Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zur Vertiefung und Ergänzung:

Huschke-Rhein (1979): Das Wissenschaftsverständnis in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Kron (1999): Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Krüger (2002): Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

34

2

Hermeneutik

Bei unseren Überlegungen zum Sinn der Methodenreflexion sowie zum Begriff der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ stießen wir bereits auf den Sachverhalt des „Verstehens“. Wir sahen, dass es umstritten ist, diesen innerhalb einer Wissenschaft zu berücksichtigen, weil damit keine „exakte“ Wissenschaft betrieben werden könne. Nun sind jedoch insbesondere die Vertreter der Geisteswissenschaften der Auffassung, dass ein so elementarer Vorgang wie das Verstehen nicht als „vorwissenschaftlich“ ausgeklammert werden darf, sondern dass man ihn eigens zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion machen muss und dies auch kann. Es ist der Inhalt der Hermeneutik, den Verstehensvorgang zu untersuchen und ihn zu strukturieren. Hierbei soll nicht zuletzt eine bestimmte Objektivität des Verstehens-Inhaltes aufgewiesen werden; mit diesem Anliegen hängt es zusammen, dass immer wieder versucht wurde, bestimmte hermeneutische Regeln aufzustellen; auf deren Bedeutung werden wir später noch zurückkommen. A. Diemer (1977, 15) bietet die folgende Definition: „Hermeneutik ist eine theoretische (philosophische) Disziplin, die das Phänomen ‚Verstehen‘, seine Elemente, Strukturen, Typen usw. sowie auch seine Voraussetzung untersucht. Dazu gehört dann auch … die ,angewandte Hermeneutik‘.“

Das Wort „Hermeneutik“ kommt aus dem Griechischen (Broecken 1975, 219). Das zugehörige Verb heißt ἐpμηνεύειν (hermeneúein) und bedeutet dreierlei: aussagen (ausdrücken), auslegen (erklären) und übersetzen (dolmetschen). Diese Bedeutungen scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben; ihnen liegt jedoch eine Grundbedeutung zugrunde: etwas soll zum Verstehen gebracht werden, Verstehen soll vermittelt werden. Also: wenn ich einen Sachverhalt ausdrücke und so zu einer Aussage komme, möchte ich, dass andere diesen verstehen. Das Gesprochene seinerseits soll (von den anderen) verstanden werden; sie müssen es auslegen, deuten. Eine Auslegung, „Interpretation“ liegt insbesondere dann vor, wenn Fremdsprachliches verstanden werden soll. Das lateinische interpretare entspricht dem griechischen hermeneúein, und deshalb heißt der „Dolmetscher“ im Englischen interpreter, d. h. er 35ist beim Übersetzungsvorgang derjenige, der „interpretiert“, auslegt. Wer wüsste vom Erlernen und vom Gebrauch von Fremdsprachen her nicht, dass eine wörtliche Übersetzung meist schlecht oder gar falsch ist und dass der ausgesagte Sachverhalt vom „Geist“ der einen Sprache in den „Geist“ der anderen herübergeholt werden muss?

Unter Hermeneutik haben wir somit die „Kunst der Auslegung“ zu verstehen. Bei dem Begriff „Kunst“ schwingen jedoch Assoziationen mit, die den eigentlichen Sinn verdecken. Von einem romantisch geprägten Kunstverständnis herkommend, legen wir dort das Genialische, Subjektive hinein. In diesem Sinn hätte eine „Kunst der Auslegung“ in einer Wissenschaft wenig zu suchen. Zwar werden wir bei Dilthey noch sehen, dass die Kongenialität beim Verstehensprozess eine Rolle spielt; dennoch muss „Kunst“ in diesem Zusammenhang viel nüchterner verstanden werden, nämlich vom griechischen téchne-Begriff her. Hermeneutik ist dort wie τἐϰνη ἐpμηνευτιϰń (téchne hermeneutiké). Sie stellt demnach so etwas dar wie ein handwerkliches Können und Wissen, eine Kunstfertigkeit; dies schließt wiederum ein, dass nach bestimmten Regeln vorgegangen wird. „Kunst (von Können) bedeutet in der Sprache des 18. Jahrhunderts, z. B. auch bei Goethe, sowohl die strenge Kunst = Technik, wie die schöne Phantasiekunst. Damals heißt also auch der Techniker ein ,Künstler‘“ (Spranger 1959, 66). Hermeneutik als romantisch-kunstvolles, schwärmerisches Vorgehen zu betrachten, würde darum die Sache verfehlen. Wir sollten auch noch beachten, dass „Hermeneutik“ doppelsinnig verwendet wird, zum einen nämlich als die Auslegungskunst selbst und zum anderen als die Theorie der Auslegung (Ritzel 1970, 163).

