Lilien im Park

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Lilien im Park
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Helfried Stockhofe

Lilien im Park

Vorwort

Unter dem Titel Psychotherapiegeschichten hatte ich vor einigen Jahren, am Ende meiner Berufstätigkeit als Psychotherapeut, mein erstes Buch geschrieben. Zu einer Veröffentlichung konnte ich mich damals aber aus verschiedenen Gründen nicht entschließen. Im Jahr 2016 habe ich die Psychotherapiegeschichten überarbeitet, in zwei Bücher aufgeteilt und veröffentlicht. Der Psychotherapie-Roman Lilien im Park ist also eigentlich das erste meiner bisherigen sechs Taschenbücher. Wer die anderen gelesen hat, wird diese chronologische Reihenfolge bemerken!

Hier im Buch Lilien im Park wird die Romanfigur der Psychotherapeutin Alina Winner eingeführt, die in allen Büchern eine mehr oder weniger dominierende Rolle spielt. Sie, ihre Patienten und Kollegen gewähren dem Leser immer wieder einen Einblick in die Welt der Psychotherapie.

In allen Büchern habe ich versucht, realistische Informationen zur Theorie und Praxis der Psychotherapie, natürlich auch eigene Erfahrungen und manchmal auch aktuelle Ereignisse, in eine spannende fiktive Romanhandlung einzubauen.

Eine besondere Stellung nehmen die beiden Taschenbücher Begegnungen im Bayerischen Wald und Alles kehrt wieder zurück ein. Hier liegt ein zusätzliches Gewicht auf der Region, in der ich lebe. Die Handlungen der anderen Bücher könnten auch woanders spielen.

Die beschriebenen „Fälle“ in allen meinen Büchern sind selbstverständlich nicht authentisch, aber in jeder Psychotherapiepraxis werden Menschen mit solchen oder ähnlichen Symptomatiken und Schicksalen behandelt.

Natürlich sind die Namen aller handelnden Personen immer frei erfunden. Übereinstimmungen mit den Namen realer Personen wären rein zufällig.

Obwohl immer Kriminalfälle eine Rolle spielen, ist die Handlung frei von belustigenden Übertreibungen, wie sie in manchen populären Heimatkrimis anzutreffen sind. Aus Mitgefühl und Respekt vor den teils dramatischen Schicksalen von Psychotherapiepatienten bleibe ich bei einer realistischen Darstellung. Vermutlich fehlt mir auch die Begabung für derben Humor...

Ein Überblick zu meinen bisherigen Veröffentlichungen findet sich am Schluss des Buchs.

Aus Gründen leichterer Schreib- und Lesbarkeit verwende ich die traditionellen männlichen Formulierungen (z.B. Patienten statt Patienten/innen), auch wenn aus dem Zusammenhang klar wird, dass damit beide Geschlechter gemeint sind. Ich hoffe, das stört meine Leserinnen und Leser nicht!

Helfried Stockhofe

Maikäfer, flieg!

Der Vater ist im Krieg.

Die Mutter ist im Pommerland.

Pommerland ist abgebrannt.

Maikäfer, flieg!

(Deutsches Kinderlied)

Lilien im Park

1

Es ist immer dasselbe. Die Dinge hängen im Kopf und kommen einem in den Sinn, ob man nun will oder nicht. Es muss nicht immer Spätherbst sein, wenn Stefan George auftaucht: „Komm in den totgesagten park und schau“. Aber es muss natürlich immer ein Park sein. Ein Park wie dieser mit hohen Bäumen, um die sich Efeu windet, dazwischen ein kleiner dunkler Teich, an dem der Weg vorbeiführt, ein sandiger aber dennoch fester Weg, bestreut mit ersten farbigen Blättern.

Aber es ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Denn es riecht nach Benzin. Dort hinten sitzen einige Arbeiter in orangefarbenen Anzügen auf einer Parkbank und plaudern. Die haben es gut! Sie sind bei der Stadt angestellt. Die lassen es sich gut gehen!

Immer diese Vorurteile! Warum muss ich nur so sein? Immer gleich bei der Hand mit Neid und Abwertung! Vielleicht, weil ich selber nicht gut drauf bin. Diese Männer haben es sicher auch nicht leicht! Stehen das ganze Jahr schwitzend im Hundekot, wenn sie das Gras mähen mit ihren lärmenden und nach Benzin stinkenden Motorsensen. Und was sie sonst noch alles tun – ich will es gar nicht wissen.

