Buch lesen: «Begegnungen im Bayerischen Wald»

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Helfried Stockhofe

Begegnungen im Bayerischen Wald

Drei Erzählungen

Das Kräuterbuch

Der kleine Politiker

Die verlorene Heimat

Es begegnen sich im Bayerischen Wald

unter anderem folgende Personen:

Der scheue Günter, der immer selbstbewusster wird

Die Rehmutter, ein Jäger und ein Druide

Der Maximilian=Max mit der Asche

Der Bundespolizist Alexander mit seinem Vater Werner

Die burschikose Antonia, die gern kriminalisiert

Der Bürgermeister mit seiner ach so tollen Familie

Der Cacher Sven, der taucht und vergräbt

Die alte Ria, die Gedichte lieber als Rezepte mag

Die ordentliche Manja, die den Mann nicht halten kann

Der kleine Politiker

Die ehemals zarte Ernalena

Die wieder lebensfroh gewordene Miriam

Der psychologische Kindersitter ohne Zukunft

Der schnelle Sigi

Der blasse Kommissar Flinker

Der geschäftstüchtige Bauer mit seiner Enkelin

Die den Bayerwald entdeckende Sarah aus Berlin

Der musikalische Frederik

Der blinde Walter

Die Psychotherapeutin Alina

Der Alte, der den Alpenblick sucht

Der niederbayerische Schotte Frank

und seine ehrgeizige Ex-Frau Rebecca

Sie begegnen sich irgendwo im Bayerischen Wald

und konkret an folgenden Orten:

Am Arber

Am Zwercheck

Bei Bayerisch-Eisenstein

Am kleinen Arbersee

Am Schwarzen Regen

Auf dem Kaitersberg

Auf mehreren Schachten

Auf dem Lusen

Am Pfahl bei Moosbach

An der Ilz

Im Felsenpark bei der Burg Falkenstein

Am Großen Rachel

Am Further Drachensee

Auf dem Grandsberg mit dem Mühlgraben und dem

schwarzen Grimmeisenweiher

Am Blaibacher See

Am Hochfall bei Bodenmais

Am Großen Falkenstein

Auf dem Hohen Bogen

Im Grenzgebiet und dem Nationalpark Šumava

Am Himalayatempel

Im Blaibacher Konzerthaus

Am Eixendorfer See

An der Wolframslinde

Von Sattelpeilnstein bis zum Himmelberg

Das Kräuterbuch Teil 1

mit Begegnungen in den Wäldern, am Brennes,

Zwercheck, bei Bayrisch-Eisenstein und am Arbersee

1. Das scheue und das anhängliche Reh

Bei Günter hatte man es schon bald gemerkt. Er wurde im Dorf verspottet oder schief angeschaut, von manchen auch gefürchtet, je nach Ausgangslage. Homophobie ist eben bei denen am meisten verbreitet, die ihre eigenen homosexuellen Neigungen verdrängen oder die in der Kindheit und Jugendzeit entsprechende Erfahrungen gemacht haben – oder machen mussten. So wurde Günter bald zu einem scheuen Reh, das in der engen Gemeinschaft niederbayerischer Böcke und Stiere keinen Platz mehr fand. Er ging viel hinaus in die Wälder und fühlte sich den Tieren dort mehr verbunden als seiner Familie, die ihn gegenüber den Pöbeleien im Ort nicht schützen konnte oder wollte.

Günter wurde aber nicht nur scheu, sondern auch unleidlich. Selbst für diejenigen, die seine Neigungen tolerierten, wurde er ein schwieriger Mensch, der misstrauisch und kratzbürstig jegliche Annäherungen abwehrte. Es ist zu vermuten, dass Günter sich selbst wegen seiner Homosexualität ablehnte. Dabei waren es nicht einmal konkrete Beziehungen, die der Schwule aufgebaut hatte, auch keine gelegentlichen sexuellen Kontakte, sondern nur eine weibliche Ausstrahlung und – zumindest in der Kindheit – mädchenhafte Interessen und Beschäftigungen, die ihm und den anderen seine Homosexualität verrieten.

Es wäre vielleicht am besten gewesen, er wäre in die Anonymität einer Stadt geflüchtet. Davor hatte er sich aber gefürchtet. Vermutlich zu recht, denn für tatsächliche homosexuelle Kontakte war er schon viel zu verklemmt. Da fühlte er sich bei den Vögeln des Waldes schon wohler.