Wenn die Hermeneutik die „Kunst der Auslegung“ sein soll, so fragt sich, was denn überhaupt ausgelegt und verstanden werden kann. Häufig wird Hermeneutik eingegrenzt auf Textinterpretation. Dies ist zwar ein wichtiges und weites hermeneutisches Gebiet, und an der Textauslegung kann besonders gut deutlich gemacht werden, was hermeneutisches Vorgehen ist. Verstehen im hermeneutischen Sinn erstreckt sich jedoch nicht nur auf Texte. Vielmehr können wir ganz allgemein und vorwegnehmend sagen, dass wir immer dann hermeneutisch vorgehen, wenn wir mit Menschen und mit menschlichen Produkten im weitesten Sinn umgehen (Diemer 1977, 13f, 146ff). Es ist nicht zuletzt im pädagogischen Raum von Bedeutung, diese Weite der hermeneutischen Möglichkeit und Realität zu beachten. Denn sowohl der pädagogische Praktiker wie der Theoretiker gehen ja nicht nur mit Büchern um, sondern beziehen ihr Wissen, ihre ausformulierte Erfahrung aus dem erzieherischen 36Umgang. Dort aber haben sie es mit (meist jungen) Menschen zu tun, die sprechen, gestikulieren, sich zu anderen verhalten, die Dinge produzieren, also malen, schreiben, Mathematikaufgaben lösen etc. All dies und nicht nur systematische Pädagogiken oder Pestalozzis Schriften wollen „verstanden“ werden.

Darum noch einmal: Hermeneutik kann nicht auf Textauslegung eingeengt werden, ohne ihren vollen Gehalt zu verfälschen; Textauslegung ist ein (wichtiger) Spezialfall der Hermeneutik. Hermeneutisches Verstehen geschieht überall dort, wo ein Mensch auf einen anderen Menschen oder auf menschliche Erzeugnisse trifft. So muss etwa auch der Vorgang, wenn ein Archäologe eine Tonscherbe in ihrer Bedeutung einzuordnen versucht, als ein hermeneutischer verstanden werden.

Es würde hier zu weit führen, die Geschichte der Hermeneutik darzustellen (Gadamer 1974; Diemer 1977, 31–116; Broecken 1975, 222–247). Einige wenige Stichpunkte sollen für unseren Zusammenhang genügen: Die griechische Mythologie kennt bereits den Götterboten Hermes; sein Geschäft „ist das hermeneúein …; ihm wird die Erfindung dessen zugeschrieben, was der Verständigung dient, besonders Sprache und Schrift“ (Ebeling 1959, 243). Bei Aristoteles (384–322/21 v. Chr.) taucht der Auslegungs-Begriff zum ersten Mal in einem philosophischen Titel auf: „Peri hermeneias“ („De interpretatione“ – „Über die Aussage“); hingegen verwendet erst 1654 Dannhauser den heutigen Hermeneutik-Begriff zum ersten Mal und zwar in seiner Schrift: „Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrarum litterarum“ (Gadamer 1974, 1062; Diemer 1977, 119). Im Verlauf der Geschichte können grob gesehen drei hermeneutische Strömungen ausgemacht werden:

1. eine philologisch-historische Hermeneutik, die sich im engeren Sinn mit Textauslegung befasst (wie ist etwa die „Odyssee“ Homers zu verstehen?);

2. eine theologische Hermeneutik (wie müssen das Alte und das Neue Testament ausgelegt werden?);

3. eine juristische Hermeneutik, deren Kernfrage die Auslegung und Anwendung von vorgegebenen Gesetzen im Hinblick auf konkrete Fälle ist.

Diese hermeneutischen Einzeldisziplinen waren auf ihr spezifisches Gebiet bezogen und nahmen für dieses eine dienende Funktion ein.

