Der Weg nach Afrika - Teil4

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Dr. Ferdinand und sein philippinischer Kollege hatten ihre Stühle im Untersuchungsraum 4 eingenommen und begannen mit der Durchsicht der Patienten, die aus den umliegenden Kliniken geschickt und aus den weiter entfernten Hospitälern mit Fahrzeugen gebracht wurden. Ein Mann setzte einen achtjährigen Jungen auf den Schemel, dem beim Sturz vom Baum der rechte Unterschenkel gebrochen war. Da ein Röntgen ohne Strom nicht möglich war, ging Dr. Ferdinand mit den beiden in den Gipsraum, gab dem Jungen auf der Liege die Spritze für die Kurznarkose ins Gesäss und richtete die Fraktur nach klinischem Ermessen und Augenmass ein. Der Mann, der nicht der Vater des Jungen war, zog den Grosszeh des Fusses nach oben. Er sagte nichts, als er beim Anlegen des Gispverbandes einige Spritzer abbekam. Nach dem Manöver der Fraktureinrichtung und dem Gipsen waren beide Beine gleich lang, und die Grosszehen schauten gleichermassen nach oben. Dr. Ferdinand trug die Schmerztabletten in den Gesundheitspass ein, den er dem Mann zwischen den rechten Daumen und Zeigefinger schob, der den aufgewachten Jungen in den Armen hielt. Er sollte zur Röntgenkontrolle nach einigen Tagen wiederkommen, wenn es den Strom dafür gab. Da sass nun eine alte Frau auf dem Schemel, die sich den linken Unterarm nach einem Sturz gebrochen und das Gesicht geschürft hatte. Sie bekam die ambulante Behandlung ohne Röntgenbild und bedankte sich, als sie mit dem Gipsverband, der von der Hand bis zum Oberarm reichte, den Gipsraum verliess und den verknitterten Pass, auf dem der Name abgegriffen war, mit dem Eintrag der Schmerztabletten in der rechten Hand hielt. Der junge Mann hatte sich bei einem Schlag gegen den Bolzen den linken Ellenbogen verrenkt. Eine Fraktur war nicht zu tasten. So brachte Dr. Ferdinand den Ellenbogen ins Gelenk zurück und stellte ihn mit einem Gipsverband ruhig. Auch ihm wurde aufgegeben, zur Röntgenkontrolle zu erscheinen, wenn es der Strom wieder tat. Es waren noch andere Patienten mit Knochenbrüchen, die ohne Röntgenbild behandelt werden mussten. Dazwischen wurden Wunden gesäubert und genäht. Die steril in Nierenschalen verpackten Instrumente waren zwischenzeitlich ausgegangen, dass sie gesäubert und in eine Desinfektionslösung gelegt wurden, um sie weiter zu gebrauchen. So machte es der philippinische Kollege auch, denn eine Dampfsterilisation gab es ohne Strom auch nicht. So wurde an allen Ecken improvisiert, um unter den kriegsbedingten Umständen den Menschen zu helfen, soweit es eben ging.

Es war Mittagspause, und der Kollege ging pünktlich nach Hause, um seine Familie zu sehen, an die er während des Granateneinschlags dachte, als die Wände im halbdunklen Teeraum zitterten und er sprachlos Dr. Lizette anschaute, als sie mit ernstem Gesicht ihr "ag nee!" lauter wiederholte, das sie beim Aufheulen der Sirenen über dem Dorfe das erste Mal leiser sagte, und nun bedenklich hinzufügte: "Wenn jetzt Verletzte kommen, können wir nichts machen." Dr. Ferdinand bemerkte es und versuchte ihn zu beruhigen, als er sagte, dass da wohl nichts passiert sei, weil die Detonation so nah auch nicht war. Sie gingen ein kurzes Stück zusammen. Dem Kollegen war die Sorge auf dem Gesicht abzulesen, als er den Weg nach Hause antrat. Dr. Ferdinand ging zum Speiseraum, um zu sehen, ob es da etwas zu essen gab. Der Wärter im weissen Dress in der Teeküche stand hinter der Durchreiche und gab jedem zwei gekochte Eier auf den Teller, wozu der Gasherd gut war. Jeder konnte sich die Scheiben des geschmacklosen Brotes selbst nehmen. Zu trinken gab es Tee, für den das Wasser in einem grossen Topf auf der anderen Gasflamme kochte. So schlecht war es also nicht, es gab zu essen und zu trinken.