Was denken sie sich, wenn sie sich abschotten vom Lärm mit ihrem Ohrenschutz? Was denken sie sich jetzt, wenn sie dasitzen und einen Mann auf sich zuspazieren sehen. Reden sie über mich?

Ein Lehrer..., ein Lehrer, denn wer sonst hat schon mitten am Tag Zeit, im Park herumzulaufen.

Auf den Gesichtern der Orangefarbenen liegt der kommende Herbst.

Wieder so eine Formulierung, die mir im Kopf hängt! Wo hab ich die her?

Und wie es herausdampft aus ihren Schutzanzügen! Lieber Abstand halten!

Grüße ich sie oder sollen sie zuerst mich grüßen? Schauen sie hoch?

Nur einer entdeckt meinen flüchtigen Blick. Er nickt. Ich sage Servus. Sollte ich Guten Tag wünschen oder Grüß Gott? Das wäre doch viel zu förmlich! Nun schauen alle kurz auf und murmeln Servus. Vermutlich bin ich total uninteressant für sie. Keiner wird sich über mich Gedanken machen. Nur ich mache mir Gedanken.

Die späten rosen welkten noch nicht ganz“. Stefan Georges Herbstgedicht geht mir einfach nicht aus dem Sinn. Die „späten rosen“ und „die ranken wilder reben - Und auch was übrig blieb von grünem leben“. Das Totgesagte, Welkende und der Rest vom Leben.

Warum kann ich nicht einfach nur den „schimmer ferner lächelnder gestade – Der reinen wolken unverhofftes blau“ , die erhellten „weiher und die bunten pfade“ wahrnehmen? Das Heitere will sich einfach nicht in den Vordergrund schieben! Typisch.

Ob mir die Orangefarbenen noch nachschauen? Nein Christian, dreh dich nicht um! Was sollen sich die Arbeiter denken!

Eine lange Straße. Lang und langweilig. Das Gebäude liegt aber sehr weit draußen! Dort, wo die Mieten vielleicht noch billiger sind und es noch genügend Parkplätze gibt. Ich hätte doch mit dem Auto hinfahren sollen. Hoffentlich komme ich nicht zu spät. Bis ich dort bin, könnte ich noch einmal alles durchgehen. Und überlegen, was ich der erzähle. Was wird sie mich fragen?

2

September 2012. Der Mann, der mit Stefan George im Kopf durch den Park gegangen war und danach auf dieser langen Straße lief, trug eine blaue Jeans und ein hellgraues Jackett mit Lederaufsätzen an den Ärmeln. Keiner weiß, wozu diese Aufsätze gut sind. Vielleicht sind sie dafür da, dass das Kleidungsstück an den Ellbogen nicht abgewetzt wird, wenn dieser Mann am Schreibtisch sitzt und seinen müden Kopf mit den Händen abstützt.

Der Mann war 42 Jahre alt. Er musste oft seinen Kopf abstützen, denn er war ein Lehrer. Der Mann hieß Christian Aufwieser.

Als Lehrer war er nie besonders beliebt und sein Unterricht war nur durchschnittlich, aber er war immer da, wenn man ihn brauchte. Auf ihn war Verlass! Als ob das das wichtigste Kriterium wäre. Aber wenn man sonst zu wenig vorweisen kann... Er war nicht geschickt und nicht gemein genug, um sich mittels eines autoritären Lehrerverhaltens ein Gefühl der Größe zu verschaffen. Oder war er einfach nur zu schwach dafür? Er war tugendhaft: Pünktlichkeit und Genauigkeit, geringe Fehlzeiten und immer bereit, den Unterricht kranker Kollegen zu übernehmen - das waren seine Stärken. Ob die anderen diese überhaupt registrierten? Ansonsten war er doch als Kollege und als Lehrer eine graue Maus. Um sich und den anderen zu beweisen, was in ihm steckt, hatte er sich immer angestrengt. So ging das 12 Jahre lang. 12 lange Jahre.