Erst F. Schleiermacher (1768–1834) unternahm es, eine allgemeine Hermeneutik zu entwickeln und sie als eine „Kunstlehre des Verstehens“ überhaupt zu bestimmen, die hinter die speziellen Hermeneutiken 37und deren Vielzahl von Regeln zurückging (Schleiermacher, zit. Ebeling 1959, 244). Diese sollte „von der einfachen Tatsache des Verstehens ausgehend aus der Natur der Sprache und aus den Grundbedingungen des Verhältnisses zwischen dem Redenden und dem Vernehmenden ihre Regeln in geschlossenem Zusammenhang“ entwickeln (Ebeling 1959, 244). W. Dilthey (1833–1911) sah in dieser allgemeinen Hermeneutik die methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Bei Schleiermacher und bei Dilthey liegen unterschiedliche Konzepte einer Hermeneutik vor; in der weiteren Entwicklung ergeben sich wiederum divergierende Ansätze, so etwa dann auch bei H. G. Gadamer. Auf diese drei wichtigen Vertreter werden wir noch näher eingehen.

Wir wollen nun im Folgenden versuchen, uns ein Grundgerüst der wichtigsten Begriffe und Gedanken der Hermeneutik zu erarbeiten. Hierbei geraten wir in die schwierige Situation, dass es keine einheitliche und allgemein anerkannte Theorie der Hermeneutik gibt.18 Wir können darum immer nur auf bestimmte Autoren verweisen; gleichzeitig müssen wir die große Fülle historischer und gegenwärtiger Ansätze außer Acht lassen und müssen häufig so tun, als gäbe es Übereinstimmung hinsichtlich einzelner Begriffe. Exemplarisch werden wir dagegen anschließend auf Dilthey und Gadamer eingehen, indem wir kurze Texte von diesen Autoren interpretieren. Dilthey greifen wir heraus, weil er die geisteswissenschaftliche Pädagogik entscheidend beeinflusst hat und heute noch bedeutsam ist; bei Gadamer ergeben sich neue Möglichkeiten eines hermeneutischen Ansatzes für die Pädagogik. Im Anschluss an die Textinterpretationen wollen wir ausloten, was Hermeneutik für die Pädagogik bedeutet. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses Kapitel über die Hermeneutik einen Schwerpunkt innerhalb unserer Frage nach den geisteswissenschaftlichen „Methoden“ bildet; denn das hermeneutische Verstehen macht den Kern des Erfassens von Erziehungswirklichkeit aus, dem phänomenologische Bestandsaufnahme und dialektisches Reflektieren zugeordnet sind.

2.1 Grundbegriffe der Hermeneutik

2.1.1 Das Verstehen

Der zentrale Begriff der Hermeneutik lautet „Verstehen“. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass damit – zunächst – ein sehr schlichter, alltäglicher Sachverhalt gemeint ist. Er ist uns so vertraut und nah, dass 38wir quasi erst zurücktreten müssen, um ihn wahrzunehmen. „Verstehen ist eine Kunst, die gleich der Logik unbewusst geübt wird, bis die Theorie in der Reflexion über das Verfahren seine Gesetze ins Bewusstsein hebt“ (Broecken 1975, 227; Lassahn 1976, 33). Wir verkehren mit anderen Menschen, sprechen miteinander, lesen Reklameschilder, hören Musik oder folgen einem Vortrag. Ständig „verstehen“ wir: die Gesten des anderen, seine Worte, die Aufforderung der Werbung, eine Melodie, einen geistigen Zusammenhang.

 

Diese Unmittelbarkeit des Verstehens kann plötzlich gestört sein: Der andere macht eine Handbewegung, die uns irritiert, oder wir können dem Gesagten nicht folgen. Es tritt uns unter Umständen schmerzlich ins Bewusstsein, dass wir nicht verstehen, dass aber Verstehen notwendig wäre. Es erweist sich als ein menschliches Grundverhältnis (Dilthey 1961, 207), das reflektiert werden kann und muss. Insbesondere wenn wir den vorwissenschaftlichen Raum verlassen, ist es notwendig, das zunächst selbstverständlich erscheinende Verstehen in die Theorie zu heben: die Aufgabe der Hermeneutik. Verstehen ist dann nicht mehr ein unmittelbarer, unreflektierter Vorgang, sondern es soll sich in seiner Struktur, in seiner Leistungsfähigkeit, in seiner Komplexität zeigen.

Dilthey war es u. a., der den Verstehensbegriff dem Erklären gegenübergestellt hat: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“19 Hiermit sind auch die Bereiche kurz angegeben, denen das Erklären einerseits und das Verstehen andererseits zugeordnet sind. Unter „Natur“ haben wir die Natur im physikalischen Sinne zu verstehen, also insofern sie Gesetzmäßigkeiten verkörpert. Ein Vorgang in der Natur kann darum zurückgeführt werden auf bestimmte andere Vorgänge, die Ursache sind für jenen; man kann die zugrunde liegenden Gesetze aufweisen. So werden etwa Ebbe und Flut durch die Konstellation von Erde und Mond und die Anziehungskraft erklärt. Für das Feld des Verstehens reicht allerdings der Hinweis Diltheys auf das „Seelenleben“ nicht aus, insbesondere wenn wir darunter nur individuelles Seelenleben fassen; wir sagten bereits, dass alles Menschliche, alles „Geistige“ verstanden wird, allerdings insofern auch das „Seelenleben“.

