Der Weg nach Afrika - Teil4

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Herr, Du siehst, wie Menschen deine Werke verachten und treten, und siehst auch, wie sie Unschuldige foltern und morden. Stimmt es, dass Du den Folterern und ihren Opfern die Krone der Ehre gleichermassen aufsetzt?

Herr, wo ist dein grosser Name geblieben, wo dein Heiligtum hingeraten, wenn Menschen das Verwerflichste mit deinem Namen tun?!

Dr. Ferdinand legte das Blatt zurück, stellte die Tasse in die Küche, zog sich aus, putzte die Zähne und legte sich ins Bett. Vor seinen Augen richtete sich das Totenmonument im Wüstenfeld auf, das höher und immer höher wurde und seine Spitze mit dem vertrockneten Blut in den Nachthimmel steckte, wo das Ende nicht mehr zu sehen war. Er bat um Gnade für die Menschen, die es nicht mehr schafften, weil ihnen die Last zu schwer geworden war, die ganz unten am Monument standen, sich legten und sich dem Monument unterschieben liessen, dass die Spitze immer tiefer in den Himmel stach. Dabei verrutschten die Sterne, die diesem Monument nichts entgegenzusetzen hatten: "Wo ist dein grosser Name geblieben, wo dein Heiligtum hingeraten?"

Die Last des Alleinseins

Die Nacht war ruhig, die Hähne krähten den Sonntag ein, nicht anders, als sie es an den Wochentagen taten. Die Sonne schickte feuerrote Strahlen in den frühen Morgen, als gäben sie die Antwort auf die letzte Frage nach dem Ort des grossen Namens und des Heiligtums, was beides nicht von dieser Welt sein konnte und am Nachthimmel im Gewirr der Sterne nicht mehr auszumachen war. Die ersten Strahlen zeigten, wie es die letzten Strahlen des vergangenen Tages auf der anderen Seite taten, hinter dem Horizont auf die Quelle ihres Lichts. Man konnte die Uhr und den Winkel im Erdlauf durch die Jahreszeiten mit der Sekundenverschiebung stellen, wenn auch nur diesseits des Horizonts. Was dann jenseits war, das blieb dem Auge ganz und nicht viel weniger dem Verstand verborgen, je höher er den Horizont setzte, wo dann die Vernunft kommen musste, um dem Nachgrübeln über die unsichtbaren Dinge ein Ende zu machen. Er hörte das sonntägliche Bimmeln des Glöckchens vom Türmchen der weiss gestrichenen Burenkirche, wenig später die noch verbliebene Burengemeinde mit ihrem Gesang der tonalen Entgleisungen. Dem Gesang fehlte die Fülle der Herzen. Die verbliebenen Stimmen waren unsicher und schüttern, fragend und zweifelnd. Da musste ein Machtwort gesprochen werden ganz ohne Zweifel, um die Restgemeinde auf die Füsse zu stellen. So war es denn auch still, wo der Dominee zum rechten Wort gefordert war, die Reparaturarbeit an den Seelen vorzunehmen, sich mit aller Kraft für den inneren Wiederaufbau einzusetzen und mit der Wortfestigkeit des Reformators die Füsse auf den Boden der Gemeinde zurückzubringen.