Dann kam eine Phase, in der sich sein Körper wehrte. Sein Körper, der sonst immer mitspielte; der in jungen Jahren durchtrainiert war und davon lange gezehrt hatte; der noch immer gut gebaut erschien, zumindest so lange die Kleidung die doch schon schlaffer werdenden Partien kaschierte und die älter werdende Haut verdeckte. Anfang 40 steht man in der Mitte des Lebens, da hat es schon Spuren hinterlassen. Vor zwei Jahren also, nach 12 Jahren nervenaufreibenden Lehrerdaseins, begann für Christian Aufwieser das Herz zu schlagen. Ich habe ein Herz! Jetzt spürte er es klopfen, fühlte es am Handgelenk oder am Hals, zählte die Schläge, bemerkte die Unregelmäßigkeiten, die Stolperer. Und diese waren bald überall, im Bauch, im Kopf, im entzündeten Zeh. Im Spiegel sah er sein Herz pochen, so als wollte es aus der Brust herausspringen.

Und Christian dachte nach. Er fragte sich, wie es möglich sein soll, dass ein Herz so viele Jahre immer weiter schlägt, immer weiter und nie ermüdet. Aber es gab viele alte Menschen und das gab ihm die kleine Hoffnung, auch sein Herz könnte noch einige Jahre durchhalten. Er wusste, dass man das Herz trainieren kann, indem man es anstrengt. Ist halt auch nur ein Muskel. Er begann zu joggen, aber das machte ihm keinen Spaß. Das Schwimmen hatte man ihm empfohlen, aber das kalte Wasser war ihm schon immer ein Graus. Radfahren, ja das war eine Möglichkeit. Aber wie sollte er die sportlichen Aktivitäten einbauen in seinen mit Arbeit angefüllten Alltag? Unterrichten, korrigieren, vorbereiten – er nahm alles sehr genau, wohl immer viel zu genau. Danach konnte er sich zu nichts mehr aufraffen, schon am frühen Abend schlief er erschöpft ein.

Dann, im neuen Schuljahr, kamen die ersten Tachykardien: Völlig überraschend lief der Herzschlag davon, er raste. 120, 144, ja 172 Schläge die Minute oder gar noch mehr. Zuerst hart, dann irgendwann ganz leise, kaum mehr spürbar. Um sich zu beweisen, dass er noch am Leben war, ging er hin und her. So lange ich noch laufen kann, lebe ich noch! Aber das Herz beruhigte sich nicht. Dann übergoss er sich seine Arme mit kaltem Wasser, hielt die Luft an, presste sie gegen den Bauch, probierte alles, was ihm seine Schwester geraten hatte. Seine „kleine“ Schwester Annabell, die in einer Arztpraxis das Mädchen für alles war. Und die beruflich oft mit solchen Herzrasern zu tun hatte. Aber ihre Tipps halfen nicht viel. Das Herz beruhigte sich, wenn es sich beruhigen wollte. Das ängstigte ihn zusätzlich: Er hatte es nicht unter Kontrolle, hatte keine Macht darüber. Das Rasen kam und ging. Als es einmal eine halbe Stunde lang anhielt, gab er den Kampf auf. Er ergab sich seinem Schicksal, schloss mit seinem Leben ab, vertraute sein Leben seinem Herzen an. Das half! Da wurde es ruhiger. Und das schenkte ihm ein unglaubliches Gefühl der Erleichterung. Sollte es doch noch nicht so weit sein? War sein Tod heute noch nicht vorgesehen?

 

Die Phase, in der Christian die Herzproblematik nach solchen Anfällen wieder verdrängen und einfach weiterleben konnte, diese Phase war inzwischen längst vorbei. Das Herz beschäftigte ihn nun angstvoll im Alltag. In den Schulferien erlebte er aber doch einmal Zeiten, in denen er sich fühlte wie früher, jung und gesund. Aber das hielt nicht lange vor. Dennoch wollte er nicht wahrhaben, dass irgendetwas an seiner Lebensart nicht stimmen sollte. Es gab für ihn ja keine Alternative. Wenn ich etwas mache, dann richtig! Das war seine Devise. Und ist es bis heute. Damals glaubte er noch, es wäre seine freie Entscheidung, dass er sein Leben so führte. Allenfalls meinte er, dass seine Arbeit ihm alles so vorgab. Damals spürte er noch nicht, dass ihm tatsächlich innerlich die Alternative fehlte. Er wurde durch seine unbewussten Ängste und Antriebe dazu gebracht, so zu leben! Aber das sollte er erst später erfahren.