Es überraschte also niemand, als man erfuhr, dass Günter das leerstehende kleine Haus übernommen hatte, das der Hexenrosl gehört hatte und seit derem Tod langsam verfiel. Nur die Alten wussten noch, wieso es dieses Gebäude auf einer kleinen Lichtung im Wald überhaupt gab. Es war von Frühjahr bis Herbst vom morgendlichen Gesang von Singdrosseln, Kohlmeisen und Mönchsgrasmücken eingehüllt und wurde abends in die Dunkelheit entlassen mit Amselrufen von den höchsten Fichten und Buchen am Rande der Lichtung. Dann zwangen die Stechmücken den Günter ins Haus, wo in der Nacht die Rufe der Käuzchen und das Gescharre von Mäusen und einem Marder seinen Schlaf begleiteten.

An einem nebligen Morgen, als Günter wie üblich vors Haus ging, um seine Dehnungsübungen zu machen, wäre er fast in einen großen schwarz-braunen Fleck gestiegen. Er schaute sich auch die anderen Flecken an, die auf dem Feldsteinpflaster breit verspritzt den Weg um das Haus säumten. Es war nicht schwer zu erkennen, dass da jemand ganz arg der Durchfall geplagt haben musste! Auf weicherem Untergrund erkannte er dann den Übeltäter, dem er freilich nicht böse sein konnte, weil dessen Erkrankung offensichtlich war: Er sah die Spuren von zwei Rehen, die vom Instinkt geleitet von der Kamille gefressen hatten, die vor seinem Haus in großen Mengen wuchs.

Günter spülte mit mehreren Eimern Wasser aus einem Brunnenring, der den Lauf eines Bächleins staute, den nächtlichen Unrat ins Gras und ging kopfschüttelnd wieder zur Haustür zurück. Da bemerkte er, wie hinter der Haus-

ecke ein Reh seinen Kopf hervorstreckte und schnell davonsprang, als er darauf zuging.

Am Abend lehnte sich Günter bewegungslos an einen seiner alten Apfelbäume und schaute den Waldrand ab. Und tatsächlich: Bald tauchten auf der Wiese zwei Rehe auf, die sich über das Gras hermachten und immer wieder den Kopf in die Höhe hoben. Der Spiegel eines Rehs war schwarz gefärbt, der andere war weiß. Also war bisher nur eines der Rehe krank!

Was Günter in den nächsten Tagen erlebte, war ungewöhnlich und erfüllte ihn mit großen Gefühlen. Er konnte es selber nicht beschreiben, was er da empfand. Eine Spur Mitleid sicherlich. Helferbedürfnisse? Vielleicht. Auf jeden Fall irgendwie Beziehungsgefühle. Und er fühlte sich aufgewertet, denn er wurde gebraucht, vielleicht gemocht, denn man suchte seine Nähe. Ja, das war es wohl, was ihn am meisten berührte, ihn den Ausgestoßenen: Die Rehe wurden nämlich von Tag zu Tag zutraulicher! Es schien so, als ob das gesunde Tier das andere zu ihm hinführte, damit es von seinen Kräutern fressen und so geheilt werden könnte. Günter freilich zeigte auch Scheu, weil er nicht wusste, ob das kranke Reh ihn womöglich anstecken würde. Aber er setzte sich auf das Gredbankerl und schaute aus einigen Metern Entfernung zu, wie sich das Tier labte, scheuchte es etwas weg, wenn der Durchfall hervortrat und nahm besonders mit dem gesunden Tier Augenkontakt auf, so als ob – ganz schnulzig - die beiden Elternteile sich besorgt darüber verständigten, dem Kranken wieder auf die Beine zu helfen.

Eines Tages aber wurde dieses ungewöhnliche Dreiecksverhältnis voller kitschig-anrührender Gefühle jäh beendet! Am Morgen, es dämmerte noch, hörte Günter einen Schuss ganz in der Nähe seines Grundstücks. Der Jagdpächter, der natürlich auch den dunklen Spiegel seines Rehs bemerkt hatte, hatte wohl das kranke Tier erschossen! Günter brauchte nicht viel Fantasie, um von diesem Szenario auszugehen und er trauerte schon, während er noch hoffte, dass es vielleicht ein Fuchs gewesen war, den der Jäger erlegt hatte. Am Abend setzte er sich im Licht der untergehenden Sonne aufs Gredbankerl und wartete.