Zum Erklären liegt der wesentliche Unterschied des Verstehens darin, dass wir es dabei mit Dingen und Vorgängen zu tun haben, die noch etwas anderes bedeuten. H. J. Helle (1977, 46; 11–46) stellt für die Verstehende Soziologie und die Theorie der Symbolischen Interaktion fest, dass „Verstehen als Nachvollzug des Vorgangs der Bedeutungsverleihung“ begriffen wird. Eine Geste ist ja gerade nicht damit „verstanden“, sondern nur „erklärt“, dass auf den Weg von Arm und Hand, auf 39die Muskelkraft, auf die Übertragung durch Sehnen, auf den Energieverbrauch hingewiesen wird. Eine Geste wird jedoch erst zur Geste durch das, was sie bedeutet: zur Begrüßung zuwinken, jemanden herbeiholen, einen anderen abweisen usw. Das wird verstanden – im einzelnen Fall vielleicht auch nicht oder nicht ganz, aber entscheidend ist unsere geistige Bewegung, die wir hier vollziehen oder vollziehen wollen und die eine andere ist als Erklären. In diesem Sinn kann ich ein Naturgesetz nicht verstehen; ich kann nur hinnehmen, dass es so ist, also feststellen.

Ein anderes Beispiel: Einen Stein können wir im Sinne der Naturwissenschaft analysieren, also nach Gewicht, Umfang, Inhalt, Fallgeschwindigkeit, nach seiner chemischen Zusammensetzung, nach seiner Entstehung. Derselbe Stein kann aber auch von einem Steinzeitmenschen behauen sein; er mag in einer Mauer eingefügt sein oder zur Beschwerung des Dachs auf einer Hütte liegen. Die natürlichen Eigenschaften können der Erklärung zugeordnet werden; seine menschliche Verwendung als Werkzeug, als Baumaterial, als Gewicht wird dagegen verstanden.20

Analog haben wir ein konkretes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern zu sehen, das es zu verstehen gilt; pädagogisch bedeutsam ist dabei nicht, in welcher räumlichen Distanz es sich abspielt, mit wie viel Phon Lautstärke miteinander gesprochen wird etc., sondern ob es sich um einen bloßen Umgang miteinander oder um ein erzieherisches Verhältnis handelt, ob es für die Kinder förderlich oder schädlich ist – mit physikalischen Daten allein wäre also hier noch nichts gewonnen; pädagogisch interessant ist vielmehr, was sie bedeuten.

Bei der Unterscheidung von „Erklären“ und „Verstehen“ müssen wir beachten, dass es sich dabei um den definitorischen Versuch handelt, zwei Sachverhalte auseinander zu halten. Wir dürfen nicht übersehen, dass wir umgangssprachlich mit dem Wort „verstehen“ vielerlei Vorgänge bezeichnen und umgekehrt den eben beschriebenen Sachverhalt „Verstehen“ mit einer Reihe anderer Begriffe belegen. „Erklären“ und „Verstehen“ werden darum umgangssprachlich durchaus wechselweise verwendet. „Verstehen“ im hermeneutischen Sinn ist ein terminus technicus . Schematisch kann „Verstehen“ vom umgangssprachlichen Gebrauch und von „Erklären“ abgegrenzt und in sich selbst differenziert werden, wie dies in Abbildung 3 angedeutet ist.21

Verstehen ist das Erkennen von etwas als etwas (Menschliches) und gleichzeitig das Erfassen seiner Bedeutung: Irgendwelche Laute erkenne ich als Worte und erfasse deren Bedeutung.