Plötzlich war ihm alles zu viel. Nicht die Schule. Nein, die anhaltende Herzangst und die immer wiederkehrende Herzsymptomatik wurden ihm zu viel. Er folgte dem Ratschlag seines Arztes, zuerst einmal alles gründlich untersuchen zu lassen. Seine Angst hatte seinen Stolz gebrochen. Er ließ sich durchchecken, absolvierte alle EKGs, die im Angebot waren. Der Arzt nannte ihn irgendwann einen „Herzphobiker“ und verweigerte ihm weitergehende Untersuchungen. Er ersparte sie ihm! Es war ein guter, erfahrener Arzt. Er legte ihm nahe, Betablocker zu nehmen. Die seien gut, auch gegen den psychischen Stress. Widerwillig begann Christian, Tabletten zu schlucken. Es kratzte an seiner Größe, dass er sich dem Heer der Betablocker schluckenden Männer anschließen musste. Aber zum Heer der „Gesunden“, die einen Herzinfarkt erleiden, wollte er auch nicht gehören.

Rückblickend glich die danach folgende Zeit tatsächlich einer Erholung. Er hatte mit Medikamenten etwas unter Kontrolle gebracht. Kontrolle über sich zu haben, war ihm immer wichtig, überlebenswichtig. Aber auch das war ihm damals noch nicht bewusst. Er fühlte sich nun nicht mehr so beherrscht, nicht mehr so ausgeliefert an seinen Körper, den er in den Jahren zuvor zum ersten Mal als verwundbar erlebt hatte. Diese Medikamenten-Kröte musste er schlucken.

Sogar sein verkümmertes Privatleben kam etwas in Schwung. Im Sommer schloss sich Christian einer kleinen Gruppe Männern an, die das Radfahren entdeckt hatte. Seine Schwester Annabell hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Er hielt es aus, nicht in allem der Beste zu sein, bemühte sich aber, seine Konditionsdefizite schnellstens auszugleichen. Er hatte sich sogar einen Fahrrad-Heimtrainer gekauft. Aber sein Herz schickte ihm schon wieder die ersten Warnzeichen. Er war wieder zu ehrgeizig!

An der Schule gab es Veränderungen im Führungspersonal. Christians unmittelbarer Chef wurde ein fauler unangenehmer Typ, der aus einer anderen Schule zu ihnen versetzt worden war. „Hochgelobt“, wie man sehr schnell erkennen musste. „Hochgeschlafen“ wäre Christian lieber gewesen. Also eine Frau als Chefin. Der hätte er gut etwas beweisen können. Diese Illusion gestattete er sich. Bei einem Chef fühlte er sich sehr schnell als kleiner Junge, bei einer Chefin wäre das anders. Oder doch nicht? Er hatte ja mit Frauen keine Erfahrung.

Der neue Direktor hatte ihn bald auf dem Kieker. Einerseits war der froh, dass er Arbeit an gewissenhafte Lehrer abschieben konnte, andererseits musste der Chef darauf achten, nicht selber zu spüren, dass er seinen Untergebenen unterlegen war. Geschweige denn, dass diese das merken durften. So suchte der Direktor also eifrig nach Fehlern in der Arbeit seiner Lehrer. Das hatte er in den Jahren seiner Berufstätigkeit perfektioniert. Darin war er wirklich gut. An sich ja eine gute Fähigkeit eines Vorgesetzten.

Nicht alle strengten sich an. Es hatten ja nicht alle einen strengen und lieblosen Vater gehabt, den man überzeugen musste, doch etwas zu taugen oder bei dem man zumindest seinen Strafen auskommen musste, indem man möglichst wenig falsch machte. Aber Christian strengte sich an. Und der Direktor strengte sich an, Fehler zu finden! Mal triumphierte der eine, mal der andere. Den Chef stresste alles viel weniger. Er besaß auch nicht den Hauch einer selbstkritischen Reflexionsfähigkeit.

In seiner Radfahrergruppe hatte Christian mitbekommen, dass Herzinfarktpatienten vor der Erkrankung häufig die Warnsignale ignoriert hatten. Was wäre, wenn sein Betablocker diese unterdrückte und er schnurstracks auf dem Weg zum Infarkt wäre? Diese Verunsicherung führte zum befürchteten Ergebnis: Sein Herz meldete sich.

In der Schule kam es zu Turbulenzen, weil unerwartete Schwierigkeiten aufgetaucht waren, für die man noch Schuldige suchte. Christian war natürlich dafür geeignet, weil er es nie gelernt hatte, Verantwortlichkeiten aus dem Weg zu gehen. Die Stoßrichtung war also vorhersehbar.

