Der Weg nach Afrika - Teil4

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Die Statusleute wollten auch diesmal wieder als erste bedient sein. Dafür waren sie früh aufgestanden und nahmen die Reisestrapaze in Kauf, um bis vor die angolanische Grenze zu fahren, wo das Dorf über all die Jahre von der Welt verlassen war. Nicht dass es aus dem Dornröschenschlaf geweckt wurde, dafür war der Krieg zu wild, das Elend zu gross, die Toten ohne Begräbnis (Sartre) zu viel, aber es bekam über Nacht mit dem Eintreffen der UNTAG eine Bedeutung, die die Menschen mit den unterschiedlichen Absichten überraschte. Das Dorf wurde politisch verkehrmässig zu einem Knotenpunkt, wo geknüpft und umgestiegen wurde. Von da gingen nun die Blicke nach Norden weit über die Grenze hinaus, wo die weiter südlich positionierten und einst pretorianisch ausgerichteten Frühaufsteher bereits in Halbachtstellung auf den neuen politischen Sonnenaufgang warteten, ihn eigentlich gar nicht früh genug erwarten konnten. Da gab es jene, denen man es nicht zugetraut hatte, die da bereits in aller Herrgottsfrühe dastanden und warteten, nach Norden schielten, vom Süden nicht mehr sprachen, sich auf die Ankunft der neuen Mannschaft eingestellt hatten und schon das neue Fähnchen zum Winken in der Hand hielten, auch wenn es aus taktischen Gründen noch zusammengerollt war. Was während der Apartheid Pretoria im Süden war, das wurde nun das Dorf Oshakati im Norden, als würde hier die schwarze Mannschaft anlegen, sich als Gladiatoren der Freiheit auf dem Platz vor dem 'International Guesthouse' aufstellen und mit Pauken und Trompeten feiern lassen.

Da wurden die Stühle mit den Schreibtischen umgestellt, um einhundertachtzig Grad gedreht und vor die Nordfenster gerückt, die weit geöffnet wurden, um den Apartheidsmief rauszukriegen und über die Schreibtischplatten den frischen Nordwind wehen und ziehen zu lassen. Es wurde sich nördlich umorientiert, so gut und so schnell es sich machen liess. Damit war für jene Aufsteher der Süden über Nacht abgehakt, bevor die andern kamen, die es ihnen nachmachten, aber den pretorianischen Südblick später aus ihrem Gesicht wischten und sich deshalb, nördlich gesehen, in der Schlange weiter hinten anzustellen hatten. Da stellten sich nun die Weissen in der Reihe an, die von den oberen Etagen vorn, die von den unteren Etagen hinten, wo die Auslese nun schwarz vorgenommen, sie schwarz getroffen wurde. Das Umsteigen im Dorf vom Auto von Windhoek ins Flugzeug nach Lubango zur frühen Kontaktaufnahme mit den zur Macht Greifenden in spe hatte sich für einige gelohnt, ihnen wurde das frühe Aufstehen mit den Reisestrapazen gut vergolten. So schaffte es einer, der mit seiner Frau Dr. Ferdinand in seiner kleinen Wohnstelle besuchte und ihn in ein stundenlanges Gespräch zur Förderung von Informationen über die Lage vor Ort verwickelte, nach vollzogenem Machtwechsel auf den Stuhl eines Ministerstellvertreters.

Die Schwarz-Intellektuellen nahmen das mit der künftigen Postenverteilung aufgrund des Melanozytenreichtums in der Haut gelassener. Sie rechneten sich gleich zu Anfang die besseren Chancen aus. Wenn auch die Bildung sich in den Grenzen des Durchschnittlichen hielt, so kam doch die nötige Einbildung mit der Portion überproportionaler Selbstsicherheit dazu, was beides oft nicht balanciert war, um sich schon auf einem Stuhl in der oberen Etage mit geräuschloser Klimaanlage und Sekretärin, dem hoch dotiertem Gehalt und den Extra-Zulagen, den vielen Annehmlichkeiten und Vergünstigungen sitzen zu sehen. Bei einem sah Dr. Ferdinand die Brust schon schwellen, obwohl es soweit mit dem Stuhl noch gar nicht war. Der kümmerte sich weniger um die Patienten als mehr um sich, fuhr schon auf Kosten der weissen Administration zu "Kongressen" in der Weltgeschichte rum und sorgte dafür, dass sein Name auf die Liste der schwarzen Kandidaten kam, wenn es um die Verteilung der Posten auf Regierungshöhe und darunter ging. Der andere, der die Patienten mehr im Auge behielt, liess sich im Status dadurch aufstocken, dass er sich von der noch weiss geführten 'Academy' den Titel eines Professors umhängen liess, obwohl er weder in Lehre noch Forschung tätig war und auch kein 'Paper' in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht hatte. Da meinte es die 'Academy' gut mit dem ersten schwarzen Professor, deren weiss geführte Gesundheitsfakultät sich etwas dabei gedacht haben musste, wie am besten der Übergang von weiss nach schwarz zu überbrücken ist, wo das Weisse bei der akademischen Postenverteilung unter einem schwarzen Regime nicht vergessen werden sollte. Akademische Verdienste waren dafür nicht erforderlich, als zwischen den Hautfarben mit dem Blick nach vorne jongliert wurde. Da ging es um mehr. Es ging ums Überleben der Weissen in eine schwarze Zukunft hinein. Das wurde vor Toresschluss begriffen und mit pseudoakademischen Weichmitteln hantiert. Man wollte gut sein gegen alle und vergessen machen, dass man so gut gar nicht war.