40


Abb. 3: Abgrenzung und Differenzierung von „Verstehen“

Erklären dagegen ist das Herleiten von Tatsachen aus Ursachen, das Ableiten einer Gegebenheit von einem Prinzip (Diemer 1971, 9f): Die Fallgesetze erklären das Fallen des Steines. Wir können noch einen Schritt weitergehen und nicht-kausale, nicht-gesetzmäßige Vorgänge mit einbeziehen, sodass wir sagen können: Die Unkonzentriertheit eines Schülers wird erklärt durch seine mangelnde Lernmotivation oder durch die häuslichen Verhältnisse oder durch seinen schlechten Gesundheitszustand etc. Es ist sinnvoll, nicht nur im Bereich der „Natur“ von Erklären zu sprechen. Denn auch im humanen Bereich führen wir ja etwas auf ein anderes zurück. Nur sprechen wir dann nicht von kausalen Ursachen, sondern von Gründen, die mit dem Moment der Freiheit einher gehen. Erklären im Bereich des Menschlichen geht darum immer einher mit Verstehen; denn die Gründe sind etwas, was verstanden werden muss. Zu beachten ist auch, dass mit „Erklären“ hier nicht im umgangssprachlichen Sinne ein „Erläutern“ gemeint ist, etwa wenn wir sagen: „Ich erkläre dir, wie dieses Buch zu verstehen ist“.

Häufig wird bestritten, dass es sinnvoll ist, die Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären zu machen (Oppolzer 1969, 8; Röhrs 1971, 14f). Wir betonen nochmals, dass es sich dabei um ein begriffliches Instrumentarium handelt, das dazu dient, bestimmte Sachverhalte sichtbar zu machen. Im Hinblick auf das Verstehen muss beachtet werden, dass es bei diesem darum geht, was jemand tut oder als was etwas erscheint, und nicht darum, warum er es tut oder warum etwas so ist, 41wie es ist (Wimmer 1978, 30). Auf diese Warum-Frage antworten wir durch Erklären, indem wir Ursachen und Gründe angeben. Im kausalen Bereich der Naturvorgänge ist das Erklären im Prinzip eindeutig (Beispiel: fallender Stein); beim Erklären im menschlichen Bereich muss immer auch Verstehen mit dazukommen (Beispiel: unkonzentrierter Schüler). Das macht das Auseinanderhalten der Begriffe Verstehen/Erklären schwierig;22 dennoch erscheint uns deren theoretische Unterscheidung im Hinblick auf die hermeneutische Frage sinnvoll.


Abb. 4: Verstehen – Erklären

42

Nach dieser begrifflichen Unterscheidung zum „Erklären“ wollen wir nun das Verstehen selbst etwas genauer betrachten. Wir haben gesehen, dass im Verstehen etwas als etwas erscheint, und können folgende Strukturmomente unterscheiden:

1. Wir nehmen ein Ding, einen Vorgang sinnlich wahr.

2. Wir erkennen dieses oder diesen als etwas Menschliches.

3. Wir verstehen die Bedeutung, den Sinn dieses Menschlichen.

Den gesamten Vorgang in seiner Einheit bezeichnen wir als Verstehen. Dies führen wir uns anhand einer einfachen Grafik vor Augen und stellen nochmals zur Erläuterung den Vorgang des Erklärens daneben: Ein bestimmtes Ding oder ein Vorgang wird auf eine oder mehrere Ursachen bzw. Gründe zurückgeführt. (siehe Abb. 4)

Wenn wir eine Definition von „Verstehen“ zu Hilfe nehmen, die uns W. Dilthey gibt, dann können wir uns diesen Begriff noch einmal von einer etwas anderen Seite her klar machen: Jene lautet nämlich: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen“ (Dilthey 1961, 318).

Welche Momente machen hiernach das Verstehen aus? Vereinfachen wir den Satz Diltheys; dann lautet er: Wir erkennen aus Zeichen ein Inneres. Diese „Zeichen“ werden näher bestimmt: Sie sind von außen gegeben, und wie sie gegeben sind, erfahren wir auch, nämlich „sinnlich“, d.h. über unsere Sinne. Die „Zeichen“ haben demnach zwei Aspekte: ein Äußeres und ein Inneres. Verstehen besteht darin, durch das Äußere ein Inneres zu erkennen. Dieses Verhältnis stellen wir in Abbildung 5 dar.

Diesen abstrakten Sachverhalt wollen wir uns an einigen Beispielen verdeutlichen. Auch im Alltagsleben sprechen wir von „Zeichen“, so etwa bei Verkehrszeichen. Ein bestimmtes nehme ich durch Anschauen folgendermaßen wahr: rund, weiß, roter Rand; dies ist das „Äußere“ des Zeichens. Sein „Inneres“ besteht in seiner Bedeutung: Auf dem so ge-kennzeichneten 43Weg darf nicht gefahren werden. Das Verstehen beruht also in dem Erkennen der Bedeutung des Verkehrszeichens. – Was geschieht denn, indem der vorliegende Text gelesen wird? Zeichen reiht sich an Zeichen: nämlich Buchstabe an Buchstabe, Wort an Wort. Deren Äußeres sind bestimmte schwarze Linien auf dem Papier, irgendwelche Formen: g – 0 –z – T. Aber der Leser versteht ihre Bedeutung, erkennt sie als Buchstaben, er versteht die Bedeutung der Worte, der Sätze, versteht also ein „Inneres“, einen Sinn. Es könnten auch andere Zeichen auf dem Papier stehen, z. B. ; sie ergeben keinen Sinn, weil ihnen von niemandem ein Sinn verliehen worden ist.