Dr. Ferdinand nahm den Telefonhörer ab, doch am andern Ende blieb es totenstill. Er stellte sich unter die Brause und wusch das Klebrige der Nacht mit der aufgesetzten Schicht des vergangenen Tages von der Haut. Er wollte frisch sein, um sich der Herausforderung des Sonntags zu stellen, der ihm, wie die meisten Sonntage, die Last des Alleinseins aufdrückte. Er zog sich frische Sachen an, stopfte das verschwitzte Alte in die halbautomatische Waschmaschine und stellte sie an. Er machte sich einen stärkeren Kaffee, um stärker wach zu sein. So tat er statt zwei drei Teelöffel Instantkaffee mit der Chicoreeverstärkung in die Tasse, goss kochendes Wasser darüber bis zum obersten Rand und verkleckerte einen Teil beim Einrühren des Zuckers von zwei gehäuften Teelöffeln. Er genoss den Morgenkaffee zusammen mit der Zigarette und versuchte über etwas nachzudenken, was mit dem Hospital nichts zu tun hatte. Da fiel ihm aber kaum was ein, nein, es fiel ihm überhaupt nichts ein. So nahm er sich das Blatt der vergangenen Nacht vom Verandatisch und versuchte beim Überfliegen des Geschriebenen sich an irgend etwas festzuhalten. Man kann einfach nicht aus dieser Welt entfliehen, das stiess ihm beim ersten Überfliegen auf. So überflog er das Blatt einige Male von oben nach unten, von unten nach oben, von der Mitte nach oben und unten und hielt das Blatt hoch gegen das Licht, ob er dahinter noch etwas finden konnte. Natürlich konnte er dahinter nichts finden, und so stellte er betroffen fest, dass er beim kreuz und queren Überfliegen und Dahinterschauen des Geschriebenen eben alles andere, aber kein Überflieger war. Er hätte eher ein Taucher sein können, der sich in den Wasserbäuchen der Kinder festgetaucht hatte, weshalb es für ihn schwer war, von dieser Art des Tauchens loszukommen und wie ein Bergsteiger Höhen zu erklettern, oder auf halber Höhe zumindest ein Gelände zu erreichen, wo es kein Wasser in den Bäuchen gab. Er konnte eben nicht wertfrei denken, ein Manko, das ihm den Denkweg zu den Gipfeln der Philosophie versperrte und ihm selbst den Zugang zu den höheren Etagen der Philosophieschulen verwehren würde.

So dachte er wasserbäuchig, bezugsorientiert nach, ob er dem Herrn, dem er in der vergangenen Nacht einen Brief geschrieben hatte, nachdem ihn Martin Buber durch seinen achten Psalm dazu ermuntert, ja aufgeregt hatte, einen Vorwurf machen sollte, dass er nicht mehr so mächtig aus den Mündern der Kinder spricht, wie er es einst getan hatte, weil es eben die Kinder mit den Wasserbäuchen gibt, die hilflos dastanden, mit grossen Augen nach oben blickten und vergebens hofften. Auch wenn sie es nicht sagen konnten, sie hofften auf ihn. Warum dann vergebens? Der andere Punkt war die ewige Folterei, als könnten die Menschen ohne die Folter nicht leben, als seien sie folterabhängig und foltersüchtig, wie Menschen von Nikotin, Alkohol und anderen Drogen abhängig, ja süchtig danach sind. Nur ist die Folterabhängigkeit und die Sucht des Folterns die grässlichste Art der Abhängigkeiten und Suchten, weil das Verspannen des Menschen in der Folter nicht nur fürchterlich weh tut, sondern dem Opfer da der Stolz gebrochen und dem Folterer da die Würde genommen wird, und beides auf Lebenszeit, weil die menschenwiderwärtige Schändung beide betrifft, den Geschändeten und die Vergewaltigte mit dem Zusammenbruch des Stolzes, den Schänder und Vergewaltiger durch den Verlust der Würde. Da fragte Dr. Ferdinand den Herrn, ob er die Krone der Ehre dem Schänder wie dem Geschändeten gleichermassen aufgesetzt habe und weiter aufsetzt. Er fragte ihn am Schluss seines Briefes, wo denn sein grosser Name geblieben, wo sein Heiligtum hingeraten sei, wenn Menschen das Verwerflichste mit seinem Namen tun.

