Die blaue Barriere

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Die blaue Barriere
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Helmut H. Schulz

Die blaue Barriere

Roman aus dem Fischland

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

1

Die ATLANTIK wäre beinahe gesunken, in der Labradorsee, und wir hätten mit ihr eines der beiden Verarbeitungsschiffe eingebüßt, das modernste und schönste der ganzen Nordwestatlantikflotte. Drei Reisen habe ich mit der ATLANTIK in die nördlichen Fanggründe gemacht, und wäre Clemens Gib nicht gewesen, auch die vierte. Aber Clem brauchte einen guten Mann auf dem Z-Trawler viernullvier. Ich bin ein guter Mann und sagte ohne langes Hin und Her zu, als Clem mich rief, für eine Fangzeit, eine ziemlich variable Größe in der Hochseefischerei. Deshalb war ich also nicht an Bord, als das Schiff in Seenot geriet.

Die ATLANTIK ist nicht gesunken. Sie verlor auch keinen einzigen Mann und brachte Tonnen sauber verpacktes tiefgefrorenes Kabeljaufilet mit in die Heimat, ungerechnet die anderen Posten und abgesehen von einer Notreparatur in St. Jones, Kanada. Hätte ich Clemens Gib damals einen Korb gegeben, anstatt ja zu sagen, würde ich meinen rechten Arm noch voll gebrauchen können, aber ich habe eine Schwäche für Clem.

Regen klatschte an die Außenscheiben. In ruhiger See arbeitete sich der Schlepper voran. Seit Klock drei tuckerten wir durch Strelasund und Kubitzer Bodden. Jetzt lagen wir vor Prohner Wiek, ringsum pechschwarze Nacht, Regen, wie gesagt, und leichter auflandiger Wind. An den Scheiben vibrierten die Wassertropfen, ehe sie der Wischer wegschob; Seewasserstraßen in trüber Nacht, Untiefen und Regen, so was kenne ich zur Genüge. Richards große Pratzen, knittrig wie oft gebrauchtes Ölpapier, steuerten das flach gehende Schiff. Argwöhnisch belauerten die kleinen Bärenaugen meines Bruders das enge Fahrwasser. Kurze weiße Furchen, wie mit einem Stichel eingegraben, schraffierten das fleischige Gesicht Richards. Er trug Mütze, eine derbe blaue Wachsjacke und Schnürstiefel. Ich hatte ihn selten in anderen Sachen gesehen, sie gehörten zu ihm wie eine zweite Haut.

Irgendwas muss an deinem Arm gründlich versaut worden sein", sagte er.

"Der Arm hätte auch ab sein können", sagte ich, und mir fielen eine Masse Gründe ein, weshalb ich diesen zweiten Arm brauchte, der sich zwar nicht so bewegen ließ wie vor dem Unfall, aber vielleicht doch genügen würde, um eine Funkanlage in Gang zu halten, darauf kam es schließlich an.

"Die haben das versaut", wiederholte Richard eigensinnig.

Später hörte der Regen auf, und der Wind legte sich. Da fädelt mein Bruder den Schlepper durch eine schmale Rinne hinaus in die offene See. Weit vor uns dehnte sich die blaue Barriere, der Plantagnetgrund. In seiner guten Zeit hatte EM, Erik Mangelsdorf, das Meer, alle Meere so getauft, ohne zu erklären, warum blau und wieso Barriere. Wirklich blaue Meere sind selten und Wüsten, vom Standpunkt des Fischers aus. Vor allem sind sie kein Hindernis. Aber wir waren jung damals, empfänglich für neue Eindrücke und mit großen Worten schnell bei der Hand ...

Unser Bug teilte jetzt eine Bahn aus gleißendem Quecksilber, backbord hob sich matt der gedrungene Schattenriss des Schleppers ab, voraus erinnerte die See an hellgrünen, aufschießenden Mais, hinter dem manövrierenden Schiff glucksten Wirbel über einen tintenblauen Abgrund.

"In spätestens zwei Stunden haben wir Sturm", erklärte mein Bruder und gab dem Schlepper weniger Fahrt; allmählich ließ er das Schiff längs der Zingster Küste abfallen. Bei der Prerowbank übergab er das Ruder einem jungen Kerl, nicht unfreundlich, aber kurz angebunden, befehlend, so wie ich das von ihm kannte und selber erfahren hatte. Wir stellten uns mit dem Rücken gegen das Schanzkleid. Achtern schob sich der Sonnenball über Kimm und Küstenlinie.