Abb. 5: Verstehen nach Dilthey, I

Dilthey bringt im Anschluss an die zitierte Definition als Beispiele u. a. das Lallen eines Kindes und das Schauspiel „Hamlet“. Das Äußere des Lallens sind Laute, die wir als unartikuliert kennzeichnen würden; ihr Inneres kann Wohlbehagen bedeuten; das Lallen ist also nicht sinnlos – es ist der Ausdruck von etwas. Wesentlich komplizierter gestaltet sich das Verstehen des „Hamlet“: Es wird gesprochen; die Schauspieler gestikulieren; sie agieren miteinander und gegeneinander; es gibt ein bestimmtes Bühnenbild; es entspinnt sich eine vielschichtige Handlung; der Zuschauer erlebt Gefühlsausbrüche, Böses und Gutes, Abstoßendes und Sympathisches usw. usw. Dies alles wird über „Zeichen“ erfahren, die sinnlich wahrgenommen werden. Aber was sie im Einzelnen und in ihrem Zusammenhang bedeuten, ob wir vor allem dieses Schauspiel tatsächlich verstehen – dies ist kaum zu entscheiden. Dennoch bemühen wir uns um Verständnis. Aber auch jeder Regisseur, jeder einzelne Schauspieler legen das Stück und die einzelne Rolle aus; sie interpretieren den Text Shakespeares, der obendrein noch ins Deutsche übersetzt worden ist. Auslegung und Interpretation sind wesentliche Momente einer Theateraufführung, ebenso des Zuschauens. Hier geschieht 44ein komplexer, differenzierter hermeneutischer Vorgang. Dieser dauert nicht nur die Stunden der Aufführung, sondern reicht weit in das Leben aller Beteiligten hinein, und auch dies nicht nur zeitlich; er betrifft die Erlebnisfähigkeit, das Wissen, das geschichtliche Bewusstsein, die ethische Grundeinstellung etc. All dies geht in den Verstehensvorgang ein.

 

Werfen wir nun auch einen Blick auf die reine Textauslegung, und stellen wir uns vor, wir würden den Stanser Brief von Pestalozzi lesen. Auch hier haben wir zunächst das simpel sinnlich Gegebene: bedrucktes Papier; aber ähnlich wie beim Schauspiel eröffnet sich beim Vordringen in den Gehalt und Sinn des Textes eine komplizierte Welt; Historisches, Sprache, Gefühlsmäßiges, ethisch Gesetztes, Verantwortung für verwahrloste Kinder, die Frage nach der Bildsamkeit und der Erziehung überhaupt durchdringen sich und wollen von uns verstanden werden. Jenes „Innere“, von dem Dilthey spricht, ist also umfassend und betrifft unser „gesamtes Leben“, wie er sagen würde. Zugleich wurde auch sichtbar, dass mit diesem „Inneren“ nichts Mystisches gemeint ist. Wir werden später noch näherhin zu entfalten haben, was mit diesem Terminus angedeutet ist.

Kehren wir noch einmal zu dem einfachen Schema zurück, das wir im Anschluss an Dilthey aufgezeichnet haben (Abb. 5): Verstehen als Erkennen eines Inneren am Äußeren eines Zeichens. Die skizzierten Beispiele erlauben uns, jenes Schema inhaltlich ein wenig auszufüllen. Das Verstehen kann als Interpretation und Auslegung – insbesondere von Texten – verstanden werden. Das „Innere“ zeigt sich als Sinn und Bedeutung, während das „Äußere“ als Ausdruck jenes Sinns verstanden werden kann; dies leuchtet unmittelbar bei Gesten etc. ein. Die Zeichen, die verstanden werden, sind nach Betti (1972, 12) die „sinnhaltigen Formen“; an sie als die hermeneutischen Gegenstände stellt Dilthey die Forderung, dass sie möglichst unverändert und dauernd zugänglich sein müssten, um zu einem möglichst allgemein gültigen Verstehen gelangen zu können. Er spricht darum von „dauernd fixierten Lebensäußerungen“ (Dilthey 1961 b, 217). Mit „Lebensäußerungen“ sind menschliche Produkte gemeint, Äußerungen des menschlichen Geistes, die – in der Regel – schriftlich niedergelegt sind. Es versteht sich von selbst, dass neben Texten auch Kunstwerke, notierte Musik, archäologische Funde usw. hierzu zählen. Wenn wir diese Momente nochmals zusammenfassen, dann ergibt sich das Schema der Abbildung 6.