Aber es war eine Banalität, die zur Eskalation in der Schule führte. Vorher noch kam aber Christians „Tag der größten Angst“!

3

Endlich da. Nach dem Park mit den Orangenen und der langen langweiligen Straße. Hier steht das Ärztehaus. Es hat mehrere Stockwerke. Unten die Apotheke. Typisch: Den reichen Apothekern gehören die Häuser und die Ärzte haben sich im Rudel billig eingemietet. Eine Hand wäscht die andere. Viele Schilder. Irgendwo muss es doch sein. Aha, hier:

Diplom-Psychologin Alina Winner

Psychologische Psychotherapeutin

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Psycho, Psycho, Psycho, Psycho, Psycho, fünf Mal, alles Psycho. Also keine Ärztin. Hoffentlich zahlt meine Kasse.

Ein Pfeil zeigt zum Eingang hinten im Hof. Vermutlich versteckt sich die Psychologin, damit niemand beobachten kann, wer bei ihr ein und aus geht. Gut so! Die verglaste Eingangstür ist nur angelehnt. Darf ich da einfach rein oder soll ich jemand herausklingeln? Ich schau mal. Ein kleiner Flur mit einer Garderobe. Da hängt eine lackglänzende grüne Damenjacke. Sie verströmt einen leichten Parfümduft. Der kommt mir bekannt vor. Erinnert mich an den Park. Seltsam. Ihre Trägerin wird doch niemand sein, den ich kenne! Womöglich eine Kollegin oder eine Schülerin von mir – oder meine Nachbarin. Hinter der einen Tür reden zwei Leute miteinander. Wird wohl der Behandlungsraum sein. Und an der anderen, der gegenüberliegenden Tür steht Warteraum.

Christian klopfte an. Es kam keine Antwort. Er öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinein: Das Wartezimmer war leer. Weil ihm eh schon heiß geworden war, wollte er sein Jackett noch an der Garderobe im Flur lassen.

Was mag das nur für ein Duft sein? Soll ich mein Jackett direkt daneben hängen? Vielleicht sollte ich es doch lieber anlassen. Ich will nicht allzu leger daherkommen.

Bevor Christian den Warteraum betrat, achtete er noch auf die Stimmen, die hinter der anderen Tür zu hören waren. Aber er konnte nur erkennen, dass es zwei Frauenstimmen waren.

Die Psychotherapeutin und die duftende Damenjacke... Wo ist die Arzthelferin? Vielleicht gibt es keine Angestellten. Und alle Patienten haben vereinbarte Termine, deshalb sitzt da niemand. Soll ich mich einfach hier breit machen und warten? Ich komme mir wie ein Eindringling vor. Hätte ich draußen vor der Tür vielleicht doch klingeln sollen? Oder bis zur exakten Uhrzeit des vereinbarten Termins warten? Ich bin 15 Minuten zu früh dran. Trotz der langen Straße. Aber jetzt ist es zu spät, ich kann doch nicht einfach wieder rausgehen. Warteraum heißt Warteraum!

Christian nahm auf einem hohen Korbsessel mit gerader Rückenlehne Platz.

Die Praxis der Psychotherapeutin war wohnlich eingerichtet. Statt der Einheitsstühle der Arztpraxen-Wartezimmer standen verschiedene Sitzmöbel in lockerer Runde in einer Sitzecke um einen niedrigen Wohnzimmertisch herum. Darauf lagen neben bunten Steinen diverse Zeitschriften und Informationsschriften. Der Fußboden war bedeckt mit längsgestreiften dicken Webteppichen und an den Wänden hingen Fotocollagen, kleine Spiegel und ein großer Bildkalender. Alles war irgendwie ungewöhnlich, aber sehr harmonisch aufeinander abgestimmt.

In einer Ecke standen Schuhe, schlicht, aber nobel. Vermutlich die Schuhe der Patientin vor ihm. Daneben lagen mehrere Filzpantoffeln. Sollte er seine Schuhe ausziehen und sich mit den Filzpantoffeln schmücken?

Christian nahm von der Einrichtung des Warteraums eher wenig wahr. Er las auch nicht die ausgelegten Informationen. Und die Zeitschriften blätterte er nur durch. Er war zu angespannt. Was würde ihn im Behandlungszimmer erwarten?