Die Frage, ob es nötig ist, dass es Kinder mit Wasserbäuchen und dünnen, faltigen Hälsen gibt, die mit grossen Augen blicken und dennoch vergebens hoffen, und die Tatsache der anhaltenden Folterei, diese beiden Punkte wollte er in die Vorlage einbringen, aus der er dem Herrn den Vorwurf des Schweigens machen will. Deshalb den Schweigevorwurf, weil er den Herrn für mächtiger als die Menschen hält und sich nicht vorstellen wollte, dass der Herr diesem Wahnsinn zustimmt, wie es die Menschen tun, die da schweigen, und die so etwas Abscheuliches und Untierisches zur totalen Erniedrigung des Menschen erfunden haben, oder sich dieses schmerzlich traurige Schauspiel der Wesen mit der aufgesetzten Krone der Ehre ansehen, ohne ein Wort dazu zu sagen, anstatt mit seinem Schwert da einmal mächtig reinzuschlagen und mit den Untieren ein und für alle Mal aufzuräumen. Er sass mit der zweiten Tasse Kaffee und der zweiten Zigarette da und dachte über seinen Nachtbrief an den Herrn nach, ob er in dem Brief unhöflich oder gar ungezogen gewesen war. Das wollte er nicht, denn dafür war ihm der Herr zu gross und teuer. Es waren die nackten Tatsachen, denen er zur Verdeutlichung kein falsches Kostüm überhängen wollte, um da nichts zu vertuschen, weil erst die Tatsachen in ihrer Nacktheit die Wahrheit voll ans Licht bringen und das Unvorstellbare der Schändung zeigen, wo nackt nichts zu vertuschen ist. Er bat um Verständnis, dass sein Brief den Tatsachen entsprach und nicht übertrieben war, dass er ihn in seiner Muttersprache verfasste, weil er es anders nicht konnte, und dass das Geschriebene so wahr war, wie das Nacktsein nackt sein konnte. Er bat den Herrn, dem täglich sicherlich unzählige Notrufe und -briefe zugingen, den Brief zu lesen (und nicht den Notrufbeanworter laufen zu lassen). Der Absender stellte sich auf eine Wartezeit ein, da sich der Herr noch nie zu einer niedrigen Eile herabgelassen hatte und sich die nackten Tatsachen gründlich durch den Kopf gehen lassen sollte. Der Breifschreiber hoffte, dass sein Brief nicht unterwegs verlorenging, was hier auf dem Postwege kleiner Entfernungen häufig der Fall war. Der Brief an den Herrn hatte einen weiten Weg zurückzulegen. Er hätte den Brief aus Sicherheitsgründen per e-mail an: notruf@herr.halleluja.com.na schicken können, was auch schneller gegangen wäre, was er aber nicht tat, weil der Brief handgeschrieben sein sollte mit seiner persönlichen Unterschrift, dem er dann noch zwei Zeichnungen hinzugefügt hatte, eine von einem dreijährigen Jungen mit einem extrem ausladenden Wasserbauch auf ganz dünnen Stöckchenbeinen und die andere von einer Folterszene, wo drei Männer mit Peitschen auf eine junge Frau mit entblösstem Körper einschlugen, sie dann alle drei vergewaltigten und schliesslich erschlugen, weil sie nicht reden wollte, um ihren Mann bei der Feldarbeit nicht zu gefährden.

Den Brief mit den beiden Zeichnungen per Luftpost und eingeschrieben zu schicken, da machte das Postamt nicht mit, weil der Absender die Postfachnummer nicht auf dem Briefumschlag angegeben hatte und der Umschlag viel zu klein war, um die erforderlichen Briefmarken aufzukleben. Selbst mit einem grösseren Umschlag und Angabe der Postfachnummer hätte es die Post nicht getan, die sich für diese Art der Fernzustellung für nicht zuständig erklärte, weil sie Luftpostbriefe soweit hoch nicht beförderte, die über die Ionosphäre hinausgingen, auch wenn sie eingeschrieben waren. Da war die Technik eben noch weit zurück, dachte Dr. Ferdinand, der da eine Marktlücke sah, wo die Post bei der Grosszahl der Briefe an den Herrn allein durch den Verkauf der Briefmarken (mit den jeweiligen, ernst dreinblickenden Präsidentenköpfen) ein gutes Geschäft machen könnte.

 

Dr. Ferdinand machte einen kurzen Rundgang durchs Dorf, ging an den bewohnten Häusern mit den gepflegten Vorgärten und den leerstehenden Häusern mit den verkommenen Vorgärten vorbei, sah Männer in den Einfahrten ihre Autos polieren, andere unter geöffneten Motorhauben vornüber gebeugt stehen, die da mit Schlüsseln hantierten und mit Lappen wischten, sah Hunde vor den Autos und vor Hauseingängen liegen, hörte laute und leise Stimmen aus den Häusern kommen und roch den scharf gewürzten Dunst sonntäglicher Braten. So waren die Strassen, wie an jedem Sonntag, so gut wie menschenleer, auf die die Sonne brannte. Auch in den Militärcamps war es still, wo sich ausser den Wachhabenden an den Einfahrten nichts zu bewegen schien. So beendete Dr. Ferdinand seinen Rundgang, der keine Stunde dauerte, streifte die Sandalen in der Veranda ab und machte sich in der Küche eine Tasse Kaffee, zu der er zwei Scheiben Brot mit Orangenmarmelade ass. Dann prüfte er das Telefon aufs Lebenszeichen, das es noch nicht tat, und zündete sich eine Zigarette an, um die Ruhe zu geniessen, ohne an die verdammte Einsamkeit denken zu müssen. Da holte er sich die grossen Philosophen zu Rate und las bei Plotin (205-270 AD) weiter: "Der Geist ist etwas Anderes als das Denkvermögen im Menschen. Denn der Geist lässt die Denkakte zu einer Bewegung in der Seele auseinandertreten, die erkennt. Da der Geist die Ursache dieser Erkenntnis ist, kann man den Geist gleichsam sinnlich greifbar sehen, wie er über der Seele als ihr Vater thront. Es ist der Kosmos des Geistes, der sich "stillstehend", unerschütterlich bewegt. Der Geist trägt alles in sich, und jedes Teil in ihm ist alles, jedes Einzelne ist das Ganze. Der Geist ist nicht geschieden, wie die Gedanken voneinander geschieden sind. Die Teile des Geistes verfliessen nicht ineinander, wie die Gedanken ineinander verfliessen."