Dr. Ferdinand dachte beim Kappen des ersten Eis an die Patienten, wie die wohl über die stromlose Runde mit dem Essen kämen. Da halfen die Angehörigen aus, wenn Frauen und Mütter den Papp von zu Hause brachten. Die Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft der einfachen Menschen waren sprichwörtlich und afrikanisch angeboren. Die Menschen bekamen diese Situation ohne unnötige Wort schnell in den Griff. Sie zeigten die Grösse in der Not und liessen keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Leben weitergehen musste. Er sass noch eine Weile allein am runden Tisch, goss sich die zweite Tasse Tee ein und steckte sich eine Zigarette an. Er blickte durch die offenstehende Glastür über den kleinen, sandigen Platz zum Flachbau mit den kleinen Wohnstellen und den ockerfarbenen Asbestwänden und versuchte sich die Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland vorzustellen. Da musste er bis in die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre zurückgehen, wo es das auch gegeben hatte. Doch mit dem sogenannten Wirtschaftswunder waren diese Tugenden verkümmert. Der Gnom, der da zurückgeblieben war und sich nur vereinzelt und oft naseweiserisch blicken liess, konnte hier dem afrikanischen Riesen die Hand nicht reichen. Das Besitzdenken dort oberhalb des Äquators hatte die Menschen innerlich arm gemacht. Das Nordsüdgefälle galt für den äusseren Besitz, nicht aber für den inneren Verlust, wenn man bezüglich der inneren Werte eher von einem Nordsüdanstieg oder Südnordgefälle sprechen müsste. Er drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, als der Wärter "ha!" rief und mit dem Zeigefinger auf den Kühlschrank wies, dessen Maschine wieder brummte. Er kam in den Speiseraum, um dort das Licht an- und wieder auszuknipsen. Er rief erfreut: "Kyk, nou he ons weer lig!" (schau, jetzt haben wir wieder Licht) und knipste zur Bestätigung den Lichtschalter wieder an und aus. So kehrte nach drei Tagen der Strom ins Hospital zurück, was für die Arbeit von grösster Bedeutung war. Dr. Ferdinand verliess den Speiseraum und ging mit dem Gefühl der Erleichterung zum 'Outpatient department' zurück, um dort die Arbeit an den Patienten fortzusetzen, die da geduldig auf den Bänken vor dem Untersuchungsraum 4 sassen und darauf warteten, gesehen zu werden.

Der philippinische Kollege kam mit entspanntem Gesicht zurück, weil sein Haus noch stand und die hausgemachte Kost in der Vollzähligkeit der Familie besonders gut geschmeckt hat. Er lächelte, als er seinen Stuhl am Tisch einnahm und mit der Arbeit begann. Die Arbeit wurde mit Elan getan, da hatte der Stromanschluss und das heile Haus des Kollegen die Gemüter belebt. Knochenbrüche wurden gerichtet, Fremdkörper entfernt, Abszesse gespalten; es wurde gegipst, genäht und wieder gegipst. Es lief wie am Schnürchen. Da brachte der Kollege ein ausgekugeltes Schultergelenk ohne Schwierigkeit in Ordnung, weil er den zweiten Handgriff der Kocher'schen Methode mit der Auswärtsdrehung und dem Anheben des angelegten, im Ellenbogen rechtwinklig gebeugten Armes bis zur frontalen Ebene beherrschte. Es machte dem Elan nichts aus, dass es mehr Patienten waren, von denen der letzte erst mit Eintritt der Dämmerung den Gipsraum verliess. Die Nachtschwester hatte seit über einer Stunde die Tagschwester abgelöst. Sie schob die Formulare auf dem Tisch zusammen und stapelte die Tüten mit den Röntgenbildern vom Nachmittag auf einen Stoss. Die Doktoren kratzten sich den Gips von den Fingernägeln und Hosen, wuschen die Hände und schlugen sie zum Trocknen durch die warme Luft. Es war ein erfolgreicher Montagnachmittag, an dem der Strom das Hospital wieder zum Leben erweckte. Sie wünschten einander eine ruhige Nacht. Der Kollege ging entspannt nach Hause zurück, und Dr. Ferdinand schaute noch einmal kurz in die Säle.