Das Curriculum musste aufgebessert werden. So wurden Schadstellen geschwärzt, die weisse Geschichte, mit der die Persönlichkeit in der Apartheid gut gefahren war und es dabei zu etwas gebracht hatte, wurde ins Belanglose runtergeschraubt. Ein weicher Übergang ins neue Kapitel der schwarzen Gegenwartskunde und ihrer Geschichtsschreibung musste nahtlos gefunden werden, ohne dass es vorher zu einem Absturz kam. Die akademischen Meriten hielten sich im Allgemeinen ohnehin in bescheidenen Grenzen, wo ein Professor bei der Ausbildung in der Krankenpflege sich auf dem Niveau eines Studienrates bewegte, es eine eigene Forschung mit eigenen Publikationen nicht gab. Das alles war auch nicht so wichtig wie die eigene Haut, die es in die schwarze Welt hinüberzuretten galt. Man konnte und wollte sich weder allgemein noch akademisch vorstellen, dass mit dem Untergang des weissen Regimes die Weissen das Weniger- und die Schwarzen das Mehrsagen hätten. Da wollte man sich noch rechtzeitig in die Erinnerung rufen. Opportunismus hin, Opportunismus her, es war schwer auf den Vorrechtsstatus und das gute Leben im pretorianischen System zu verzichten.

Zu den Leuten der UNTAG entwickelte sich ein gutes Verhältnis, das von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragen wurde. Die Schweizer hatten ihre medizinische Abteilung im Neubau, der für die Psychiatrie vorgesehen war, mit europäischem Standard eingerichtet. Dort war eine kleine Klinik mit fünf Betten, über denen Moskitonetze hingen, mit allem Drum und Dran, die in ihrer Sauberkeit und Ordnung, die schweizerisch waren, vom übrigen Hospital in seinem runtergekommenen Zustand nicht krasser abstechen konnte. Dort gab es drei Ärzte, den Allgemeinarzt, den Chirurgen und den Anästhesisten. Dazu kam der Zahnarzt mit eigenem, voll eingerichtetem Behandlungsraum. Die Schwestern hatten ihre Diplome und Erfahrungen. Da war ein Bildungsstandard, von dem man in Afrika noch träumte. Geleitet wurde die Abteilung von einem Major, der intelligent und freundlich war und die Übersicht hatte. Es gab Fälle, für die sie Dr. Ferdinand riefen, der einige ihrer Patienten operierte, wobei ihm der Schweizer Chirurg assistierte und der Anästhesist die Narkose gab. Da waren Oberarmbrüche, die verplattet, Brüche an Unterarmen, Handgelenken und Unterschenkeln, die gerichtet und eingegipst wurden. Es wurden einige Appendektomien und ein Leistenbruch operiert, die die Schweizer überwiesen. Die Schweizer Gipsbinden waren von hervorragender Qualität und den afrikanischen weit überlegen. Sie brachten mit dünnen Lagen die nötige Festigkeit, für die mit den Gipsbinden des Hospitals dick aufgetragen werden musste. Es entstand eine Freundschaft zu den Kollegen der UNTAG. Man sprach viel und diskutierte miteinander. Man sah der Armut der Menschen gleichermassen ins Gesicht und versuchte, an das Gute im Menschen zu glauben, dem die Einbrüche und Stehlereien im Dorfe grossen Schaden zufügten. Da meinte der malaysische Kollege, dass es Diebstähle auch in seinem Land gäbe, sie hier als ein Übergang in Kauf genommen werden müssten, was die Schweizer Kollegen anders sahen, weil die sich an Diebstähle in der Schweiz nicht erinnerten. Sie meinten, dass das Ausmass der Plünderung und Demolierung, wie sie das Dorf befiel, mit Armut wenig und mit der Freiheit, die am Ende des Übergangs stehen soll, nichts zu tun hat. Das sagten sie, ohne deshalb ihre Schweizer Sonnenbrillen aufzusetzen, weil sie sich sicher waren, dass da noch ein Manko im Verständnis der Zivilisation zurückgeblieben war. Denn das hatten sie in anderen afrikanischen Ländern gesehen, die längst unabhängig waren, dass da die Menschen wie Raben stahlen und mit guten Zureden und milden Strafen nicht vom Stehlen abzubringen waren.