Wie war das mit dem Telefonat? Irgendwie war es komisch:

Mein Arzt hatte in meinem Beisein bei der Psychotherapeutin angerufen, aber die Therapeutin wollte, dass ich mich selber um einen Termin bemühe. Also rief ich direkt danach selber an und sagte auch nichts anderes als mein Arzt. Nein, vielleicht doch: Mein Arzt sprach von einer Herzneurose. Diesen Ausdruck habe ich natürlich nicht verwendet. Eine Herzproblematik, vielleicht stressbedingt, sagte ich. Und dass ich schnell wieder gesund werden wolle. Und dass ich unbedingt ambulante Therapie machen müsse. Diese Formulierung hatte mir mein Arzt noch nahegelegt, um die Motivation deutlich zu machen.

Die Stimme der Psychotherapeutin klang jung, sympathisch, ganz natürlich. Sie konnte mir sofort einen Termin nennen, aber der wäre erst in einigen Wochen, behauptete sie, was ihr offenbar leid tat, aber was vielleicht auch dafür spricht, dass sie als gute Therapeutin nachgefragt ist.

Drei Monate habe ich nun also auf diesen Therapietermin gewartet. Drei Monate war ich schon nicht mehr in der Schule. Ich darf nicht an die Schule denken!

Moment, jetzt tut sich etwas! Offenbar ist die Therapiestunde zu Ende. Jetzt bin ich dran.

4

Christian hörte, wie sich draußen im Flur eine Tür öffnete. Dann kam zu ihm eine duftende Frau ins Wartezimmer, die ihn kaum anschaute. Sie grüßte nur kurz, ging an ihm vorbei und zog sich ihre Schuhe an. Er blickte ihr nicht nach und konnte nicht sehen, wie sie sich umsah, um zu schauen, ob er sie beim Anziehen ihrer Schuhe beobachten würde und auch, um doch noch einen Blick auf den Neuen zu werfen, der ihr hier noch nie begegnet war. Christian hatte der Frau kaum ins Gesicht gesehen, aber es reichte, um zu wissen, dass sie nicht zu seinen nächsten Bekannten gehörte – wenngleich es ihm doch so vorkam, als habe er sie schon einmal gesehen. Sofort bemerkte hat er auch, dass die Frau offenbar geweint hatte. Das passt nicht zu ihr, dachte er sich. Die teuren Schuhe passen besser! Besonders sympathisch ist diese Frau nicht!

Schließlich verschwand die Patientin durch eine Tür, die in weitere Räume führte. Diese Tür war ihm vorher gar nicht aufgefallen. Zurück blieb der Duft, den Christian im Flur schon wahrgenommen und irgendwie wiedererkannt hatte.

Aber da steckte schon eine andere Frau, wohl Mitte 40, den Kopf zur Tür herein und bat ihn, mit ihr ins Behandlungszimmer zu kommen. Das ist also die Psychotherapeutin, dachte Christian.

Alina war an diesem Morgen nicht in die Gänge gekommen. Sie hatte nachts einen leichten Schlaf mit schweren Träumen hinter sich gebracht und war nicht glücklich darüber, gerade heute einen neuen Patienten aufnehmen zu müssen. Das Telefonat mit ihm hatte bei ihr einen wenig erfreulichen Eindruck hinterlassen. So ein Leidender, der so tut, als ginge es ihm gut und als brauche er die Therapie nicht. Obwohl er das Gegenteil beteuert hatte. Ungeschickt, sehr wenig beweglich, nicht humorvoll, nicht auf sie eingehend. Sie hatte sich das vor 3 Monaten notiert, so wie sie es immer macht, wenn sie einem Neuen einen Termin gibt.

Vor ihm war noch Laura Sollener dran, eine zwischen den Welten Schwankende. Taff und freundlich, offen auf andere zugehend, dann traurig, sich klein fühlend und verbittert über die unechte Zuwendung der anderen. Eine gewandte Dame von Welt und irgendwie eine bemitleidenswerte Patientin. Heute lief es mit ihr wie so oft. Als Dame kam sie und als armes Mädchen ging sie. Alina zweifelte, ob sie es richtig machte mit ihr. Sollte es nicht umgekehrt sein: Dass Laura als Mädchen käme und als selbstbewusste Frau wieder ginge? Ja, so wäre es wohl auch, und so ist es, wenn Laura „leidend“ kommt. Aber musste sie Laura immer klein machen, wenn sie „groß“ kommt?