Da kam es ihm durch den Gedankentrichter, dass es der Geist war, der sich ständig bewegt (Perpetuum mobile) und sich nicht gönnt, als ruhende Einheit zu existieren, weil er dem jedesmal Anderssein offen ist. Wo der Geist das Denken berührt, beginnen die Gedanken zu fliessen (Heraklit: 'panta rhei'), während der Geist als Ursprung vielgestaltig, ‘ozeanisch’ bleibt. Von diesem Ursprung in seiner Omnipotenz leitet sich die Gedankenkette ab, deren Ende zum Abbild führt, das die Gedankengestalt annimmt und sich in der Form verfestigt, wenn der Geist (aus dem Ursprung der Vielgestaltigkeit) im Abbild gerinnt. Da lässt sich die ausgeformte Gestalt durch den Verstand und die Hände begreifen. Die Geburt des Abbilds wird mit der geistigen Gerinnung abgeschlossen. Nach Abschluss der physischen Gestaltung verharrt der zeugende Geist in seiner Unbegreiflichkeit, um mit seiner ungeheueren Kraft Ursprung neuer Abbilder und Gedankenketten zu sein. Doch bewahrt der Schöpfergeist die Verbindung zum Abbild und seinen Formen, schwebt quasi durch seine "stillstehende", unerschütterliche Bewegung (wie es einige Insekten beim Stehen in der Luft tun, die mal hier, mal dort und wieder anderswo stehn) über und um das Abbild herum, durchdringt es und gibt ihm die Atmung zum Leben. Die Aura der Geistigkeit umhüllt das Abbild, die beim Menschen zu seiner Persönlichkeit führt, die geistig ausstrahlt und den Augenblick hellsichtig macht. Das Schweben des Geistes über dem Abbild und seine geistige Durchdringung kann der Verstand nicht begreifen. Ihm bleibt es untersagt, den Geist in seiner Zeugungskraft zu sehen und zu messen. Was der Verstand kann, ist, sich an der Form, in der sich der Geist festgeronnen hat, also am Abbild selbst zu begreifen. In der Begriffsbildung, die durch das Abbild vorgegeben, festgelegt und verständlich ist, können sich die Gedanken auf die Schöpfung hin orientieren. Das ist ein grosses, ein unfassbares Wagnis, das sich dann lohnt, wenn der Ursprung des Seins nicht aus dem denkenden Auge verloren wird. So kommen immer neue Gedanken, die kräftig, schöpferisch sein können und das Wunder der Geburt und des Geborenen in seiner Kompaktheit ahnend durchschimmern lassen. Denn im Geborenen hat sich der Geist verdichtet, der den einsehbaren und messbaren Strukturen bis in die feinste Faser hinein die Fähigkeit und den Willen zum Leben eingehaucht hat.