Die Nachtschwestern waren erleichtert, dass sie aufs Kerzenlicht nicht angewiesen waren, wie in den drei Nächten davor. Das Licht von der Decke machte ihnen Mut, die Nacht leichter durchzustehen. Beim Überqueren des Vorplatzes schaute er nach den Menschen, die auf dem Betonboden vor der Rezeption sassen, aus Blechschüsseln löffelten und Näpfen tranken, alte Frauen an Stummelpfeifen pafften, alte Männer an ihren krummen Stöcken rauf und runter griffen, und Mütter ihre Kinder stillten und in Tücher wickelten. Der Pförtner an der Ausfahrt schob hinter ihm das Tor zu und gab ihm den Nachtgruss durchs Gitter. Dr. Ferdinand nahm den kürzeren Weg zwischen Stacheldraht und zerfleddertem Lattenzaun, ging an den fünf hochgestelzten Blockhäusern vorbei, die leer standen, wo an einigen die Holzstiegen mit den fünf Trittbrettern schon fehlten. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verabschiedet und zog das letzte Feuerrot aus dem Himmel zurück, als er das zerknitterte 'Permit'-Papier dem Wachhabenden an der Kontrollschranke vorhielt, der es sich ansah, obwohl er nichts sehen konnte und seine Taschenlampe in der Tasche stecken liess. Die streunenden Hunde waren wieder da, die mit waagerecht gehaltenen Schwänzen auf ihn zukamen, im Geradeausblick an ihm vorbeiliefen oder mit eingeklemmten Schwänzen vor ihm wegliefen. Die Fünferkolonne der 'Elands' mit den langen Rohren nahm die Linkskurve Richtung Dorfausgang, als er das Tor zuschob und den Riegel ins Schloss fallen liess. Die Sandalen mit den verschwitzten Korksohlen blieben in der Veranda. Er rieb den Schweiss von den Fusssohlen in den Sand und den Sand auf der Stufe ab, zog sich das klebrige Hemd vom Körper und machte sich in der Küche einen Rotbuschtee, den die Afrikaner 'rooibos' nennen. Mit Tee und Zigarette setzte er sich auf die Eingangsstufe und schaute dem Abend ins Gesicht.

Der zunehmende Halbmond stand schief am Himmel, nahm seinen Weg und schwieg sich aus, wie es die Sterne über ihm taten. Warum Mond und Sterne schwiegen, blieb ihm ein Rätsel, wo es soviel zu erzählen gab. Da knatterte in der Ferne ein MG, als wäre das des Rätsels Lösung. Er sah in das helle Halb des Mondes und ein Gnomengesicht, das ihn verlachte, weil er so naiv war, den Nachthimmel zum Sprechen zu bringen, wo es doch soviel mehr zu sehen gab. Ihn zu fragen, was am Tage auf der Erde ablief, das war absurd. So etwas Kleines fragt man nicht den Grossen. Er liess das Fragen sein und fuhr mit den Augen die Sternbilder ab, ob da etwas zu sehen war, was er noch nicht gesehen hatte. Die Lehre war, dass er jedesmal etwas Neues sehen konnte, wenn er die Augen nur weit genug aufmachte.

 

Drei Wochen waren fast vergangen, als die Zweierdelegation aus ärztlichem Direktor und dem Superintendenten aus Deutschland zurückkehrte. Sie kamen eine Woche früher als geplant zurück, weil sie vom schwarzen Freitag mit den vielen Toten und Schwerverletzten und dem Zwischenfall mit dem Stromausfall erfahren hatten, als sie Dagmar, die deutsche Studentin, die hier ihr dreimonatiges, klinisches Praktikum abgeleistet hatte, in Lübeck besuchten. Da kürzten sie den Deutschlandbesuch ab, um an den Ort zurückzukehren, wo sie nach den Ereignissen wie diesen hingehörten. Sie erzählten von den Interviews, die sie mit den jungen Ärzten in verschiedenen, westdeutschen Städten geführt hatten. Sie waren durch die Gespräche auf Kollegen und Kolleginnen gestossen, die interessiert und geeignet erschienen und ihr Kommen nach Oshakati zugesagt hatten. Dr. Witthuhn, der ärztliche Direktor, hatte eine amüsante Geschichte zu erzählen: Am deutsch-deutschen Grenzübergang von Ostberlin nach Westberlin schaute der ostdeutsche Grenzkontrolleur mit ostdeutschem Grenzkontrollblick ins Auto, verlangte im sächsischen Dialekt nach den Durchreisedokumenten, sah das Gesicht von Dr. Nestor und sagte erstaunt, dass er so ein schwarzes Gesicht noch nicht gesehen hätte. Dr. Nestor, dem Dr. Witthuhn die deutsch-deutsche Grenzbemerkung aus dem Sächsischen ins Englische übersetzte, lachte und gab dem erstaunten Grenzer recht, als er sagte, dass er auch zum ersten Mal in Deutschland sei. Da lachte auch der Grenzer, sprach sein "nu nuu" und wünschte den beiden Afrikanern eine gute Fahrt. Sie hatten von etwa vierzig Bewerbern, die von den einhundertzweiunddreissig Briefschreibern in die engere Auswahl genommen wurden, fünfzehn ausgesucht, von denen dreizehn zusagten. So war ihr Deutschlandbesuch ein voller Erfolg, und Dr. Nestor schwärmte von der Schönheit und Sauberkeit der Städte, vom Fleiss und Leben der Menschen. Die Kleinanzeige im Deutschen Ärzteblatt hatte sich gelohnt.