 

Und jetzt also der Neue, ein Christian Aufwieser. Nach Ihren Vermutungen, die ihr das Eingangstelefonat nahelegte, erwartete sie einen ängstlichen Patienten, der an einer narzisstischen Störung leidet, also Probleme mit seinem Selbstwertgefühl hat. Sie vermutete eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur, verhärmt, über 60 Jahre alt, ein unbeliebter Besserwisser.

Als erstes fiel ihr auf, als sie den Kopf ins Wartezimmer hineinstreckte, dass da aber ein durchaus jüngerer Mann saß, etwa in ihrem Alter, der schüchtern wirkte. Immerhin, sie konnte ihm ein Lächeln abringen und er hatte einen selbstbewussten klaren nicht zu festen Händedruck, bei dem er ihr in die Augen schauen konnte, gerade so lang, wie es angenehm war, ohne vorzeitigen Rückzug oder eindringende Besitzergreifung. Im Behandlungszimmer ließ sie ihn Richtung Sitzgruppe vorausgehen. Die übliche Jeans und ein Lehrer-Jackett, dachte sie, aber ein strammer Hintern und ein kräftiges Kreuz.

Christian suchte sich aus den drei um einen Couchtisch gruppierten Sesseln den aus, der ihrem direkt gegenüber stand.

„Herr Aufwieser, ich erinnere mich noch an unser Telefonat und daran, dass davor Ihr Arzt angerufen hatte. Dem war es offenbar recht wichtig, dass Sie einen Therapietermin bekommen.“

Mit dieser Eröffnungsfrage hatte Christian nicht gerechnet. Und dann auch noch die versteckte Kritik, dass die Therapie nur dem Arzt wichtig gewesen sei. Christian war es öfters durchgegangen, wie der Beginn sein könnte, um gewappnet zu sein. Etliches hatte er sich zurechtgelegt. Wie geht es Ihnen? Was führt Sie zu mir? hätte er sich ausgerechnet. Auch Alina war sich nicht sicher. Sie eröffnete immer spontan, sagte das, was in diesem Moment sich nach vorne drängte. Es sei denn, das wäre zu konfrontierend. Es war ihr klar, dass das Motivationsproblem schnell zur Sprache kommen würde.

„Ja, ich hatte ihn darum gebeten!“, sagte Christian und war froh, dass er es gleich klarstellen konnte.

Falsche Antwort, dachte Alina. Wenn Ärzte anrufen, so ihre Erfahrung, dann deshalb, weil sie einen Patienten schnell zur Psychotherapie bringen wollen. Weil sie dem verbunden sind oder auch einfach, weil sie ihn loshaben wollen, es nicht aushalten können, dem nicht helfen zu können. Manchmal auch, um dem Patienten zu demonstrieren, welch gute Kontakte sie haben oder wie engagiert sie sind. Oft auch, weil Ärzte wissen, dass es in der Regel lange Wartezeiten bis zur psychotherapeutischen Behandlung gibt und sich deshalb ein ärztlicher Anruf empfiehlt, um die Dringlichkeit zu zeigen. Immerhin, der Patient will mir sagen, dass er andere erfolgreich für sich einspannen kann, dachte sich Alina. Oder dass er nicht in der Lage ist, selber anzurufen?

„Weil es Ihnen so schlecht ging?“, fragte sie.

„Nein, eher weil ich doch noch etwas unentschlossen war, trotz allem.“ Das war aufrichtig!

„Und jetzt ist es okay, dass Sie hier sind?“

„Es bleibt ja nichts anderes. Zwischendurch war ich sogar in einer Klinik. Dort ist es mir auch klar geworden, dass ich das mit der Therapie endlich einmal tun muss. So konnte es ja nicht weitergehen.“

„Gut. Ich denke, Sie sollten mir einmal schildern, was Sie zum Nervenarzt, in die Klinik und nun zu mir gebracht hat!“

Mit dieser Eröffnung waren nun beide zufrieden.

Beide lehnten sich zurück. Alina nahm ihren Notizblock und Christian erzählte ihr die Geschichte der vergangenen 14 Jahre.

Fast zum Schluss der Sitzung, nachdem er mit seiner Therapeutin warm geworden war, berichtete er von dem Angstanfall, den er rückblickend als Beginn seines Wegs zur Psychotherapie ansah. Er bezeichnete ihn als den Tag seiner größten Angst:

5

„Ich erinnere mich noch gut! Am Frühstückstisch habe ich wie üblich hastig ein Brötchen in mich hineingestopft, dann klingelte das Handy. Ich spürte, wie eine Hitzewelle in mir aufstieg. Sie raste hinauf in meinen Kopf. Eine schreckliche Angst legte sich auf mich, umklammerte mich, lähmte jede Bewegung. Ich quälte mich auf in Richtung meines Handys, aber die Beine versagten mir ihren Dienst. Mein Herz schmerzte und raste. Ich lag am Boden. Der Schmerz ließ nach und ich bestand nur noch aus Angst! Das Handy hatte aufgehört zu klingeln.