"Dann haben wir ja schlechte Aussichten", meinte Dr. Ferdinand. Die Schweizer verwiesen auf das korrupte Verhalten afrikanischer Präsidenten, die zu den reichsten Männern der Welt zählten, während ihre Völker zu den ärmsten gehörten, die sich nicht ernähren können. Sie erwähnten die Vetternwirtschaft in den Regierungen und die Skrupellosigkeit bei ihrer Selbstbereicherung. "Erst wenn die Politiker und Präsidenten von der Korruption ablassen und das Vorbild der Rechtschaffenheit und Sauberkeit geben, kann die Armut verringert und die Kriminalität ernsthaft und mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden." Sie setzten die Sonnenbrille auf, als sie sagten, dass da Namibia keine Ausnahme machen werde, wenn erstmal die Schwarzen an der Macht sind. So sprachen die Menschen der UN-Friedenstruppe, die den Kontinent besser kannten als Dr. Ferdinand, der sich bei der pessimistischen Bemerkung eine Pontonbrücke über den breiten Sambesi vor Augen hielt, an der die Flachkähne bereits unter Wasser standen, bevor die Menschen das Ufer der Freiheit erreichten. "Die Menschen müssen ehrlich werden, dann begreifen sie auch, dass man mit der Hände Arbeit viel erreichen kann, wenn die Hände die Armut mit den Wurzeln ausrotten, Mais- und Getreidefelder bauen, sich bei der Arbeit gegenseitig achten und unterstützen, als auf den Tag zu warten, der niemals kommt.".Das sagte der Schweizer Anästhesist, und bei Dr. Ferdinand klingelte das Brecht'sche Wort vom 'Sanktnimmerleinstag' im ‘guten Menschen von Sezuan’ im Ohr.

 

Rückkehr der Namibier aus dem Exil

Ein erstaunliches Begleitphänomen war die Rückkehr der Namibier aus dem Exil, die vom Juli des Jahres 1989 an zu einem regelrechten Rückstrom anschwoll. Da errichteten die australischen Blaumützen Aufnahmelager für die rückkehrenden Flüchtlinge in Ongwediva, etwa fünf Kilometer östlich von Oshakati, in Oshikuku, vor der katholischen Mission, auf dem Missionsgelände in Döbra bei Windhoek und anderswo. Dort entstanden Dörfer aus Zelten und gemauerten Waschräumen, Toiletten und einer Gemeinschaftsküche. Die Dörfer waren hoch eingezäunt und wurden durch australische Blauhelme vor Übergriffen von aussen gesichert. Es gab ein Scharmützel vor dem Lager in Oshikuku, als die Koevoet mit ihren 'Casspirs' versuchte, ins Lager einzudringen und die Exilanten zu durchsuchen. Die Australier wehrten das Eindringen mit Waffengewalt ab. Mit den Exilanten kamen auch die Ärzte zurück, die über die Swapo in den Ostblockländern, den skandinavischen Ländern und auf Kuba Medizin studiert und die ersten Schritte im klinischen Handwerk gelernt hatten. Die älteren von ihnen betreuten die PLAN-Kämpfer in Sambia und Angola, und einige standen ihnen mit der Waffe zur Seite. Sie kamen bis ins Büro des Superintendenten, der sie natürlich als Brüder und Schwestern im Kampf um die namibische Unabhängigkeit umarmte. Oft rief er Dr. Ferdinand hinzu, um ihm die ärztlichen Freiheitskämpfer mit brüderlichem Stolz vorzustellen. Da wurde nicht mehr afrikaans gesprochen, und weil das Englische stolperig war oder ganz haperte, kamen sie mit russisch, deutsch im sächsischen Dialekt, bulgarisch, rumänisch, polnisch, finnisch, schwedisch oder spanisch. Sie kamen mit Allerweltssprachen, die das einst am Ende der Welt gelegene Hospital in ein Sprachendurcheinander brachten, an dem einst Afrikaans die offizielle Sprache und nun eine kosmopolitische Sprachennote zuzusprechen war. Da bedrückte es Dr. Ferdinand, dass er da mit seinem Schulrussisch aus den Jahren 1945 bis 1951 nicht mithalten konnte. Das galt auch den lückenhaften Spanischkenntnissen, aber nicht für die anderen Sprachen, weil er die weder in der Schule unterrichtet bekam noch sich für diese Sprachen an der Volkshochschule eingeschrieben hatte.