Vom Kommen der deutschen Jungsärzte nach Oshakati unweit der namibisch-angolanischen Grenze

Es waren noch keine zwei Monate vergangen, da traf der erste Deutsche, ein Riesenkerl, ein, der Aachener war und dort studiert hatte. Die anderen zogen nach, so dass es wenige Monate später dreizehn junge Ärzte und Ärztinnen am Hospital mehr gab, unter denen auch ein Facharzt für Frauenheilkunde war, der gleich mit Frau und zwei kleinen Kindern kam. Das brachte eine spürbare Entlastung bei der Bewältigung der Arbeit, und Dr. Nestor übte seine ersten deutschen Worte ein. Ausser den Jungärzten und dem Facharzt kam auch Hans, ein motivierter Physiotherapeut von kräftiger Statur, der den zart gebauten, begabten und gebildeten Etienne, der die Barockmusik liebte und sensibel auf der Gitarre spielte, ablöste, der nach Paris zurückgekehrt war, wo sein Vater als Internist und Gastroenterologe praktizierte. Hans brachte seine Verlobte Maria und auch eine Gitarre mit und war voller Tatendrang. Die Ärzte wurden dorthin verteilt, wo sie am dringendsten gebraucht wurden, so in die innere Medizin, die Kinderheilkunde, die Gynäkologie und Geburtshilfe, sowie die Anästhesie. Nach kurzer Zeit bekam das Hospital ein frisches Gesicht in der Ärzteschaft, von dem noch vor Monaten keiner geträumt hatte. Die Matronen und Schwestern konnten es zunächst nicht fassen, dass es nun soviel mehr Ärzte gab, die es über die Jahre zuwenig gegeben hatte. So war es auch verständlich und schön, dass der Superintendent und der ärztliche Direktor wieder lachen konnten. Sie waren stolz auf den Erfolg, den ihr Deutschlandbesuch gebracht hatte.

Am Hospital begann eine neue Ära der Zusammenarbeit, die Dr. Ferdinand die deutsch-namibische nannte, eine verheissungsvolle Ära, wo Ärzte aus dem Land der Ärzteschwemme den zu wenigen Ärzten am Oshakati Hospital aus der Not halfen. Sie waren motiviert und theoretisch gut ausgerüstet. So sammelten sie in kurzer Zeit die notwendigen, klinischen Erfahrungen, die sie in die Lage versetzten, Untersuchungen an den Patienten vorzunehmen, bis zur Diagnose vorzudringen und kleinere Wunden in örtlicher Betäubung selbständig zu versorgen. Sie lernten, den Atemtubus in die Luftröhre vorzuschieben, und die Hantierung des Narkosegerätes. Die Grundbegriffe des EKG-Lesens brachten sie mit, so dass ihnen das Geben von Narkosen nach wenigen Wochen, zunächst unter Anleitung der Narkoseärzte, dann allein anvertraut wurde. Sie assistierten bei Kaiserschnitten und grossen Operationen und wiederholten nun am lebenden Körper die Anatomie des Menschen. Operativ schafften sie es bis zum Kaiserschnitt und der Entfernung des Wurmfortsatzes (Appendektomie), wobei ihnen die Erfahrenen assistierten. Sie führten unter Anleitung eine Grosszahl von Geburten durch und waren aktiv in die Repositionsmanöver von Knochenbrüchen einbezogen. Die jungen, deutschen Ärzte hatten begriffen, dass es in Afrika etwas zu holen gab, was die praktisch-klinischen Erfahrungen betraf, und sie waren eifrig, diese Erfahrungen zu sammeln, die sie später in der Ersten Welt gut gebrauchen konnten. Einer der Kollegen, Dr. Christian, beteiligte sich an der Forschung über die Hintergründe der hämatogenen Osteomyelitis bei Kindern und wurde so Mitautor der umfassenden, klinischen Arbeit: "Hematogenous Osteomyelitis in Infants and Children in the Northwestern Region of Namibia", die in dem angesehenen US-amerikanischen 'The Journal of Bone and Joint Surgery' 1994 publiziert wurde. So erklomm das Hospital unweit der angolanischen Grenze die Höhe bis zu diesem Spitzenjournal, in dem sein Name international gelesen wurde. Klinik und Forschung von solcher Intensität war das afrikanische Gold für Mediziner, die grosse Chance auf dem schwarzen Kontinent, die die jungen Ärzte in Deutschland erhofften und in Oshakati beim Schopfe packten. So hielt das Hospital sein Versprechen der klinischen Frühreifung, und die deutsch-namibische Zusammenarbeit zahlte sich für beide Seiten aus. Daran änderte auch der Krieg nichts mit seinen fürchterlichen Erfahrungen und dem inständigen Hoffen auf sein baldiges Ende.