Am geistgeronnenen Abbild in seiner verfestigten Form kann der Verstand sehen, messen und begreifen, dass es nach oben hin offenbleibt, weil der Geist im Ursprung noch vieles auf Lager hat, das er zur Geburt bringen kann, wenn ihn erst ein schöpferischer Gedanke berührt. So ist und durchwandert der Geist in unbegreiflicher Weise das Leben des Menschen und ganzer Völker. Der zeitlose Geist, weil er überzeitlich ist, überlässt es den Zeitgeistern, wie es der Vater seinen Kindern überlässt, in welcher Kleidung (Sprache, Musik, Kindergarten, Universität, Politik, Wissenschaft und Kunst) sie die Menschen und ihre Völker auf die Bühne der Welt treten lassen, um mit- und untereinander zu leben. Da zündete sich Dr. Ferdinand eine Zigarette an, weil er unruhig wurde, als er sich die Menschen hier in ihrer schäbigen Bekleidung und die nackten Kinder mit den ausufernden Wasserbäuchen auf den stelzigen Beinen vor die Augen stellte. Im Anblick dieser Erbärmlichkeit der runtergekommenen und entstellten, menschlichen Gestalten, die ja traurige Abbilder dieser Zeit sind, fragte er den schwebenden Zeitgeist, ob er da nicht ganz bei Troste war. Er konnte sich bei diesem Anblick nicht vorstellen, dass der Zeitgeist selbst soweit runtergekommen war, um diese Schäbigkeit am Menschen gewollt zu haben, mit anderen Worten, dass sich der Zeitgeist selbst in diesen Menschen zu solcher Schäbigkeit verronnen hatte. Er war erregt und schimpfte gegen die Zimmerdecke, rief dem Zeitsohn des Geistes, der um das Datum nicht herumkam, zu, dass er seine Augen öffnen solle, um zu sehen, was da aus ihm herauskam.

So war Dr. Ferdinand wieder drauf und dran, in die Wasserbäuche der Kinder ‘abzutauchen’. Der einfache Menschenverstand konnte es nicht begreifen, dass in den Kinderbäuchen das Wasser stieg, während es draussen kaum Wasser gab, da viele Brunnen ausgetrocknet waren. Was bildete sich der Zeitgeist ein, um sich in solche traurigen Abbilder zu vergehen? Wenn es so etwas wie eine Pathologie des Zeitgeistes gab, dann wäre das ein Forschungsgebiet von grosser Bedeutung, um da einmal bei den geistigen Ursprüngen nachzuhaken, die zu den gestaltlichen Verformungen und Vergehen führen, die in der geistgeronnenen Substanz krank sind und als Abbild zutiefst erschrecken. Das Dilemma ist da: die Menschen können nicht mehr richtig leben. Sie atmen verklemmt, schlucken die Luft in den Magen und ernähren sich falsch. Da ist nichts mehr sauber, auch nicht das Wasser, das sie trinken. Da kann es auch kein richtiges Zusammenleben geben, weil die Voraussetzungen nicht da sind, es an der einfachsten Ordnung und Sauberkeit fehlt. Es war die Frage nach der Hygiene, die er nach oben an den Zeitgeist richtete, der es zur Verschmutzung kommen liess, die sich in den Köpfen der Schänder und Folterer, der Fresssäcke und Schweiger festgesetzt hatte, wo der Schmutz mit den Minen, dem Unrat und den Toten über verwüsteten Dörfern und Feldern liegt. Es waren die Gefolterten und Vergewaltigten, die Arm- und Beinamputierten, die mit den zerschlagenen Gesichtern, den ausgestochenen und weggeschossenen Augen, die Kinder mit den Wasserbäuchen und die vielen anderen Kinder, die ohne Eltern leben müssen, die diese Verschmutzung beklagen. Sie weinen und schreien, weil sie es anders nicht ertragen. Die Pathologie des Zeitgeistes, ein Gebiet, das dem Zeitgeist entspricht (der nach dem 'Urgeist' vielgestaltig ist, also auch entarten kann), da sollte einmal gründlich nachgeforscht und gelehrt werden. Diese Pathologie gehört in die Universitäten, wenn sie die Kapazität für Lehre und Forschung noch haben und für die Zukunft der Menschheit etwas Vernünftiges beitragen wollen. Der Mensch muss sich etwas einfallen lassen, um die Hygiene ins Denken und Handeln zurückzubringen. Da können die Erkenntnisse auf dem Gebiet der Pathologie des Zeitgeistes hilfreich sein, wenn nur ernsthaft in den Zeitgeist eingedrungen und auf dem Gebiet der traurigen Abbilder und der flächendeckenden Verarmung und Verschmutzung geforscht würde. Am Geist setzt die Innovation an. Da sollte man sich nicht bei der akademischen Vorrede und Beschreibung der schmutzigen Dinge aufhalten, was jeder sieht, der die Augen offenhält. Man muss den Dingen auf den Grund gehen, um die traurigen Abbilder und die allgemeine Verschmutzung in ihren Zusammenhängen bis zum zeitgeistigen Ursprung zu verstehen. Der Zeitgeist ist krank, der in solchen abstossenden und widerwärtigen Formen festgeronnen ist. Da muss der Zeitgeist unter die Lupe genommen werden, um herauszufinden, warum er krank ist. Die blosse Beschreibung der Symptome hilft da nicht weiter. Es muss an den geistigen Ursprung herangegangen werden, wofür die Augen weit offen sein müssen, um das Denken frei von alten, verbrauchten Schemata zu halten. Das krankhaft Geronnene und das Feste der Krankheit müssen dorthin zurückverfolgt werden, wo alles begann, der Geist noch "flüssig" war und das Kranke gerade erst in die Form gegossen wurde. Der Mensch kann doch nicht so dumm sein, um sich beim grossen Dilemma, das sich immer weiter ausbreitet, zu schweigen, sich totzuschweigen. Fürs Schweigen steckt der Karren viel zu tief im Dreck, und Tote ohne Begräbnis (Sartre), die gab es übergenug.