Es fiel ihm bei der Vorstellung durch den Superintendenten und den anschliessenden Gesprächen auf, dass diese Intellektuellen lieber zuhörten als sprechen wollten. Freundlich waren sie und lächelten auch. Ob sie alles verstanden, was in englisch über die Medizin im Allgemeinen und die Medizin am Hospital im Besonderen gesprochen wurde, das war ihm nicht immer klar. Es lohnte sich weniger, ans medizinisch Eingemachte zu gehen, wie es die Engländer und Amerkaner tun, und nun auch die Schweizer taten, weil da in oft erschütternder Weise nicht viel kam, was hätte kommen müssen. Einige gaben dafür die fehlenden englischen Sprachkenntnisse an, andere sagten gar nichts und liessen die Frage mit dem Gesicht der grössten Selbstverständlichkeit offen im Raume stehn und an der Wand runterrutschen. Da gab es Unebenheiten, die nachdenklich machten in der Vorstellung, dass solche Ärzte, die es sicher schwer hatten, mit mangelhaften Sachkenntnissen ans Krankenbett der Patienten treten, die es nicht leichter haben. Von der Zahl her wurde die Ärzteschaft am Hospital erheblich aufgestockt, von der Qualität her blieb allerdings manches zu wünschen übrig. Da mussten Wissenslöcher ebenso gestopft wie technische Ungeschicklichkeiten geglättet werden. Der Wille aber, und das war das Entscheidende, am Patienten zu arbeiten, der war gegeben, dass man da nicht negativ sehen sollte, wenn es am Anfang Dinge gab, die nicht gewusst, und es technische Probleme gab, die nicht gemeistert wurden. So hatte die Übergangsperiode viele Facetten, die beachtet werden mussten, weil sie einerseits den Weg in ein freies Namibia säumten und andererseits einen vor den Kopf schlugen, wenn man gewisse Begleitumstände nicht begreifen konnte wie das Übel mit der ständigen Stehlerei. Doch gab sich Dr. Ferdinand selbst zu, dass er das Bild mit der Pontonbrücke über den Sambesi mit den unter Wasser stehenden Flachkähnen nicht aus den Augen bekam.

Es war an einem Donnerstag gegen ein Uhr mittags. Dr. Ferdinand fühlte sich durch einen fieberhaften Infekt geschwächt unf wollte statt Mittagessen im Speiseraum eine kurze Mittagsruhe in seiner Wohnstelle einlegen. Da klingelte das Telefon schon, als er sich die Sandalen in der Veranda abstreifte. Ein Verletzter war gebracht worden, dem eine Handgranate das rechte Bein abgerissen hatte und massiv aus dem Stumpf blutete. Er liess alles stehn und liegen, schlüpfte in die Sandalen zurück, ohne sie zuzuschnallen, und eilte mit dem Auto zum Hospital. Der Verletzte lag auf dem Tisch im kleinen Op-Raum des 'Outpatient departments' und schrie vor Schmerzen. Auf dem Boden hatte sich eine grosse Blutlache angesammelt. Dr. Nestor, der Superintendent, war blutverschmiert, der auf den Beinstumpf mit grossen Kompressen drückte, die blutdurchtränkt tropften. Der kleine Op war von Ärzten und Sehwestern gefüllt, in dem sich die Bullenhitze staute, dass man sich kaum bewegen und nur schwer atmen konnte. Die Begleitumstände waren die miesesten, die es gab, als Dr. Ferdinand die klitschnassen Kompressen übernahm, auf den Boden warf und neue aufdrückte, und Dr. Nestor dem Verletzten die Maske für die Narkose aufs Gesicht drückte. Es gab zu wenig Klemmen für die blutenden Gefässe. Zwei Schwestern rannten und brachten zwei verpackte Nierenschalen mit den wenigen Instrumenten. Sie öffneten sie in grösster Eile. So klemmte Dr. Ferdinand die grossen, dann die kleinen Gefässe am Beinstumpf ab, unterband sie, die grossen Gefässe doppelt, kürzte die heraushängenden Nervenschnüre weit zurück, schnitt das Verschmorte aus den herumhängenden Muskel- und Hautfetzen heraus, begradigte die Ränder nicht ohne Stufen, brach die spitzen Zacken vom Knochenstumpf weg, feilte ihn glatt und nähte über ihm die bizarren Lefzen des Weichteils zusammen.