Diese Ära half den kranken Menschen, die im Denken und Handeln ganz oben standen. Sie war hilfreich und produktiv. Sie öffnete den jungen Deutschen die Augen auf die natürlich afrikanische Weise, was Armut wirklich war, was diese jungen Ärzte ebenso wenig vergessen würden wie die reichen Pfründe aus ihren eingesammelten Erfahrungen. Sie waren charakterlich sauber, sahen den Schwarzen als Menschen wie sich selbst, waren pünktlich und gewissenhaft bei der Arbeit und freuten sich, die Arbeit am kranken Menschen zu tun. Sie hatten die Möglichkeit, aus dem Elend der Menschen die Lehren zu ziehen, die zum Zusammenleben nötig waren. So war das Hospital klinisch wie menschlich ein Augenöffner, den es so in Deutschland nicht gab. Denn ausgemagerte Kinder mit den grossen Augen und ausufernden Wasserbäuchen oder Kinder mit amputierten Armen und Beinen nach Minenexplosionen hatten diese Ärzte in ihrer Studienzeit noch nicht gesehen. Dafür mussten sie nach Afrika kommen, um sich ein Bild dieser Wirklichkeit zu machen. Es war fürs Leben, wenn einer begriffen hatte, um was es hier ging. Der Uringeruch auf dem Vorplatz musste eingeatmet werden, um zu wissen, unter welchen Umständen hier die Arbeit geleistet wurde, um den Menschen der Armut und des Elends zu helfen. Da gab es kein Verdrückenwollen, und die jungen deutschen Ärzte taten es erfreulicherweise nicht, dass Dr. Ferdinand so etwas wie Stolz empfand, dass aus dem Land, in dem er geboren war, solche Menschen kamen, um mit anzupacken, und es bei der Vorrede nicht beliessen. Da lernte er, dass der Wertebegriff des Menschen noch nicht verkommen war, wenn auch gewisse Vorstellungen vom Leben afrikanisch nicht zu verwirklichen waren.

Die Übergangsperiode

Es war weniger als ein Jahr später, als das Anlegemanöver mit der neuen, schwarzen Besatzung konkrete Formen annahm und mit den Blauhelmen, der multinational zusammengesetzten Beobachtertruppe den Anfang machte beziehungsweise eingeleitet wurde, wie es die UN-Resolution 435 vorsah. Da rief der Superintendent an einem Dienstagmorgen gegen elf Dr. Ferdinand aus dem Op, um in sein Büro zu kommen. Dort machte der Superintendent ihn mit zwei anders uniformierten Militärs bekannt, von denen einer ein Schweizer im Range eines Hauptmanns und der andere, etwas ältere, ein Malaysier im Range eines Majors war. Dr. Ferdinand machte grosse Augen, grösser als die andern ihre Augen gross machen konnten, weil er nun mit den eigenen Augen sah, dass das Anlegemanöver in Gang kam. Die beiden Offiziere, von denen der Jüngere Chirurg, der Ältere Orthopäde war, erklärten ihren Auftrag und ihre Bedürfnisse im Falle von Verletzten. Da gab es rasches Einvernehmen auf der Basis der Gegenseitigkeit, dass Dr. Ferdinand im Ernstfall für Operationen zur Verfügung stehe. Der Superintendent stellte der medizinischen Abteilung der Schweizer Blauhelme den neu errichteten, psychiatrischen Saal zur Verfügung. Die Malaysier richteten sich in einem Militärcamp ein, das vom südafrikanischen Militär noch zu räumen war, jenem, aus dem die Fünferkolonne der 'Elands' mit den langen Rohren zur abendlichen Patrouille ausrückten. Das Gespräch wurde in gelöster Atmosphäre, ja mit Erleichterung von der Hospitalseite geführt, weil da an die lang ersehnte Zerschlagung des gordischen Apartheidknotens mit all seinen Fesseln gedacht wurde. Für Dr. Ferdinand strahlten die beiden Militärs mit den zusammengeklappten Blaumützen unter der rechten Epaulette nicht nur Intelligenz, sondern auch Menschlichkeit aus, was für ihn die Zusammenarbeit willkommen hiess. Die Unterredung nahm einen guten, fast freundschaftlichen Ausgang, und Dr. Ferdinand nahm sich vor, mit diesen Menschen der Friedenstruppe in Kontakt zu bleiben, weil er sich mit ihnen Gespräche erhoffte, an denen es ihm seit Jahren fehlte. Er ging mit neuen Erkenntnissen in den Op zurück, um den zertrümmerten Oberschenkel bei einem jungen Mann zu verplatten, den ein 'Casspir' der Koevoettruppe auf dem Felde verfolgt, gerammt und umgestossen hatte.