"Und wenn du nicht mehr fahren kannst, was wird dann?" fragte mein Bruder. "Daran denke ich nicht", sagte ich. Wirklich hatte ich den Gedanken weggeschoben.

Richard nahm die Mütze herunter und wischte sich dünne, feuchte Strähnen aus der Stirn. Die Mitte seines Schädels war kahl, aber hinten stieß das lange farblose Haar auf den Kragen der Wachsjacke.

"Man muss an alles denken", sagte Richard. "Willst du dich von der Frau ernähren lassen?"

Er sagte von der Frau, und er meinte auch nicht irgendeine, sondern eine bestimmte, Melitta.

"Wir werden es sehen", sagte ich verdrossen über seine Fragen.

"Nix sehen wir", sagte mein Bruder. "Ich kenn dich doch. Wir wollen jetzt essen. Ich bin seit Mitternacht auf den Beinen."

Die Außenscheiben waren blank geworden. Der Rudergänger schob die Fenster auf. Schwüle, mit Feuchtigkeit gesättigte Luft spürten wir auch draußen. Eine Warmfront ging durch, und Richard hatte mit seiner Wettervorhersage recht, wie immer. Über uns wölbte sich ein leuchtender Himmel, aber das Sonnenlicht war trübe, als fiel es durch gefärbtes Glas. Weiter voraus, in Nordwest, brachen die kurzen weißen Pfoten der Krappseen auf.

Die Kajüte stank nach Dieselöl, Schweiß und gestockter Kleidung. Schwere Seestiefel, gummierte Jacken, Hosen, Mützen, Schutzhelme, Tauwerk und mächtige Taljen, alles lag unordentlich herum. Der Bootsmann, Bestmann oder wer sonst hier die Aufsicht führte, legte wohl wenig Wert auf Ordnung. Richard war jedoch eher ein Fanatiker der Ordnung, deshalb fiel mir dieses Durcheinander wahrscheinlich überhaupt nur auf.

Melitta und mein Bruder begegneten sich zum ersten Male. Er musterte seine künftige Schwägerin in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Verlegenheit. Melitta trug Hosen mit einem weiten Schlag, einen Pullover, der sich über den Brüsten spannte, und eine helle, kurze Lederjacke. Sie lachte ein bisschen viel und stellte pausenlos Fragen, aber die Männer blieben einsilbig. Sie wussten nicht, wie sie sich ihr gegenüber benehmen sollten. Ihre eigenen Frauen waren einfacher, Fremden gegenüber zurückhaltender. Auf Melittas Fragen folgte ein kurzes Ja oder Nein. Es war eine Quälerei, aber ich konnte ihr nicht helfen. Sie würde es nicht begreifen, dass Schweigen in diesem Kreis nicht für unhöflich galt.

Schließlich war es mir egal, ich trank schwarzen Kaffee, aß geräucherten Fisch und kaute Richards altes Brot. Die Kinder, Anna und Torsten, saßen mit trübverschlafenen Gesichtern zwischen uns und tranken heiße Milch aus den dicken, gesprungenen Tassen der Kombüse. Zu Hause waren beide an sauberes weißes Essgeschirr gewöhnt, mit dünnen gerösteten Brotscheiben und einem weich gekochten Ei begann ihr Morgen vor dem Schulgang. Alles hier war ihnen ungewohnt, die Enge, der Dreck und der Gestank, der Maschinenlärm und die wortkargen älteren Männer. Eine Seefahrt hatten sie sich ohne Zweifel anders vorgestellt.

Die vierzehnjährige Anna glich ihrer Mutter, der zwölfjährige Torsten mochte seinem Vater ähnlich werden, den ich mehrmals kurz gesprochen hatte.

Gegen Ende des Frühstücks langte Richard in die Jackentasche und zog zwei Schokoladenriegel raus. Er reichte sie den Kindern, die sich erstaunt bedankten, nach einem Blick zur Mutter.

"Das war doch nicht nötig, Herr Johannsen", sagte Melitta.

 

Es klang wie eine Phrase, war aber bloß Überraschung. "Nötig war das woll nicht, junge Frau", sagte mein Bruder, "ich habe selber zwei Gören."