Der Beinstumpf war kurz und das Anwickeln des Verbandes schwierig, der mit dicken Pflastersteifen am Körper befestigt wurde. Es sah aus wie auf einem Schlachtfeld, als die Operation beendet war. Dr. Ferdinand war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Er sah wie ein Schlächter, nicht aber wie ein Chirurg aus, dem das blutige Operieren ein Horror war. Während er versuchte, sich das Gröbste mit einem nassen Tuch aus Hemd und Hose zu wischen, erfuhr er, was passiert war. Es war gleich hinter dem Hospital auf dem Weg zum Postamt, als die Koevoet versuchte, in das Haus eines 'Architekten' zu dringen, in dem sie versteckte Swapokämpfer vermutete. Da wurde aus dem Haus geschossen, es traf einen Koevoetmann in den Arm. Ein anderer, der sich unter dem Fenster gebückt hielt, warf daraufhin mit über den Kopf erhobenem Arm eine Handgranate durchs Fenster in den Raum. Es gab eine gewaltige Explosion. Türen und Fenster zersplitterten, die Asbestplatten rissen aus der Decke, das Wellblechdach darüber wurde fünfzig Meter weiter auf die Strasse geschleudert. Die explodierende Granate riss dem Verletzten das rechte Bein ab. Zwei andere im Raum waren auf der Stelle tot. Es waren Begleitumstände, wie sie schlimmer nicht sein konnten, die den Weg des Übergangs in die Freiheit säumten.

Dr. Ferdinand fuhr verdreckt zur Wohnstelle zurück, warf die blutigen Klamotten in die halbautomatische Waschmaschine, wo er sie im Wasser, das sonnenerhitzt aus der Leitung kam, liegen liess, stellte sich unter die Brause, um das Blut aus Gesicht und Haaren, von den Armen und Füssen zu waschen, rieb sich kräftig mit dem Handtuch trocken, zog sich frische Sachen an und ging zum Hospital zurück. Er kam verspätet in den Untersuchungsraum 4, um dem philippinischen Kollegen bei der Durchsicht der Patienten zu helfen, die sich auf den Bänken stauten. Auf den Schemel setzte sich der dreizehnjährige Junge, dem er vor einem Monat den rechten Oberarm und linken Unterarm abgeschnitten und die Wunden im Gesicht und am Körper versorgt hatte. Die Verletzungen trafen ihn, als er der Mutter bei der Feldarbeit half und da etwas aufhob, das in seinen Händen explodierte. Es war die Ausnahme, das wusste der Junge genauso gut wie Dr. Ferdinand, dass er da mit dem Leben davongekommen war. Die Weichteildecke über den Stümpfen war verheilt, doch das Handlose auf der einen Seite und das Armlose auf der andern Seite, das musste mit dem Leben ausgetragen werden, das die Explosion noch überlebt hatte. Der Junge war intelligent und einsichtig genug, um das mit seinem vernarbten Gesicht und dem angerissenen Ohr auf der linken Seite zu verstehen. Er stand auf, stellte sich links von seiner unglücklichen Mutter, der Dr. Ferdinand den Gesundheitspass überreichte, in den er die Schmerztabletten und das Datum für die nächste Nachuntersuchung eingetragen hatte.

Während er die Tabletten und das Datum in den Pass eintrug, kamen ihm die Kinder in den Sinn, denen er die Arme und Beine abgeschnitten hatte, weil sie die hochgehende Mine überlebten. Er hatte diese Kinder nicht gezählt, doch waren es viele, vielleicht hundert, die das Hand-, Arm- und Beinlose aus demselben Grund mit ihrem Leben auszutragen hatten wie dieser Junge, der links neben seiner Mutter stand. Sie verliessen den Untersuchungsraum, indem ihm die Mutter die Pendeltür öffnete, offenhielt und hinter ihm wieder zuschob. Das Leben fragte eben nicht danach, ob einer noch zwei Hände, oder zumindest eine Hand hatte, um die Tür zu öffnen und wieder zu schliessen. Da waren die Hände anderer Menschen auf Lebenszeit gefordert.