Mit dem Auftreten der UNTAG (United Nations Transition Assistance Group) war der Geist des Wandels spürbar. Die Menschen begriffen, dass das Kommandoschiff der weissen Apartheid so gut wie gesunken war, und hofften, dass so ein Schiff nie wieder auftauchen würde. Die südafrikanische Armee begann mit ihrem Abzug. Gepanzerte Kampfwagen (die zweiachsigen 'Elands' mit den langen Rohren und dreiachsigen 'Ratels' mit den kurzen Rohren) fuhren mit angehängten Lafetten der schweren Artillerie und Haubitzen in langen Kolonnen die Teerstrasse nach Osten, befuhren letztmalig den zweihundertachtzig Kilometer langen Teil der über fünfhundert Kilometer langen, strategisch bedeutsamen West-Ost-Achse, die im spitzen Winkel die angolanische Grenze im Westen an den Ruacana-Wasserfällen schnitt, fuhren nördlich am Etosha-Naionalpark vorbei, bis sie die Minenstadt Tsumeb erreichten, wo sie auf Waggons für den Rücktransport nach Südafrika verladen wurden. Mit dem Abzug des Militärs verliessen auch andere Weisse, die in der Verwaltung tätig waren, mit ihren Familien das Dorf, um nach Windhoek, nach Swakopmund an der Küste oder in den Süden des Landes zu ziehen, wo das Leben für die Weissen immer schon bequemer war. Die leerstehenden Häuser zeigten das Vakuum an, das diese Periode mit dem Abgang des Alten und dem Anlegemanöver des Neuen begleitete. Mit der Entfernung der MGs von den Wassertürmen hatte auch die Kontrolle der Fahrzeuge und Passanten an den beiden Dorfeingängen aufgehört. Die Schilder mit der Aufschrift 'For Whites Only' waren über Nacht bedeutungslos geworden. Sie standen neben den verwaisten Kontrollhäuschen als Relikte von gestern. Die Sperrschranken waren abmontiert, und die einbetonierten Ständer steckten sinnlos im Boden. Die ausgemauerte Grube mit den quer befestigten, stählernen Rundstäben zur Unterwagenkontrolle war leer. Sie würde der Wind mit der Zeit mit Sand füllen. Die Sperrstunde von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang wurde ausser Kraft gesetzt. Die schwarzen Menschen erhielten eine Bewegungsfreiheit, die sie nicht kannten, was den freien Zugang zum Dorf der Weissen einschloss. Von dieser Freiheit machten die Schwarzen Gebrauch. Es gingen täglich mehr durch die Strassen des Dorfes besonders dann, wenn die verbliebenen Weissen bei der Arbeit waren. Da setzte schlagartig mit dem Beginn der Übergangsperiode auch das Stehlen ein. Verschlossene Türen wurden aufgebrochen, ganz gebliebene Fenster wurden eingeschlagen, die restlichen Tische, Stühle, Bettgestelle, die letzten Eisschränke, Waschmaschinen, Kleiderbügel, und was sonst noch zu nehmen war, wurde davongetragen und weggekarrt. Die Plünderei ging bis zum Herausbrechen von Wasserhähnen, Deckenlampen, Steckdosen und Gardinenstangen, die Demolierung bis zur Zerschlagung von Türen, Fenstern, Waschbecken und Toilettenschüsseln. Das Vakuum des Übergangs brachte über Nacht ein neues Phänomen, mit dem eigentlich keiner gerechnet hatte, weil alle auf eine bessere Zukunft in Freiheit hofften, und die wenigen Weissen, die noch verblieben waren, mit dieser Hoffnung für die Schwarzen an den schwarzen Menschen im Hospital und in den Schulen arbeiteten.

 