Er begann, seinen tassentopfgroßen Knösel mit Tabak zu stopfen, und die Unterhaltung endete für jetzt.

Das Schiff machte schnellere Fahrt, die metallenen Gegenstände in der Kajüte klingelten leise wie verborgene Glocken. Mein Bruder und ich gingen an Deck. Binnen einer kleinen Stunde hatten sich Meer und Himmel verändert, sie flossen zu einem bläulichen Schlamm zusammen, der Sturm bedeutete keinen schweren, eher eine kräftige Brise. Trat die Sonne für kurze Augenblicke hinter den schnell ziehenden Wolken hervor, dann leuchteten die Kämme der Wellen wie Messerklingen auf. Das Schiff gierte nach Luv, es rollte, fiel schwer in die Wellentäler. Mein Bruder sagte dem jungen Rudergänger ein kurzes Wort. Er drehte am Rad, und die richtig geschnittene Welle lief rauschend unter unserem Kiel durch und hob das Heck ...

Damals, als die Bergungsschlepper vor Skagen erschienen waren, hatte ich mit vergipstem Arm an Deck der ATLANTIK gestanden und in den Morgendunst geglotzt. Einen der Schlepper hatte mein Bruder unter Kommando gehabt, und ich suchte sein Schiff in dem Rudel, das uns entgegen schipperte. Da war mir der Gedanke in den Kopf gekommen, unter Richard wäre die ATLANTIK nicht leckgedrückt worden, dem wäre das nicht passiert, diesem ewig misstrauischen Hund, der an seinem eigenen Schiet roch und keinem Wetterbericht glaubte, sondern sich sein eigenes Wetter machte. Blödsinn, natürlich, eine unbegründete Vermutung. Aber ich war immer der Meinung, dass man Wetter nicht genau vorhersagen kann, bloß beschreiben, was längst vorbei ist ...

"Wie lange willst du bei der Alten bleiben?", fragte Richard, als wir jetzt an Deck standen und der Wind unser Zeug blähte.

"Einen Tag oder drei Wochen, je nach dem, das hängt von Muddern ab", sagte ich.

Geschickt setzte er den Tabak in Brand und sagte: "Sie ist noch schrulliger geworden."

Das Schiff krängte, und Richard legte seine Pratzen auf das Schanzkleid.

"Wie gefällt sie dir?", fragte ich, auf Melitta anspielend.

"Schön anzusehen", antwortete er, "aber zwei Kinder und nicht von dir. Das ist deine Sache, aber sie passt auch nicht zu uns. Vielleicht kieken wir in den nächsten Tagen mal in."

"Das wär ganz schön", sagte ich.

"Ich verspreche es nicht", schloss er, denn Melitta erschien mit Anna und Torsten an Deck. Die beiden hatten es in der Kajüte nicht mehr ausgehalten. An Deck, im Freien, wurde ihnen besser. Wir stellten uns in den schmalen Gang zwischen Aufbauten und Schanzkleid. Der kräftige Wind traf uns voll. Melitta knöpfte Torsten den Anorak zu.

"Setzen Sie ihm man noch die Mütze drunter auf, sagte Richard. "Der Wind geiht dörch und dörch."

Mit Zähnen und den festen grauen Lippen schob er die Piepe im Munde hin und her.

Melitta tat es, sie gehorchte, sie unterwarf sich. Jedenfalls erschien es mir so, weil sie prompt seiner Anordnung folgte. Torsten wurde dick eingepackt, und das alles war ja auch vernünftig. Melitta band sich selber ein Halstuch um das Haar. Nur Anna vergrub die Hände tief in den Manteltaschen und hielt ihr Gesicht in den Wind.

"Fragen Sie mal Ihren Bruder, was sein Arm wirklich macht, Herr Johannsen", sagte Melitta. "Mir sagt er kaum die Wahrheit, spielt den Helden."

"Hebb ick schon", sagte Richard. Er hatte nichts gefragt.

Melitta behauptete: "Noch kann er keinen Eimer Wasser tragen."

"Muss er das denn bei Ihnen?", fragte Richard. Prüfend klopfte er mit dem Handrücken gegen meinen rechten Arm. "Und wollen Sie ihn denn dann füttern, wenn hei nich wedder up See geiht?"