Wie ich in der Lage war, den Notarzt zu verständigen, wusste ich danach nicht mehr. Diesmal beließ man es nicht nur bei Blutwerten und EKGs, sondern untersuchte mich mit einem Herzkatheter. Reichlich Beruhigungsmittel stabilisierten mich. Das Ergebnis war ernüchternd und erleichternd: Ich war organisch gesund. An mein Bett im Krankenhaus, in dem ich den Rest des Tages verbrachte, kam ein Nervenarzt, der für eine psychologische Sichtweise warb und gleichzeitig dringend Psychopharmaka nahelegte. Meine Schwester warb für Psychotherapie. Das hätte schon einigen ihrer Patienten mit ähnlicher Symptomatik geholfen.

Ich aber wollte so schnell wie möglich wieder arbeitsfähig werden. Es war nicht meines, mich unterkriegen zu lassen. Psychopharmaka, die womöglich meine Gefühle und mein Erleben veränderten, schmeckten mir ebenso wenig wie Psychotherapie, die mich, wer weiß wo überall, verändern würde. Einem fremden Menschen alles erzählen, was für ein Gedanke! Doch innerlich habe ich mich damals schon ein wenig dieser Möglichkeit genähert.

Vorerst ließ ich mich darauf ein, eine Woche krankgeschrieben zu werden. Daheim wusste ich aber nichts mit mir anzufangen. Das Herz blieb ruhig. Ich traute mich, auf meinem Heimtrainer zu fahren, traf auch meine Radlergruppe – der ich aber nichts erzählte von meinem Krankenhausaufenthalt.

Mit Beginn der neuen Woche ging ich, einen Tag vor dem Ende meiner Krankschreibung, wieder an meinen Arbeitsplatz. Es stand eine Lehrerkonferenz an. Mein Direktor legte wie immer großen Wert auf alles Formale. Das beherrschte der. Und damit nervte er alle. Wenn es Vorschläge für irgendwelche Maßnahmen gab, mussten diese alsbald in eine korrekte Antragsform gebracht und wortwörtlich ins Protokoll diktiert werden. Der Direktor ließ sich sogar dazu herab, seine Lehrer alles mehrfach wiederholen zu lassen, immer einzelne Passagen korrigierend. Ein furchtbarer Mensch! Auch ich musste diese demütigende Prozedur über mich ergehen lassen, weil ich nachgefragt hatte, ob nicht ein neues Kopiergerät angeschafft werden könnte. Also, wie war das? Vielleicht bringe ich den Wortlaut noch ungefähr zusammen.

„Ich beantrage ein neues Kopiergerät.“

„Nein, die Anschaffung wird beantragt!“, wurde ich korrigiert.

„Ja, natürlich, das meine ich ja.“

„Dann bringen Sie es in die richtige Form!“

„Es wird die Anschaffung eines Kopiergerätes beantragt.“

„Jetzt fehlt noch der Name.“

„Ich weiß doch nicht, wie die Kopiergeräte heißen!“ Ich glaubte wirklich, dass der Chef das so gemeint hatte!

„Nein, natürlich Ihr Name!“ Der Direktor wurde ungehalten.

Die Kollegen rollten mit den Augen.

„Herr Aufwieser stellt den Antrag auf Anschaffung eines neuen Kopiergeräts“, formulierte ich extra abgehackt und ließ mir meinen Widerwillen doch deutlich anmerken. Die Kollegen grinsten. Nur der Chef nicht. Dem fehlte noch mein Dienstgrad. Aber offenbar wollte er dann doch nicht so sein, man ist ja kein Unmensch, sagte er öfters.

„Das Recht bedarf der Form, Herr Aufwieser!“, schob er noch nach.

Das war einer seiner beliebtesten Sprüche.

Jetzt hielt ich es nicht mehr aus. Ich stand abrupt auf und verließ wortlos den Raum. Ich spürte, wie neben den üblichen Körperreaktionen und Ängsten, eine Aggression in mir hochstieg.