Die Vögel hatten sich vom morgendlichen Schuss längst erholt und sangen wieder ihre wunderschönen Abendlieder. Günter wartete. Die Schnaken hatten ihn entdeckt und dockten sich genüsslich an alle freien Hautpartien an. Günter rührte sich nicht.

Endlich, als die Sonne unterging, traute sich ein Reh hervor. Ihm war der Schuss noch im Gedächtnis, aber es stolzierte vorsichtig über die Lichtung. Langsam und dennoch zackig hob es Bein für Bein, sicherte mit abgesetzten Rundumblicken und ging auf das Haus zu. Es kannte den Geruch des menschlichen Freundes, der da auf der Bank wartete. Kurz vor ihm stand es eine Weile still, schaute und legte sich dann in das Gras! Günter war glücklich. Es wurde ihm an diesem Abend bewusst, als er nach einer Viertelstunde wegen der Abendkühle ins Haus ging und sein Reh wieder in den Wald trottete, dass der Tod des kranken Tiers seine Beziehung zum gesunden verstärken würde. Er wäre jetzt frei von Ansteckungsängsten und das gesunde Reh würde ihn womöglich als engeren Freund annehmen als zuvor. Immerhin hatte es jemand verloren, um den es sich womöglich lange gekümmert hatte.

Tatsächlich ließ sich in den nächsten Tagen das Reh aus der Hand mit gesunden Kräutern füttern und sogar übers Fell streichen. Günter konnte mit dem Tier reden und schloss aus den Kopfbewegungen bestimmte Antworten, die ihm passend erschienen. So besprachen sie den Tod des gemeinsamen Freundes und kamen schon nach Tagen über den Verlust hinweg.

Aber die Idylle währte nicht lange! Denn schon eine Woche später bekam Günter menschlichen Besuch! Es war eine kleine rundliche Frau aus dem Nachbardorf mit lauter Stimme und ganz viel Tierliebe. Ja, sagte sie, sie habe leider erst jetzt erfahren, dass der hiesige Jäger ein krankes Reh geschossen habe. Und bei dem kranken Reh sei ein gesundes gewesen, das auffallend zutraulich sich verhalten habe. Der Jäger sei völlig erstaunt gewesen und habe zum Glück direkt Hemmungen gehabt, auch auf dieses Reh das Gewehr anzulegen. Ob denn er, fragte die Frau, der er doch hier im Wald hause und sicher so etwas mitbekomme, dieses Reh schon einmal gesehen habe.

Günter verschlug es erst einmal die Sprache. Was wollte die Frau von ihm? Was wollte die von seinem Reh? Und überhaupt, was hatte diese Frau ihn unangemeldet zu überfallen!

Die robuste Frau mit ihren blauen Jeans, die in hohen Gummistiefeln steckten, ließ sich aber nicht lange aufhalten. Als sie das Herumgestottere des Einsiedlers bemerkte, von dessen Menschenfeindlichkeit sie schon gehört hatte, stapfte sie einige Schritte weg und begann ein schrilles und hohes „Drrrrrrrr“ in den Wald hinauszuschreien. Günter war entsetzt, dass seine und des Waldes Ruhe so zerstört wurde. Ja, wenn er das „Drrrrrrrr“ aus weiter Ferne gehört hätte, dann hätte er es für den Ruf eines seltenen Feldschwirls gehalten, aber so schmerzte es ihm in den Ohren wie Trillerpfeifen streikender Gewerkschafter oder Warnsignale einer Trambahn. Er wollte schon heftig protestieren – da zeigte die Frau, unter anhaltendem „Drrrrrrrrrrrrrrrr“ und heftigem Nicken und freudigem Grinsen, in Richtung des Waldrandes: Kam doch da tatsächlich ein Reh angerannt! Und es war sein Reh!