So kann es nicht weitergehn, wenn dem Menschen am Leben und Zusammenleben noch etwas liegt. Es muss noch Menschen geben, die das begreifen, die noch sauber im Denken sind und mit diesem Denken am Überleben der Menschen arbeiten wollen. Die Menschheit soll es ihnen einmal danken, und besonders die armen Kinder. Da kann auch mal ein Vorschlag aus menschlicher Sicht kommen, der dem Zeitgeist weiterhelfen würde, der dann wieder schöne Abbilder mit gesunden Kindern und sauber denkenden Erwachsenen in die Welt bringt, wo der gestaltende Geist einen Menschen schafft, der wieder schön ist. Dr. Ferdinand hatte es sich versagt, die Kirchen und ihre zweitausendjährige Leistung für die Menschheit ins Kalkül zu ziehen, weil da ausser Lippenbekenntnissen, die sich nicht erfüllten, und einigen Mehlsäcken zu wenig kam, was den armen Menschen in ihrem Elend vor der angolanischen Grenze weiterhelfen würde.

Es war Montag. Die Vorhänge wurden für die Morgenbesprechung vor den Fenstern zurückgezogen. Dr. Ferdinand sah auf den alten Baum mit den langen Aststümpfen, die höher als der Raum waren und zum Raum hin ragten. Da kamen ihm die Arm- und Beinstümpfe in den Sinn, die er geschnitten hatte, weil es nicht anders ging, wo ihm jeder Stumpf ins Auge ‘stach’. Er dachte an das zehnjährige Mädchen, dem er wegen einer bösartigen Knochengeschwulst den rechten Arm abschnitt, um ihr das Leben zu retten oder zumindest zu verlängern. Er dachte an die vielen Kinder, die von einer Mine angerissen wurden, denen er Teile beider Arme, oder Arm und Bein, oder beide Beine vom Körper abtrennte, weil es auch da nicht anders zu machen war. Betroffene Stille lag über den Köpfen, nicht nur, weil es die Klimaanlage nicht tat, die endlich ihr schlagendes Rattern liess, sondern weil da am Freitag der vorangegangenen Woche Fürchterliches passierte, was mit dem Verstand nicht zu fassen war. Da sassen die Teilnehmer aufrecht auf den harten und den gepolsterten Stühlen, keiner lehnte sich bequem zurück, auch nicht der amtierende Superintendent, dem die Hochnäsigkeit vergangen war und der nun noch kürzer auf dem Drehsessel hinter dem Schreibtisch sass. Allen hatte es die Gesichter getroffen, keiner wagte ein vorlautes Wort. Er eröffnete die Besprechung und fand gemässigte Worte für die tiefe Trauer der Menschen und Kinder, die durch die Explosion, die die ganze Bank in die Luft sprengte, Menschen verloren hatten, die durch ihre Arbeit die Brotgeber der Familien waren. Er konnte vielleicht tiefer gefühlte Worte zur entsetzlichen Tragik finden, etwas menschlicher sprechen, aber viel konnte er nicht sagen, denn die Tatsache mit den vielen Toten und Verletzten war nicht umkehrbar.