"Wie meinen Sie das?", fragte sie zurück. "Und weshalb sollte ich ihn füttern, wie Sie es nennen?"

"So", sagte Richard. "Es kam mir gerade so in den Sinn. Na, Sie werden ja woll wissen, was Sie wollen."

Er verstand sie ebenso wenig wie sie ihn. Bei Richard hatte ein Mann für sich selbst einzustehen und außerdem noch für seine Familie zu sorgen. Das war seine Aufgabe. Er schwieg lange, nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte ins Wasser. Torsten lächelte ein wenig und sah die Mutter an. Ich unterdrückte ein Grinsen.

"Ich meine", sagte Melitta, "das eine hat mit dem anderen auch nichts zu tun. Schließlich gibt es noch andere, körperlich leichtere Berufe als den des Seemannes."

"Ja", sagte Richard, "andere Berufe, die gibt das wohl, wenn man sie gelernt hat. Ole hat aber nix anderes gelernt als ein bisschen funken und Ruder gehen. Wenn er will, findet er noch raus, wo sein Schiff steht. Mehr kann er nicht, junge Frau. Büschen wenig für einen Invaliden, nicht? So ist das und kein ein bisschen anners."

Und wieder verebbte das Gespräch. Wir standen eine ganze Weile wortlos auf dem stampfenden und schlingernden Schiff. Anna starrte hingerissen auf das schäumende Meer. Torsten lehnte mit dem Rücken an die Mutter. Plötzlich zog Richard ihn an sich. Es fiel mir auf, als für meinen Bruder ungewöhnlich.

"Gefallt euch das?", fragte ich die beiden. Sie nickten.

"Ihr werdet mir hier doch nicht die Sprache verlieren", sagte Melitta. Dann fragte sie meinen Bruder, wann wir denn in Wustrow ankommen würden. Sie wollte keine Spannung mit ihrem künftigen Schwager, und ich wollte sie auch nicht.

"In einer knappen Stunde", erklärte Richard.

Auf der Seeseite fehlt ein Landeplatz. Die Küste bildet einen kilometerlangen Streifen flachen Strandes. Nicht mal die Andeutung einer schützenden Bucht lässt sich erkennen. Die Küstenlinie zieht sich sanft geschwungen bis zum Darßer Ort. Zu allen Jahreszeiten ist der Strand nach West und Nordwest offen, die See meist rau. Auf der Gegenseite liegt der Bodden. In grauen Vorzeiten sollte es eine Verbindung zwischen See und Bodden gegeben haben, eine Rinne für tiefer gehende Segelschiffe. Den Kanal zerstörten die Rostocker aus Brotneid. Sie versenkten ein Schiff, um den Seeverkehr in ihren Hafen umzulenken. Wahr oder erfunden, das Schiffswrack wurde nie entdeckt, vielleicht war es mit den Jahrhunderten eingesandet. Aber auch binnen, am Bodden, war wenig übrig geblieben, ausgenommen ein Zeesenhafen. Jedes Kind lernte die Geschichte von den bösen, habgierigen Rostockern und den guten und fleißigen Fischländern und vergaß sie bald wieder.

Dicht unter Land arbeitete ein Baggerschiff, als wir ankamen. Ein Strom heraufgesogenen Grundes ergoss sich in einen Prahm. Mein Bruder war überhaupt nur der Baggerei wegen hier. Wir waren die Knochenbeilage. Vorsichtig bugsierte er den Schlepper in den Windschatten des Baggers. Mit einem Ende sprang der Junge rüber und belegte die Polder vorn und achtern. Mittschiffs dienten wie üblich ausrangierte Autoreifen als Fender.

Später lud der Junge unsere Sachen in ein Ruderboot, und wir verabschiedeten uns von Richard.

"Komm wirklich mal rüber", sagte ich zu meinem Bruder.

"Weet ick noch nicht", antwortete er, "aber vielleicht hab ich was mit dir zu bereden."

Der Junge legte die Riemen aus, ich nahm die Pinne. Mit dem auflandigen, noch ein bisschen kabbeligen Wind kamen wir ganz gut voran. Meine drei sprangen aus dem Boot ins flache Wasser und stapften lachend den sandigen Weg zum Deich hinauf, indessen der Junge unser Gepäck an Land brachte.