Bringen wir dieses Schema mit Abbildung 4 in Verbindung, so werden wir sehen, dass genau genommen zwischen beiden nur ein einziger 45Unterschied besteht. Wir gingen dort davon aus, dass im Verstehensvorgang zunächst ein Sinnliches gegeben ist und dieses als Menschliches, als Geistiges verstanden wird. Dieses Geistige aber ist für Dilthey der Ausgangspunkt seiner Definition in Form des „Zeichens“; hieran unterscheidet er das sinnlich Gegebene und die Bedeutung, die dieses hat. Anders ausgedrückt: Dilthey setzt mit seiner Definition und mit dem Begriff des „Zeichens“ voraus, dass dieses schon als solches verstanden ist. Dies ist wohl der Vorgang, wie Verstehen faktisch geschieht; Wahrnehmen eines Gegenstandes oder Vorgangs und ihn als Menschliches zu verstehen, fallen zusammen. Das mag der Grund dafür sein, dass Verstehen auch theoretisch oft nicht in den Blick kommt.


Abb. 6: Verstehen nach Dilthey, II

Die aufgewiesene Struktur des Verstehens setzen wir nun voraus und versuchen, einen weiteren Aspekt bewusst zu machen. In hermeneutischem Sinn hat vorrangig das Sinn-Verstehen Bedeutung, das vom (bloß) psychologischen Verstehen abgegrenzt werden muss (siehe Abb. 3). Diese Unterscheidung wird allerdings von den Kritikern der Hermeneutik häufig nicht beachtet; aus diesem Grund wird den Hermeneutikern vorgeworfen, dass sie über subjektive Aussagen nicht hinauskämen. Beispielsweise kritisiert Huwendiek (1977, 72f) Stegmüller, der 46„im Grunde an der Hermeneutik und ihrem Erkenntnisanspruch vorbei argumentiert. Die Reduktion des Verstehens auf eine psychologische Einstellung, nämlich ,naives‘ Hineinversetzen, wird schon der ,traditionellen‘ Hermeneutik Diltheys nicht gerecht (Sinnverstehen).“

Versuchen wir, an einem Beispiel den Unterschied von psychologischem und Sinn-Verstehen zu erfassen: Mozarts „Kleine Nachtmusik“ kann man in zwei völlig unterschiedlichen Weisen spielen und anhören. Einmal mit „Gefühl“, ein andermal „sachlich“; man kann in die Musik „hineinhorchen“, „hineinfühlen“, kann nachempfinden wollen, was Mozart stimmungsmäßig erlebt hat, als er diese Musik niederschrieb, man kann sich sogar Vorgänge oder Landschaften ausmalen, die zu dieser Musik passen; wenn man dies dann reflektiert, kann man sagen: ich „verstehe“ diese Musik so oder so – ein anderer wird sie ähnlich oder auch ganz unterschiedlich „verstehen“. Die „sachliche“ Möglichkeit dagegen, diese Musik zu „verstehen“, müsste so umschrieben werden: Hören der musikalischen Gestalt, also der Melodiebögen, der Harmonien, der Tempi, des Verhältnisses der einzelnen Stimmen zueinander, der Gestaltung von Details wie Legato oder Staccato, Phrasierungen, Betonungen usw. usw.; dies allerdings nicht im analytischsezierenden Sinn, wie hier beschrieben, sondern als schlicht gehörte Gegebenheiten. Die erste Auffassung, die gefühlsmäßige, ist typisch romantisch, sie liegt auf der psychologischen Ebene; sie mag vielleicht dem so Erlebenden „etwas geben“; sie hält sich aber tatsächlich im subjektiven Bereich auf und zerstört letztlich jede Musik auf diese Weise – wie es insbesondere mit der „Kleinen Nachtmusik“ häufig geschieht.