Die Hintergründe des abscheulichen Attentats waren nicht erkennbar. Zwar hatte jeder seinen Verdacht, doch den behielt jeder für sich, weil es in der Phase der letzten Entscheidungsschlacht gefährlich sein konnte, den Verdacht auszusprechen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Männer der schwarzen Haut eine Kiste in der Bank abgestellt hätten, was im Menschengedränge nicht beachtet wurde, doch daraus auf die Swapo zu schliessen, wie es einige Weisse im Sinn hatten, war einäugig, weil das zweite Auge sah, dass es schwarze Männer auch bei der Koevoet und beim südafrikanischen Militär gab. (Später, als das Anlegemanöver abgeschlossen war, und die schwarze Besatzung die Hebel der Macht fest in ihren Händen hielt, da wurde noch einmal in die Banksprengung und die Trümmer der Barclay's Bank hineingeleuchtet. Da ergab sich ein anderes Bild, wo die Spektralfarben beim Lichteinfall aufs Trümmerfeld, das über die Jahre so geblieben war, wie es der schwarze Freitag hinterlassen hatte, sehr nah an das neue, politische Spektrum heranreichten. Bei unvoreingenommener Lupenbetrachtung war auch da eine gewisse Einäugigkeit nicht abzusprechen. Das neue Licht war nicht flackerfrei, hatte zuwenig Weiss im Spektrum. Auch sah das eine, andere Auge ohne Lupe mehr, als zwei Augen zusammen durch die Vergrösserungsbrille sahen.) Jedenfalls hatte das Ereignis einen tiefen Krater ins letzte Wegstück zur Unabhängigkeit Namibias gerissen. Die Menschen trauten einander nicht über den Weg. Es gehörte zur südafrikanischen Strategie, Männer, der Koevoet (Brecheisen) in Swapo-PLAN-fighter Uniformen zu stecken, um die Bevölkerung auszuhorchen, an Informationen zu kommen, an die sie in den andern Uniformen nicht herankamen, weder im guten noch durch Folter. Die Strategie der vertauschten Kleider hatte die Menschen im höchsten Masse verunsichert, das Misstrauen geschürt, die Ratlosigkeit zur Verzweiflung gebracht und das Chaos komplett gemacht. Die Telefonleitungen waren unterbrochen, der amtierende Superintendent konnte nicht sagen, wann die Reparaturarbeiten am Hauptkabel abgeschlossen sein würden. Der operative Bereich des Hospitals war lahmgelegt. Die Besprechung beschränkte sich auf den schwarzen Freitag und seine Folgen, ein Themenkomplex, der schwer war und am Ende ungelöst blieb. Die Op-Liste, die an der verstochenen Korktafel im 'theatre' mit einer Reisszwecke angeheftet war, blieb für den nächsten Tag hängen. Dr. Ferdinand und der philippinische Kollege machten eine ausführliche Saalrunde. Sie gingen von Bett zu Bett, inspizierten die Wunden, entfernten Fäden, wenn es an der Zeit war, lösten Verbände und legten neue an, trugen ihre Befunde in die Krankenblätter ein.

 

Die Schwestern trauerten um Menschen, die bei der Explosion ums Leben gekommen waren, zeigten Mitleid mit den Hinterbliebenen, unter denen es viele Kinder gab. Sie bedauerten die Verletzten, die durch die Explosion verstümmelt wurden. Sie zeigten Stärke in der Arbeit, ohne ihre Gefühle den Patienten anmerken zu lassen, die es dennoch spürten. Den Verletzten ging es besser, das Leben drohte bei ihnen nicht mehr zu kippen. Sie taten sich schwer zu begreifen, dass ihnen das in der Bank passieren konnte. Da sagten die andern Patienten nichts und nahmen die Stümpfe klaglos hin, denn es hätte auch ihnen schlimmer kommen können. Im Kindersaal war es der zweijährige Junge, der seine linke Hand Dr. Ferdinand entgegenhielt, an der die zusammengewachsenen Finger vor einer Woche getrennt wurden. Der Engel der Schwestern löste in Engelsgeduld die Verbände von den Fingern. Der Junge sah glücklich in seine Hand, als er die Finger einzeln bewegte. Da dachte Dr. Ferdinand an das kleine Mädchen, das ihn anstrahlte, als es nach der Operation die Finger der rechten Hand bewegte. Im Bett, in dem vor drei Monaten das zehnjährige Mädchen lag, dem er wegen der bösartigen Knochengeschwulst den rechten Arm abtrennen musste, lag nun ein neunjähriges, dem er wegen eines Klumpfusses die Achillessehne verlängert hatte. Der Unterschenkel war noch im Gipsverband, der den Fuss in der notwendigen Stellung hielt. Das Mädchen war zufrieden und steckte sich mit den rechten Fingern den Mahangupapp in den Mund. Die Geschicklichkeit, mit der es den Papp zwischen die Finger nahm, verriet die tägliche Übung. Dr. Ferdinand hatte das zehnjährige Mädchen mit dem traurigen Blick vor Augen, das sich beim Pappessen bekleckerte, weil es das Greifen mit den linken Fingern noch lernen musste. Sarah lag auf der Intensivstation im ersten Raum mit verquollenem Gesicht. Sie konnte die Augen noch nicht öffnen. Der verbundene Oberkörper lag hoch, um der Gesichtsabschwellung nachzuhelfen. Der Oberschenkelstumpf lag unter einem 'Bahnhof', damit er vor jeglicher Fremdberührung verschont wurde. Sie lag an der Blutkonserve und klagte über Schmerzen, gegen die sie die Spritze in regelmässigen Abständen bekam. Die Körpertemperatur war erhöht aufgrund der verbrannten Haut. Die Antibiotika wurden ihr mit der Infusion gegeben. Sie sog den kalten Tee aus der Tasse durch einen Plastikhalm in den Mund, den sie zum Essen nicht öffnen konnte. Dr. Ferdinand wusste durch die Schwestern, wer Sarah war, aber wiedererkennen konnte er sie nicht.

