten noch nachträglich hoch an. Sicherlich war das zu Zeiten der grössten Not. Aber dennoch, ein Angebot des vierten Superintendenten, am Dienst teilzunehmen, wäre nicht auf taube Ohren gestossen, sondern hätte seine gebührende Resonanz mit dem Eintrag ins Geschichtsbuch des Hospitals nach der Unabhängigkeit Namibias gefunden. Es war unverkennbar, dass die Wertevorstellungen von einst, als die Not unter den Nägeln brannte, sich mit dem Machtwechsel von weiss nach schwarz verschoben hatten. Die hohen Erwartungen von einst, die an das Ethos und den körperlichen Einsatz eines Arztes gestellt wurden, waren nach unten geschraubt, als wäre dieser Einsatz nicht mehr nötig. Doch das Hochhalten des Ethos bedurfte der täglichen Übung mit der Kundgabe des Willens, da nicht nachzulassen, solange es noch kranke Menschen gab. So fasste die Freiheit nach aussen zwar Fuss, aber in den Herzen war sie nicht verstanden. Da wurde die Freiheit fälschlicherweise in eine intellektuelle Gleichung gebracht, wo man dem andern mehr zumutete als sich selbst. Damit nahm die Enttäuschung auf ethisch-moralischer Ebene ihre ersten, fassbaren Formen an, von denen man nur hoffen konnte, dass sie nicht Schule bei den andern machte. Denn so dumm war keiner, dass er es nicht merkte, und so blind fühlte sich keiner, dass er für ein gutes Vorbild keine Augen hätte.

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