Für die zweite Auffassung gibt es hingegen sachliche Notwendigkeiten, die beachtet werden müssen. Ein einzelner Ton ist für sich gesehen noch keine Musik, er braucht den Zusammenhang der musikalischen Gestalt, einer Melodie, eines Rhythmus, der Harmonie: Er steht in einem Sinnzusammenhang; erst von diesen Bezügen her gesehen erhält er einen Sinn. Dieser Sinn ist das Übergreifende; ähnlich ist ein vorgegebenes Tempo ein Übergeordnetes, das nicht umgangen werden darf; tue ich dies dennoch aus gefühlsmäßigen Gründen, dann missverstehe ich jenen bestimmten musikalischen Sinn, trage etwas hinein, was das musikalische Stück nicht enthält; ich interpretiere also falsch. „Das Objekt des historischen Studiums der Musik ist nicht der hinter dem Tonwerk gesuchte Seelenvorgang, das Psychologische, sondern das Gegenständliche, nämlich der in der Phantasie auftretende Tonzusammenhang als Ausdruck“ (Dilthey 1961b, 221, 260; auch Bollnow 1955, 212ff, betont die Unterscheidung von psychologischem und Sinn-Verstehen.).

47

Unbestritten sei allerdings, dass auch auf der angedeuteten sachlichen Ebene vielfältige Interpretation möglich ist; die unterschiedlichen Schallplattenaufnahmen desselben Stückes beweisen es. Wenn keine subjektiv-psychologische Interpretation vorliegt, dann liegt die Differenz auf der Sinn-Ebene – wir stellen die Frage, wie dies möglich und legitim ist, noch zurück. Bedeutsam für uns ist in hermeneutischer Hinsicht, dass es neben dem subjektiven Einfühlen noch eine andere Ebene gibt, die der vorgegebene Sinn ausmacht. Diese Ebene, also den Sinn zu verstehen, ist die vordringliche hermeneutische Aufgabe. Verstehen ist der „Weg zur Sinnfindung“, „das Erfassen eines Sinns“ (Broecken 1975, 221, 251).

Eines dürfte bei unserem Beispiel außerdem sichtbar geworden sein: „Sinn“ ist hier nichts Mysteriöses, Metaphysisches,23 etwa in der Bedeutung des Slogans „Ohne Gott ist alles sinnlos!“. Jener angeführte musikalische Sinn meint den Bedeutungszusammenhang, der sich sachlich ergibt. Ebenso kann ein Lehrer nach dem Sinn oder der Bedeutung des störenden Verhaltens eines Schülers fragen. Wenn er diesen Sinn erfasst, wird er den Schüler verstehen; es ist beispielsweise denkbar, dass der Tod eines nahen Verwandten den Schüler verstört, aus dem Lot gebracht hat und er sich selbst in seiner Existenz bedroht fühlt. Von dorther erhält sein auffälliges Verhalten einen Sinn. An diesem Beispiel sehen wir darüber hinaus, dass jener hermeneutisch verstandene Sinn durchaus Bezug haben kann zu einem „letzten Sinn“, der den Verstehens-Horizont unseres Lebens, unserer Existenz ausmacht.24

Dasjenige, was verstanden wird, befindet sich quasi vor einem Horizont, von dem her es erst als das verstanden werden kann, was es ist. Das Verstandene verweist auf anderes; es steht in einem Verweisungszusammenhang (Dilthey 1961b, 232ff). „Was immer man unter Sinn versteht, er impliziert einen Verweisungszusammenhang, eine Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Ausdruck und Ausgedrücktem, Reduktion und potentieller Komplexität, die nur einem Wesen zugänglich sind, das der Verweisungen über den aktuellen Bewußtseinsinhalt hinaus, des Erfassens von etwas als etwas, also des Denkens und der Sprache fähig ist“ (Broecken 1975, 220). Wir erinnern uns an die Struktur des Verstehens, die von einem „als“ bestimmt ist: Ein bestimmter Laut wird als Wort und dieses als Bedeutung von etwas verstanden. Der Wort-Sinn steht in dem größeren Zusammenhang des Satzes, dieser gehört in ein ganzes Gespräch etc. Hier wird nochmals ein Unterschied zum Erklären sichtbar; denn das Verstehen geht auf den Sinn aus, der für sich ein Ganzes ist; so werden die etwa 700 Seiten der „Kritik der reinen 48Vernunft“ von Kant nur von ihrem einzigen Sinn her verständlich, nämlich von der transzendentalen Methode her; wer diesen einen Sinn – die apriorische Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis – versteht, versteht auch dessen Entfaltung in dem gesamten Werk – anders nicht.