Da blieb auch Dr. Ferdinand nicht verschont, bei dem mehrere Male eingebrochen, die Brille, Armbanduhr, die besseren Kleidungsstücke und das Radio gestohlen, die Wohnstelle bei der Suche nach Geld auf den Kopf gestellt wurde, wenn er die Schwarzen im 'theatre 2' operierte. Das Bild von den schwarzen Menschen erlitt schweren Schaden, weil es sich nun früh zeigte, dass sie so gut nicht waren, wie er sie all die Jahre sah. Da wurde die Zuneigung getrübt, das Vertrauen, das er ihnen schenkte, bekam einen Knacks, von dem es sich nie mehr erholte. Er war naiv, als er annahm, dass die Schwarzen jene Weissen verstünden und achteten, als ihresgleichen betrachteten, die es in den schlechten Jahren mit ihnen ausgehalten und an ihnen unter den miserablen Umständen mit dem Schweiss auf der Stirn und den verschwitzten Hemden gearbeitet hatten. Dass das Stehlen ein Früh-, ja ein Erstphänomen des Übergangs war, das machte ihn traurig. Er musste sein Zukunftsbild nach unten revidieren, wo es so etwas wie einen Rosengarten über den Gräbern der Toten ohne Begräbnis (Sartre) nicht mehr gab. Da brauchte er das Bild der Kinder mit den grossen Augen und den Wasserbäuchen auf den stelzigen Stockbeinen und jene mit den abgeschnittenen Armen und Beinen, um sich an ihnen aufzurichten. An diesen Kindern, die für all das nichts konnten und von jeher dastanden und vergebens hofften, hielt er sich fest, weil er sie liebte, wenn er ins Hospital ging, um an den Menschen zu arbeiten. Sicher waren die Schwarzen auch Menschen, die ihre Fehler hatten. Dass sie aber die Fehler so früh und ungerecht in die Tat umsetzten, das brach ein grosses Stück ihrer Würde und Glaubwürdigkeit weg.

Dieses ausgebrochene Stück war nicht mehr aufzukleben, so wie man einen zerbrochenen Krug nicht mehr zu seiner ungebrochenen Ganzheit zusammenkleben kann. Es war etwas in Bruch gegangen, was nicht hätte zerbrechen dürfen: das Vertrauen. Von dieser Bruchlinie aus, die da gleich zu Beginn der Übergangsphase über den Weg zog, verdunkelte sich auch das Licht, das über den Weg in die Zukunft leuchten sollte, dem soviel Hoffnung, soviel Herzensvorschuss gegeben wurde. Der Weg behielt seine Stolpersteine, wenn es auch andere waren, die nun von den Schwarzen gelegt wurden. Das tat der Grösse der Freiheit Abbruch, weil sie nun von schwarzen Menschen gleich zu Anfang zur Stehlerei missbraucht, durch neues Unrecht geschändet und beschmutzt wurde. Die Höhe im Denken und in der Erwartung der Freiheit wurde durch die kriminellen Ausschweifungen erheblich erniedrigt und geschmälert. La liberté sans responsabilité est réduit au libertinage. (Das in französisch, weil sich im Wort 'libertinage', das für Ausschweifungen steht, sich das Wort 'liberté' für Freiheit verklemmt.)

Die Weissen beklagten die zunehmende Stehlerei, so auch in den Morgenbesprechungen. Der Superintendent machte ein betroffenes Gesicht, weil er es nicht glauben wollte, dass es nun seine Leute sind, die da entgleisen liessen, was nicht entgleisen durfte, wenn die Ärzte und Apotheker, Hans, der Physiotherapeut, und die Sozialarbeiter im Hospital ihrer Arbeit nachgingen. Er setzte sich mit der Polizei in Verbindung, die es bei Versprechungen beliess, für Ordnung zu sorgen, und der Unordnung mit den Diebstählen tatenlos zusah. Die nächtlichen Raubüberfälle und Einbrüche häuften sich, dass sich die Weissen in Ermangelung einer wirksamen Polizei zum Selbstschutz zusammentaten und nächtliche Patrouillen auf Privatfahrzeugen mit lichtstarken Lampen und Schusswaffen fuhren, um dieser frühen Kriminalität Einhalt zu gebieten. Es half für die Nacht, dafür wurde am Tage mehr eingebrochen. Die Arbeit am Hospital musste weitergehen, sie ging weiter, wenn auch mit dem Hintergedanken, dass da in den Häusern eingebrochen wurde, während sie im Schweisse des Angesichts die Patienten untersuchten und operierten. Da schluckte die schwarze Frühkriminalität einen beachtlichen Teil der Konzentration weg, die eigentlich den kranken Menschen gehörte. Es lag ein schwarzes, asoziales Verhalten vor, das durch die Gemeinheit der Diebstähle sich gegen die eigenen Menschen richtete. So offenbarte die erste Phase der Übergangsperiode die erste neue Unordnung, die nicht in Ordnung zu bringen war, es sei denn, die Sperrschranken würden wieder errichtet, Fahrzeug- und Personalkontrollen wieder eingeführt. Aber gerade das sollte mit dem Versinken der weissen Apartheid ein für alle Mal überwunden sein. Die andere Alternative war die stählerne Vergitterung der Fenster und Türen. Doch dazu fehlte das Geld wie das Material. So blieben die Reinigungs- und Bügelfrauen in den Häusern und die Männer in den Vor- und Hintergärten übrig, denen man vertrauen musste, weil man ihnen vor Eintritt der ersten Phase des Übergangs auch vertraut hatte. Das ging leider nicht immer gut, weil es da Fälle der ungezogenen Zusammenarbeit mit den Dieben gab, denen sie den günstigsten Zeitpunkt zum Stehlen gaben, die es dann so taten, ohne dass Türen aufgebrochen und Fenster eingeschlagen wurden. Nach dieser tür- und fensterschonenden Ausräumung von Radios plus Tonbändern, Fotoapparaten, Uhren, Brillen, Sonnenbrillen, Schmuck mitsamt Kassetten, den weniger getragenen Schuhen, besseren Kleidungsstücken bis zur Bettwäsche und den Handtüchern und manchmal unter Mitnahme erheblicher Bargeldbeträge, oder von Ersatzrädern, Fahrrädern und gefüllten Benzinkanistern aus den Garagen kamen dann auch meist die Haushilfe oder der Gärtner oder beide am nächsten Morgen nicht zurück. Sie blieben verschwunden, oft mit dem Essbarem aus den Kühlschränken und Kühltruhen, die sie da gleich mit ausgeräumt hatten. In einigen Fällen wurden leere Bier- und Whiskyflaschen zurückgelassen. Die Diebe waren nicht zu fassen, weil keiner wusste und wissen wollte, wo sie wohnten oder waren. Die Kriminellen zogen sich auf die natürlichste Weise in neue Startlöcher zurück, ohne dass man sie zur Rechenschaft ziehen konnte. Nach grösseren Ausräumungen liessen sie sich dann im Dorfe für eine längere Zeit nicht blicken. Das war die Situation, kurz nachdem die UNTAG kam, um den friedlichen Übergang von der weissen Apartheid in ein freies, rechtschaffenes und demokratisches Namibia zu überwachen, gemäss der UN-Resolution 435. Gleich am Anfang war es nicht so gut, weil da Dinge durcheinanderkamen, die eigentlich in Ordnung sein sollten.