2

Offiziell hieß es, keinem wäre ein Vorwurf zu machen. Offiziere wie Mannschaften hätten hohes seemännisches Können, Mut und Einsatzwillen bewiesen. So ähnlich lautete wohl der Spruch, und er ist sachlich ohne Zweifel richtig. Die ATLANTIK wurde mittschiffs Steuerbord zwanzig Meter lang aufgerissen oder leckgedrückt. Die Eismassen entwickelten jedenfalls die Kraft einer Schmiedepresse von zweihundert Tonnen. Dabei ist es nicht mal ausgemacht, ob zweihundert Tonnen Druck ausgereicht hätten, um die geschweißten Stahlsektionen des mächtigen Schiffes wie Nussschalen zu knacken. Clem hat seine eigene Auffassung von der ganzen Geschichte. Er hält den Eisdruck für noch gewaltiger.

Aber es mag schon stimmen, dass wir Mut und Einsatzwillen bewiesen haben. Zwar musste die ATLANTIK für einige Zeit ins Dock, jedoch hätte sie auch vor der Hamiltonbank auf Grund und bei den Fischen liegen können. Wäre uns aber ein Vorwurf zu machen gewesen, hätten wir das Schiff im Eis verloren? Würde unser Mut und Einsatzwillen in diesem Falle weniger wert gewesen sein? Zählen die Strapazen Cooks nichts gegen die von Peary, mal abgesehen von dem Streit, wer denn nun den Pol, den großen Nagel, wie die Eingeborenen das unsichtbare Ding nennen, entdeckt hat?

Entdeckungsgeschichte ist das Spezialfach von Clemens Gib. Mit dem Spruch war also nicht viel los, bei vollem Lichte besehen. Was unser gelobtes seemännisches Können betrifft, so habe ich ebenfalls meine Zweifel. Ist das Können einer Mannschaft, die ihr Schiff rettet, höher zu veranschlagen als die Umsicht einer anderen, die eine Katastrophe zu vermeiden versteht? Ich bin Funker, unter anderem, in der Hauptsache bin ich Fischer. Immerhin sammelten sich in den fraglichen Tagen bei mir die Nachrichten bis zu dem Zeitpunkt, da ich ausfiel. Meine Funkkladde könnte ein Buch füllen, aber niemand würde durch das Lesen dieses Buches schlauer. Was da drüben auf der ATLANTIK denn nun eigentlich vor sich ging, wissen die Götter und die Eisfelder. Es begann mit einem kleinen Schaden, nicht der Rede wert, und es endete mit einem großen Fiasko, der großen Havarie, wenn auch nicht verschollen und total verloren.

Leider hat sich Richard, für mich der Zuständige in Fragen seemännischen Könnens, Mutes und Einsatzwillen, allzu unbestimmt über den Fall geäußert. Richard würde auch nie auf die Idee verfallen, seine verfluchte Umsicht und Voraussicht, sein ewiges Gemecker als seemännische Tugend zu bezeichnen, sicher aber weiß mein Bruder von seemännischer Moral mehr als manch einer, der Streifen und Sterne spazieren fährt, was auch nichts besagen will. Allzu oft hat mein Bruder Richard gute bis sehr gute Leute erschöpft, ratlos und sogar hysterisch gesehen, hat Schiffe hereingelotst, die schon aufgegeben waren, und manch ein Großmaul aus dem Wasser gezogen. Dass er sich in Schweigen hüllt, lässt den Gedanken aufkommen, es war ein Unglück, nicht vorhersehbar und nicht vermeidbar, und dass wir wieder rauskamen, mit einigermaßen heilen Knochen und einige von uns mit dicken Brieftaschen, war ein ebenso unvorhersehbares Glück. Über dem ollen Sofa in Richards Wohnstube hängt ein Spruch, fein gerahmt, da heißt es: Wind und Wogen sind Gottes ...

Alle Sprüche, die netten und die dämlichen, mal beiseitegelassen, bleibt als Tatsache mein kaputter Arm.

Der Funker und dienstälteste Offizier, ein ziemlich alter Fischer namens Olaf Johannsen, brach sich bei einem Gang über Deck in Ausübung seines Dienstes auf 62 Grad Nord und 55 Grad West infolge eines Sturzes den rechten Oberarmknochen. Der komplizierte Bruch wurde vom Kapitän nach einem MEDICO Gespräch und dem Basisschiff mit Bordmitteln erstversorgt. Wegen des schlechten Wetters, Sturm bis B 9, konnte Johannsen nicht sofort zu ärztlicher Behandlung übergeben werden. Geschehen am 23. Dezember 19.., zwoundzwanzig Uhr Zonenzeit. Punktum ...