Die Frau begrüßte das Tier mit „Ja, mei Bambilein!“ und „Kumm, lass di drucka!“, nahm es in den Arm und herzte es. Günter war perplex. Auch das Reh war überrascht – so schien es ihm jedenfalls. Die Liebkosungen behagten dem „Bambilein“ nicht besonders, aber es blieb vor der Frau stehen, schaute ab und an zu Günter hoch und wartete darauf, wann das Spektakel zu Ende war. Immerhin, es sprang nicht hoch wie ein Hund und wedelte nicht mit dem weißen Schwänzchen. Die Frau zog schließlich aus der Hosentasche ein buntes Halsband hervor und legte es dem Reh um. „Dass da Jaga kennt und net daschießt!“, sagte sie zu Günter, der immer noch mit offenem Mund hinter ihr stand. Dann gab sie dem Reh einen Klaps und scheuchte es mit wedelnden Handbewegungen und lauten Aufforderungen wieder zurück über die Lichtung in den Wald.

Die tierliebe und eigentlich recht sympathische Frau erzählte Günter, dass sie schon immer die Anlaufstelle für die Bauern sei, die verletzte oder alleingelassene Wildtiere auffinden und nicht wissen, was sie damit tun sollen. Und das hier sei nicht ihr erstes Reh, das sie mit der Flasche aufgezogen und später wieder in die Freiheit entlassen habe. Nur leider habe es wohl das Halsband verloren, an dem ihre Rehe sonst leicht zu erkennen seien.

Die nächsten Tage waren schlimm: Günter war völlig desillusioniert! Der ganze Zauber war verflogen! Was hatte er sich nur eingebildet! Das „Bambilein“ kam zwar nach wie vor zu seinem Haus, aber Günter ließ sich bei ihm nicht mehr blicken. Das Reh stolzierte verwirrt vor dem Haus herum, blieb am Gredbankerl stehen, schaute umher, legte sich hin – und zog irgendwann wieder davon. Aber das verlassene Tier hatte große Ausdauer. Es kam täglich vors Haus, wollte es nicht akzeptieren, dass drinnen ein beleidigter Günter saß, dessen Glaube an eine Exklusivbeziehung zu einem wilden Tier, zerstört war. Bei Günter wuchs, statt sich zu versöhnen, die Wut von Tag zu Tag. Das anhängliche Tier wurde nun zu einer lästigen Kreatur, die ihn getäuscht und nur ausgenutzt hatte. Am meisten wurmte ihn, dass er darauf reingefallen war! Und was wollte das Viech nun noch von ihm? Soll es doch zurückgehen zu seiner „Rehmutter“!

Aber es ging nicht freiwillig!

Günter erinnerte sich an den morgendlichen Schuss. Er baute sich mit zwei Brettern eine Klappvorrichtung, wie er sie aus seiner Schulzeit kannte, wenn die beim Sportunterricht an Stelle einer Startpistole zum Einsatz kam. Dann schlich er sich hinters Haus und hieb die Bretter der Klappe mit heftigem Schlag aufeinander, so dass das eben angekommene Reh erschreckt davonlief. Diese Prozedur wiederholte sich einige Tage, bis aus dem anhänglichen Reh ein scheues geworden war, das nie mehr bei ihm auftauchte. Günter hatte sich in der ganzen Zeit sowieso nie mehr dem Reh gezeigt.

Endlich hatte er wieder seine Ruhe.

Aber der Himmel weinte und die Vögel verstummten. Selbst die Mäuse und der Marder schienen ihn verlassen zu haben. Ein Gefühl erfasste ihn, das er in dieser Heftigkeit vorher nicht gekannt hatte: Er fühlte sich einsam! Er war ja so allein!

Das „Bambilein“ zog einige Kilometer weiter und fand zwischen den Wäldern des Bayerischen Waldes eine andere Lichtung mit einem Haus.

Und der Günter war sogar froh, als eines Tages der Jäger ihm einen Besuch abstattete!

2. Der Druide und das Blut

Es dämmerte schon, als sie fast am Ziel waren. Wie bestellt fiel der Nebel ein und zauberte eine unheimliche Stimmung auf den letzten Metern durch den lichten Buchenwald. Die Gruppe ging dicht beieinander. Und bevor sie zum Ziel kam, versammelte der Anführer alle um sich und begann mit dunkler Stimme zu ermahnen:

„Also meine Herrschaften! Wir kommen jetzt zu einem heiligen Ort! Denken Sie daran, dass unsere Vorväter hier blutige Rituale abhielten. Dort auf diesem Stein…“ und dabei zeigte der Weißhaarige auf einen Felsblock, den sie bald erreichen sollten, „…wurden Opfer gebracht, um die Götter milde zu stimmen!“