In dieser Phase des Übergangs, in der es eine Verwalzung, ein Plattdrücken des Alten gab, und eine Umwälzung, wie es der Pflug im Ackerboden tut, anzumerken war, bekam das Dorf unweit der angolanischen Grenze, das all die Jahre wie am Ende der Welt lag, eine neue Bedeutung. So wurde Oshakati mit dem 'International Guesthouse' eine wichtige Durchgangsstation, eine Art Umsteigebahnhof, wo Menschen der weissen Hautfarbe, die ausgeschlafen und Frühaufsteher waren, mit dem Auto aus dem südlichen Windhoek kamen, Dr. Ferdinand in seiner engen Wohnstelle einen Besuch abstatteten, ihn zum Abendessen im besagten Gästehaus des Internationalen einluden, oder nicht, und dabei Erkundigungen über die augenblickliche Lage einzogen. Mit den neuesten Kenntnissen vor Ort flogen sie am nächsten Morgen von Ondangwa nach Lubango im Süden Angolas weiter, um die ersten Kontakte mit den Menschen zu knüpfen, die "morgen" die Macht zu übernehmen gedachten. Da kam das Nordphänomen auf, das das Südphänomen mit dem Blick nach Pretoria oder dem pretorianischen Blick ablöste, wo das Dorf im Norden Eigenschaften eines Magneten bekam, das magisch Menschen aus dem Süden, hauptsächlich Windhoek, bis an die angolanische Grenze anzog. Sie alle waren vom Bedürfnis beseelt, den Übergang nicht nur gut zu überstehen, sondern auch "morgen" mit einer guten Position bei guter Bezahlung dabei zu sein, wenn die neue Mannschaft nach den Hebeln der Macht griff. Da galt, wenn es um die Macht und die nächstliegenden Posten ging, die in Sichtweite zur Macht waren, oder von denen aus durch das Fenster, das da jedesmal weit geöffnet wurde, die entsprechenden Hebel zu sehen waren, wenn man sie nicht selbst anfassen durfte, da galt noch immer das Prinzip: 'first come first served' (wer zuerst kommt, wird zuerst bedient). Da stellten sich jene mit den höheren Ambitionen frühzeitig in die Schlange, die vom Typ her ‘elastisch’ waren und die unterschiedlichsten Systeme für den eigenen Vorteil spielend in Kauf nahmen, als wäre es nicht mehr als ein Hemd- und Hosenwechsel. Da waren es wieder die Frühaufsteher, die als erste kamen, um mit veränderter Gesichtsmaske und veränderten Papieren sich ans Neue anzulehnen und ohne Hosenträger und mit offenem Hemd sich anzuschmiegen. Sie hatten ihren Schreibtisch mit der polierten Platte und den anderen Annehmlichkeiten in den höheren Etagen fest vor Augen. Da sollte es beim Status bleiben, egal, mit welcher Farbe sich das System politisch umhing.