Für den Text bürge ich nicht, aber er riecht verdammt nach Clem, und ich füge hinzu, es war auch ein böser Sturz.

Clemens Gib hatte mich ins Restaurant des Hotels Warnow bestellt. Ich war zu früh erschienen und setzte mich so, dass ich die Türen beobachten konnte, die das Restaurant mit der Küche verbinden. Fotozellen besorgten das Öffnen der Klappen, was ganz eindrucksvoll aussah. Die Kellner verließen sich ganz auf die Dinger, so wie sich der Alte auf der ATLANTIK wahrscheinlich auf die Wettermeldungen verlassen hatte. Aber ich wäre nicht davon abzubringen gewesen, dass die eine oder andere Zelle mal versagen würde. Es kam nur darauf an, dabei zusein, wenn einer der Stewards, hochbeladen mit Geschirr und in voller Parade, gegen die geschlossene Tür krachte. Natürlich geschah gar nichts; die Schotten öffneten sich gehorsam, und ich verlor das Interesse an der Sache. Dann erschien Clem, einsachtzig groß, mit prächtigem schwarzem Bart, dunklen Augen und spiegelnder Glatze.

Wir schüttelten uns die Hände, und Clem schlug vor, das Lokal zu wechseln, weil wir nicht recht herpassten, aber ich wollte nicht. Es sah nun doch so aus, als ob eine der Türen klemmte. Zweimal schon hatte sich der Kellner im vollen Lauf abbremsen müssen. Wir erörterten die Fehlerwahrscheinlichkeit, und zuletzt gab Clem, der wie ich funktechnisch ausgebildet ist, zu, dass die Zellen irgendwann mal versagen müssten. Darauf bestellte er zwei Eisbeine.

 

Genau genommen ist Clem eine Landratte. Magdeburger. Ich sagte: "Kennst du den? Ein Wirt sieht aus dem Fenster ... "

"Kenn ich", sagte Clem, "machen wir es kurz. Der Wirt schließt die Kneipe, weil nur zwei Tische frei sind und weil drei Magdeburger kommen. Stimmts?"

"Ganz genau", sagte ich. "Du bist wohl aus Magdeburg?" Als ich schon Hochseefischer war, da wurstelte Clemens Gib noch bei einem Elektriker, einem kleinen Krauter, als Stift. Da trieb es ihn weg. Heute ist er mein Vorgesetzter, ein B 6 Kapitän, und er hat noch alles vor sich. So ändern sich die Zeiten.

"Jedenfalls haben wir uns immer gut vertragen", sagte Clem, "und wenn wir gestritten haben, bist meistens du der Stänker gewesen."

"Da haben wir es", sagte ich, "ein Magdeburger - ein Tisch. Pommer und Magdeburger in einer Backschaft, schon gibts Stunk. Gaststätte schließt, heute Ruhetag." Dann brachte uns der Kellner das, was man hier Eisbeine nennt. Während des Essens setzte mir Clem auseinander, weshalb er mich haben wollte, als Ersatz. Es handelte sich nur um eine Saison. Ich sagte zu und erläuterte ihm, wie die Verhältnisse früher gewesen waren. Damals brachte die Fischerei mit Loggern noch was ein. Wir fingen Heilbutt, Hering natürlich, Seezunge, Cutfisch, ein walzenförmiges Vieh mit einem Gebiss wie eine Schlagschere, aber köstliches Fleisch.

"Weil Raubbau am Fisch getrieben wird", sagte der Hochseefischer und Trawlerführer Clemens Gib, als wäre ich Schuld an dieser Wirtschaft. "Alles ist schwerer geworden, auch für den Fisch. Wir finden ihn überall, gegen uns hat er keine Chance."