Die alte Frau auf dem Schemel hatte es mit der rechten Hüfte und beiden Knien. Die Röntgenbilder wiesen den Gelenkverschleiss deutlich aus. Da es sich um eine Patientin mit den leeren Händen handelte, die sich das Private einer Hüftprothese nicht leisten konnte, punktierte ihr Dr. Ferdinand die Ergüsse aus beiden Kniegelenken ab, trug die Tabletten gegen Entzündung und Schmerz in ihren abgegriffenen Gesundheitspass ein. Er erklärte ihr, dass sie damit leben müsse, weil da nichts mehr zu machen sei. Die alte Frau richtete sich an ihrem Stock hoch, nahm den Pass in die eine Hand und humpelte mit dem Stock in der andern Hand aus dem Untersuchungsraum, ohne ihren Kopf seitwärts zu drehen. Das machten ihr an diesem Nachmittag andere alte Frauen und Männer nach, die sich mit der Bemerkung eines Arztes geschlagen gaben, dass sie mit den verschlissenen Gelenken zu leben hätten, die ihnen schmerzten und sie bei der Verrichtung der notwendigsten Arbeiten behinderten. Auch sie drehten die alten Köpfe mit den zersorgten Gesichtern nicht mehr zur Seite, als sie den Untersuchungsraum enttäuscht verliessen und dem Arzt das Vertrauen entzogen, dem sie mehr zugetraut und mehr von ihm erwartet hatten. Es war das leere Los, wenn die Hände leer waren, in denen sich die Falten zwischen den Schwielen der Arbeit und Armut tief eingekerbt hatten.

Auf den Schemel setzte sich ein Mann, der sich angeblich selbst durch die linke Hand geschossen hatte. Wie er das geschaftt hatte, konnte er nicht recht sagen, weil er es nicht sagen wollte. Das Röntgenbild zeigte den dritten und vierten Mittelhandknochen zertrümmert. Da ging er mit dem Mann zum kleinen Op-Raum, der mittlerweile gesäubert war, setzte ihm die örtliche Betäubung in die durchschossene Hand,, säuberte sie, schnitt die Ränder der Ausschusswunde aus und vernähte die Haut über der Hohlhand und dem Handrücken. Die Schwester gab ihm die Spritze gegen den Wundstarrkrampf, während ihm Hand und Handgelenk auf einer beugeseitig angelegten Gipsschiene ruhiggestellt wurde. Nun wurde auf der Trage ein junger Mann in den Untersuchungsraum gefahren, den Schwester Maria Gottfried vom katholischen Missionshospital in Oshikuku überwies, dem die Koevoet in den rechten Oberschenkel geschossen und den unteren Knochenschaft bis oberhalb der Gelenkknorren zerschossen hatte. Das würde es nicht ohne Beinverkürzung abgehen, so sagte es Dr. Ferdinand dem Mann, der mit der Operation einverstanden war, wenn er nur wieder laufen könne. Er wurde stationär aufgenommen und seine Name auf die Op-Liste gesetzt.

Der jungen Frau auf dem Schemel war das rechte Gesicht geschwollen und der linke Unterarm gebrochen. Ihr Mann hatte sie verprügelt und mit einem Stock auf den Unterarm geschlagen. Das waren Dinge, was sich die Frauen hier gefallen liessen, besonders wenn sie Kinder hatten, was in den meisten Fällen zutraf, damit der Mann und Vater als Brotgeber die Familie nicht verliess und ganz im Stich liess, der dann mit einer andern Frau woanders zusammenlebte und sie auch gleich schwängerte. Das war ein Schicksal, das so viele Frauen und Mütter mit ihren Kindern ungerecht traf. Dr. Ferdinand ging mit dieser Frau in den Gipsraum, wo er sie auf die Liege legen liess, ihr die Betäubungsspritze in den Bruchspalt setzte, die Unterarmknochen richtete und den Arm in einem gepolstertem Rundgips ruhigstellte, der von der Hand bis zum Oberarm reichte. Er schrieb ihr die Schmerztabletten und das Datum der Nachuntersuchung in den Gesundheitspass, mit dem sie den Gipsraum verliess.

 

Das neunjährige Mädchen auf dem Schemel war beim Wassertragen in eine Scherbe getreten. Es wickelte das umgebundene Tuch vom linken Fuss und hielt ihn Dr. Ferdinand entgegen. Unter der Schnittwunde steckte noch ein Scherbenstück, das er ihr im kleinen Op in örtlicher Betäubung entfernte und nach Säuberung der Fusssohle mit der braunen Lösung die Wunde vernähte. Die Schwester gab die Tetanusspritze, und das Mädchen sagte keinen Mucks.