Eine Teepause gab es, doch keinen Tee, da es kein kochendes Wasser gab. Sie setzten sich in den verdunkelten Teeraum, in den das Tageslicht durch die kleine Durchreiche und die offene Tür aus dem Unkleideraum kam. Die beiden Narkoseärztinnen sassen schon da und schwiegen in das Halbdunkel des Raumes. So tat es der philippinische Kollege auch. Alle sassen da wie bestellt und nicht abgeholt, und jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Da heulten die Sirenen über dem Dorfe auf. Sie heulten in drei Wellen. Dr. Lizette sagte das "ag nee!" (ach nein!) schon in einer routinierten Weise. Wenig später böllerten die Haubitzen, und die dumpfen Einschläge der Granaten irgendwo im Felde waren zu hören, die wenige Sekunden nach jedem Abschuss folgten. Im Teeraum entschärfte Dr. Christine die Situation treffsicher mit der Bemerkung, dass es an diesem Morgen weder Kaffee noch Tee gäbe. Dann ging doch eine Granate nicht soweit vom Hospital nieder, deren Einschlag die Wände erzittern liess. Dr. Lizette wiederholte ihr "ag nee!" lauter und mit ernstem Gesicht. Dr. Ferdinand dachte an den schwarzen Freitag und seine Folgen und sagte, dass alles seine Folgen hat. "Wenn jetzt Verletzte kommen, können wir nichts machen", sagte Dr. Lizette, und der philippinische Kollege schaute ihr sprachlos ins Gesicht, weil er da offenbar auch an seine Familie dachte. Da der Einschlag in der Nähe sich von den Haubitzeneinschlägen im Felde.durch die längere Detonationsdauer unterschied, war es für Dr. Ferdinand nicht klar, ob da nicht die Swapo im Gefecht stand und ihren Gürtel schnallte.

Der Weg in das Namibia von morgen wurde mit Granaten freigeschossen, den beide Seiten mit riesigen Löchern vertrichterten und unpassierbar machten, dass es schwer war sich vorzustellen, welchen Weg die neue Mannschaft antreten würde, wenn die alte erstmal verschwunden war. Es gab so gut wie keinen Zweifel mehr, dass da ein Weg gefunden wird, der von Norden aus über die angolanische Grenze führt. Die südafrikanische Armee zog ihre schweren Waffen aus dem Süden Angolas zurück. Dr. Jonas Savimbi füllte diese Lücke mit seinen Truppen (UNITA - União Nacional da Independencia Total de Angola), die amerikanisch und südafrikanisch ausgerüstet waren, denen von Norden die Truppen des Präsidenten Eduardos dos Santas (MPLA - Movimento Popular de Libertação de Angola) und die Kampfeinheiten der Swapo (South-West Africa People’s Organisation) entgegentraten, die mit sowjetischen Waffen und ostdeutschem Gerät ausgerüstet waren und von MIG's mit kubanischen Piloten aus der Luft unterstützt wurden.