Das stimmte schon, war aber falsch adressiert. Schließlich saß Clem am Jagdsitz auf der Brücke vor seiner Fischlupe, dem LUPO, und entschied über das Dasein der Fische. Und er war immer ziemlich bei der Sache. Wir messen den Fisch mit Echolot ein, zeichnen seine Wege vertikal und horizontal auf, und es gibt noch ein paar andere Schikanen, über die man ungern redet. Hochseefischen ist heute ein kompliziertes Zusammenspiel von Fängern, Zubringern, Verarbeitern. In den Fanggründen gehen die Trawler, die kleinen grauen Hunde, auf Jagd. Die Z-Trawler sind größer, so an die zweiundsechzig Meter lang und reichlich zehn Meter breit, viel Schiff für einen Fischer, und wir machen, wenn wir Glück haben, gute vierzehn Knoten. Wir fischen im Verband mit Heckaufschleppen wie die Walfänger, während die kleinen Trawler oder auch Kutter - das Trawl ist im Grunde nichts anderes als unsere alte Kurre - Netz über Steuerbord aufholen. Wir können so an die hundert Tonnen Fisch zwischenlagern, bis zur Übergabe. So geht Hochseefischerei im Nordatlantik heutzutage vor sich, mit mächtig hohen Erträgen, nicht gut für den Fisch.

"EM meint aber", sagte ich bei unserem verflucht kleinen und zähen Eisbein, "Fang und biologische Reproduktion halten sich die Waage." Das war Clems Generalkurs, wie ich wusste.

"Biologische Reproduktion", sagte Clem höhnend, "wenn ich das schon höre. Die Leute fressen zuviel Fisch. Wir sind Räuber, wir plündern die Meere, nach uns die Sintflut, und nun muss diese Wissenschaft, dieser Klugschieter Mangelsdorf, ran und unser schlechtes Gewissen beruhigen."

Er tat ziemlich aufgeregt. Ich habe keine eigene Theorie. Wäre die angebliche Balance noch vorhanden, müssten wir nicht um die halbe Welt fahren für ein paar Tonnen Fisch, sondern würden mit den alten Methoden in uns nahen Gewässern gemütlich weiter fischen können. Was ist da los? Wer kann, baut größere, schnellere, technisiertere Schiffe und jagt, zwar nach Verträgen und Abkommen, aber gefangen wird immer mehr.

"Na, bitte", sagte Clem, "von wegen EM!"

Jedenfalls hat sich der Kabeljau zum Laichen ausgerechnet in die Labradorsee zurückgezogen, in den Eiskeller des Nordwestatlantik. Die Fangsaison liegt in den ersten Monaten des Jahres, und deshalb treffen sich die Fangflotten aller Nationen vor der Davisstraße, dem Tor zur Nordwestpassage.

"Übrigens wird der Fischereikrieg auch nicht bloß mit Statistiken geführt", sagte Clem weiter, während er mit einem Zahnstocher sein Wolfsgebiss säuberte.

Damit war das Thema erledigt, und wir erörterten das Fischproblem von einer besseren Seite. Clemens lobte Heilbutt, auch Seezunge ließ er gelten.

Ich sagte, ich zöge frisch gefangenen Kabeljau allem anderen vor. Das Fleisch habe einen herben, dann auch wieder zarten Geschmack, schneeweiß und fest, es dufte wie Brunnenkresse, aber der Fisch müsse gerade aus dem Wasser kommen, reif und gesund sein. Kein toter Fisch. So was hat man bei Richard auf seinem ollen Logger lernen können, Fischzubereiten nämlich, Braten und Kochen.

"Blödsinn", sagte Clem, "wieso Brunnenkresse? Wie kommst du darauf? Wie riecht denn Brunnenkresse?"

Ich wusste es nicht und sagte mürrisch: "Eben wie Brunnenkresse."

"Das ist doch keine Erklärung", sagte Clemens Gib.

"Dann beschreib mir mal, wie Dieselöl riecht!" Clem legte die Hand unter den Bart, schabte sich den Hals und sagte nachdenklich: "Du hast recht, trotzdem ist es keine Erklärung."

Ich wollte ja auch nichts erklären.

Wir bestellten Kaffee, und Clem sagte, er werde sich um alles kümmern; für jetzt genüge ihm meine mündliche Zusage.

Ich musste mal raus, traf unterwegs einen Bekannten und redete ein paar Minuten mit ihm, bevor ich wieder ins Restaurant ging.

"Trink deinen Kaffee", sagte Clem, "der steht schon eine Ewigkeit hier."

Ich steckte mir eine Zigarette an und trank den inzwischen kalt gewordenen Kaffee.