Der alte Mann wurde vom Sohn geführt, weil ihm der graue Star auf die Augen geschlagen war. Der Sohn schob ihm den Schemel unter, und der Alte legte die rechte Hand mit dem gebrochenen Handgelenk auf den Tisch. Da ging es wieder in den Gipsraum, wo dem Alten das Gelenk gerichtet und der Unterarm eingegipst wurde. Der Sohn fasste den Vater am Arm und hielt den Pass in der anderen Hand, als sie den Gipsraum verliessen und zur Theke im grossen Wartesaal gingen, wo ihnen die Schwester das Tütchen mit den Schmerztabletten aushändigen würde.

Die Mutter brachte ihr nun viereinhalbjähriges Töchterchen zur Nachuntersuchung, dem er, als es drei Jahre alt war, den langen, rechten Daumen verkürzte, aus einem dreigliedrigen Daumen den zweigliedrigen machte. Die Mutter war glücklich, und das Mädchen lächelte Dr. Ferdinand an, dass er es fertigbrachte, einen Daumen menschengerecht zu machen. Das Mädchen nahm den Daumen in volle Funktion und zeigte, wie geschickt es den Kugelschreiber von Dr. Ferdinand zwischen Daumen und Zeigefinger halten konnte. Beim Herausgehen drehten Mutter und Töchterchen vor der Tür ihre Köpfe noch einmal zurück, um mit den Augen dem Arzt für seine Arbeit zu danken, wobei ihm das Töchterchen noch einmal zulächelte.

Auch kam der alte Mann, dem er vor über einem Jahr das geschwürig zerfallene Hautkarzinom aus dem rechten Oberschenkel geschnitten und den grossen Hautdefekt mit einem freien Transplantat vom linken Oberschenkel gedeckt hatte. Er war zufrieden und brachte als Dank einen selbst gefertigten Krückstock mit ausgewirktem Knauf, den er Dr. Ferdinand wortlos überreichte. Die grossen Gesten der einfachen Menschen ergriffen ihn jedes Mal aufs Neue. Er dankte dem Alten und hielt den Stock in der Hand, als der Patient mit dem andern Stock den Untersuchungsraum verliess und hinter der Tür verschwand. Er legte den Stock auf die linke Seite des Tisches und blickte jedesmal auf ihn, wenn er eine Untersuchung abgeschlossen hatte oder aus dem Gipsraum wieder zurückkam. Da erinnerte er sich an den Gitarrenbauer aus dem Taunus, der ihm eine Gitarre brachte, nachdem er seinen gebrochenen Oberschenkel verplattet hatte. Dieser Patient war glücklich, dass er bald danach so gehen konnte, als sei da nichts gebrochen gewesen. Menschen, die sich fürs Dankesagen noch etwas Persönliches einfallen liessen, gab es hier wie dort.

Die Dämmerung war angebrochen, als Dr. Ferdinand sich auf den Rückweg zur Wohnstelle machte. Er hatte noch kurz nach den Patienten geschaut, die am Tage operiert wurden, und einiges auf den Verlaufsbögen nachgetragen. Auf dem Vorplatz blickte er zur Rezeption zurück, wo sich nun keine Menschen mehr mit ausgelegten Pappen, Zeitungspapier, Decken und Tüchern auf dem Betonboden für die Nacht einrichteten, da mit dem Kommen der UNTAG die nächtliche Sperrstunde aufgehoben war, es auch keine Koevoetkontrollen in den Krankensälen und auf dem Hospitalgelände mehr gab. Er ging den kürzeren Weg zwischen dem ausgerollten Stacheldraht und den stehenden Resten des zerfledderten Lattenzauns entlang, an den fünf, hochgestelzten Blockhäusern vorbei, die weiterhin leerstanden, an denen einige Fenster eingeschlagen waren. Er hob die Füsse über die abgebrochenen Baumäste, die weiterhin quer über dem Weg lagen, um sich nicht die Zehen an ihnen aufzureissen, wie er es in der Dunkelheit einige Male tat, bevor die UNTAG kam. Am Dorfeingang passierte er das verwaiste Kontrollhäuschen neben dem das Warnschild 'For Whites Only', obwohl die Schwarzen den freien Zugang zum Dorf hatten und sich ungebührlich den freien Zugang zu den leerstehenden Häusern durch Aufbrechen der Türen und Einschlagen der Fenster nahmen, um sie von innen bis aufs Mauerwerk auszuräumen. Dabei blieben auch die bewohnten Häuser nicht verschont, wenn die Bewohner bei der Arbeit waren oder zu tief schliefen. Es waren jene neuen, negativen Begleitumstände, die mit dem Übergang einsetzten, eigentlich nicht erwartet wurden und im Ausmass, wie da geplündert und ausgeräumt wurde, schockierten. Er streifte sich die Sandalen in der Veranda ab, durchging den Wohnraum und das Schlafzimmer, ob da noch alles so stand, wie er es verlassen hatte, bevor er sich das Gefühl zu eigen machte, dass es sein 'zu Hause' war. Er setzte den verbeulten Wasserkessel auf die Gasflamme, goss das kochende Wasser über den Teebeutel vom 'rooibos'-Geschmack in die Tasse, rührte zwei Teelöffel Zucker ein und setzte sich mit der Tasse auf die Stufe vor der Veranda. Dazu zündete er sich eine Zigarette an und blickte in den aufkommenden Sternenhimmel, der ihm allabendlich zum Finden der Ruhe verhalf:

Sterne, Sterne, kommt herunter, kommt herunter, seht's euch an, da gibt's an allen Ecken was zu sehn, ich zeig es euch, wenn ihr nur kommt.

Sterne, Sterne, ihr geht weiter, wollt ihr an den Ecken es nicht sehn, was hier im Dunkeln vor sich geht? Ihr würdet es nicht glauben!

Sterne, Sterne, dann macht doch, was ihr wollt, euer Funkeln, das genügt hier nicht, hier wird geklaut, dass die Fetzen fliegen, die Fenster halten's nicht mehr aus, und die Türen krachen. Sterne, Sterne!

Freiheit, die ich meine, gegen Freiheit, wie sie's verstehn.

Vor dem 'International Guesthouse' war es totenstill. Auch das hing mit dem Übergang zusammen. Da wollte man sich verdecken und nicht das Geld noch falsch vertun. Er setzte sich ins Wohnzimmer zurück, dachte nach, wie schwer es der Übergang mit der Freiheit oder die Freiheit mit dem Übergang hat, wenn schon im Normalgang die Freiheit nicht ohne Probleme ist. Er knipste das Licht an und blätterte im ‘Das Prinzip Verantwortung’ (Hans Jonas, Suhrkamp Taschenbuch 1085). Da geht es auf Seite 392/93 "Um die Hütung des >Ebenbildes<": "Auch Ehrfurcht und Schaudern sind wieder zu lernen, dass sie uns vor Irrwegen unserer Macht schützen (zum Beispiel vor Experimenten mit der menschlichen Konstitution). Das Paradoxe unserer Lage besteht darin, dass wir die verlorene Ehrfurcht vom Schaudern, das Positive vom vorgestellten Negativen zurückgewinnen müssen: die Ehrfurcht für das, was der Mensch war und ist, aus dem Zurückschaudern vor dem, was er werden könnte und uns als diese Möglichkeit aus der vorgedachten Zukunft anstarrt. Die Ehrfurcht allein, indem sie uns ein >Heiliges<, das heisst unter keinen Umständen zu Verletzendes enthüllt (und das ist auch ohne positive Religion dem Auge erscheinbar) wird uns auch davor schützen, um der Zukunft willen die Gegenwart zu schänden, jene um den Preis dieser kaufen zu wollen. So wenig wie die Hoffnung darf auch die Furcht dazu verführen, den eigentlichen Zweck – das Gedeihen des Menschen in unverkümmerter Menschlichkeit – auf später zu verschieben und inzwischen eben diesen Zweck durch die Mittel zuschanden zu machen. Solches würden Mittel tun, die den Menschen ihrer eigenen Zeit nicht respektieren. Ein degradiertes Erbe wird die Erben mit degradieren. Die Hütung des Erbes in seinem >ebenbildlichen< Ansinnen, also negativ auch Behütung vor Degradation, ist Sache jeden Augenblicks; keine Pause darin zu verstatten die beste Garantie der Dauer: sie ist, wenn nicht die Zusicherung, gewiss die Vorbedingung auch künftiger Integrität des >Ebenbildes<. Seine Integrität aber ist nichts anderes als das Offensein für den immer ungeheuerlichen und zu Demut stimmenden Anspruch an seinen immer unzulänglichen Träger. Dies durch die Fährnisse der Zeiten, ja, gegen das eigene Tun des Menschen heil zu erhalten, ist nicht ein utopisches, doch ein garnicht so bescheidenes Ziel der Verantwortung für die Zukunft des Menschen." (aus: "Die negative Folie des Traumes, oder von der Vorläufigkeit aller bisherigen Geschichte. III. Von der Kritik der Utopie zur Ethik der Verantwortung")