Der Weißhaarige stammte vermutlich aus der Zeit der Kelten – oder war zumindest ein direkter Nachfahre. Mit struppigem, langem Bart und gekleidet in ein weißes Gewand stapfte er an einem knorrigen Stab auf einen großen Felsblock zu, der mitten im Wald lag. Der Druidenstein sah aus dieser Entfernung noch unspektakulär aus. Um die Spannung zu erhöhen, hielt der Alte nochmals an: „Die Opferstätte stammt aus vorchristlicher Zeit. Man vermutet, dass nicht nur Tier-, sondern auch Menschenopfer gebracht wurden. Manche sagen, dass hier immer noch Unheimliches geschieht. Besonders in nebligen kalten Nächten wie der heutigen!“

Der „Druide“ musste seinen Gästen einiges bieten. Das Fremdenverkehrsamt hatte ihm diesen Nebenverdienst verschafft und er wollte niemanden enttäuschen. Tatsächlich kam hinter den grinsenden Fassaden seiner Exkursionsteilnehmer ein leichter Grusel auf.

Und wirklich: Als die Gruppe sich um den Stein versammelte, schauten alle doch sehr überrascht! Manche meinten, dass das Blut in dem kreisrunden Loch am Ende des Felsens doch etwas übertrieben wäre. Dann aber bemerkten sie, wie sich der Alte an die Brust fasste und nach Luft rang. Er lehnte sich an den nächststehenden Baum und atmete tief durch. Er überlegte: Sollte er diese unerwartete Wendung nutzen oder einfach ehrlich gestehen, dass es sich hier nicht um ein Arrangement des Fremdenverkehrsamtes handelte?

„Also, das war das letzte Mal nicht da! Das können Sie mir glauben. Wie ich schon sagte: Da ist Unheimliches am Werk!“

Es klang sehr überzeugend und die Gruppe spaltete sich auf in Bewunderer der Schauspielkunst des Druiden und andere, die kaum ihre Furcht verbergen konnten.

In der Gemeindeverwaltung war man sehr aufgeregt. Keiner wusste, wem man diesen Streich zu verdanken hatte. Es gab nicht wenige, die an Ernsteres dachten: Vielleicht lief ein Verrückter herum, der diesen Opferfelsen tatsächlich für irgendwelche Orgien benutzte. Und einige wenige dachten über magischere Erklärungen nach. Ihnen kam die Therese in den Sinn, die seinerzeit in Konnersreuth ja auch für ähnlich blutige Aufregungen gesorgt hatte.

Selbst die Presse hatte Wind von der Sache bekommen. Als der Druide vor seiner nächsten Opfersteinführung zuerst einmal alleine die Sachlage erkunden wollte, ging die Presse mit. „Die Presse“ war ein örtlicher freier Mitarbeiter, der seine Kamera geschultert hatte, um auf jeden Fall ein Foto zu schießen. Daheim würde er sich einen Bericht zusammenzimmern.

In der Zeitung zeigte dann ein ungewöhnlich scharfes Bild, dass erneut die Vertiefung mit Blut aufgefüllt war, diesmal aber zusätzlich umgeben von Tierhaaren. Neben dem Opferstein war außerdem die Erde aufgewühlt.

Die Nüchtern-Rationalen erkannten sofort, dass das vorherige Blut wohl nicht fachmännisch beseitigt worden war und deshalb manche Tiere des Waldes sich davon angelockt gefühlt hatten. Die Esoterisch-Hysterischen übertrafen sich in erfindungsreichen und gruseligen Interpretationen, die Ängstlich-Kriminalistischen in gewagten Theorien und die Religiös-Spinnerten in wundersamen Verklärungen.

Als dann in den nächsten Tagen auch noch Schlachtabfälle den Opferstein schmückten, war der Andrang bei den Druiden-Führungen kaum noch zu bewältigen. Aber leider gab es dann doch einige puristische lästige Nörgler, die meinten, man solle doch den Leuten nicht so einen Unsinn vorführen. So rückte schließlich die Feuerwehr an, zog einen langen Schlauch bis zum Druidenstein und spritzte mit Verve das Loch so sauber, dass die Bäume der Umgebung blutgesprenkelt große Mückenschwärme anzogen. Der Feuerwehrkommandant sorgte noch dafür, damit sich der ganze Aufwand gelohnt hätte, dass rundherum noch 20cm tief die Erde hinweggepustet und als letztes dann der Felsen blitzblank geputzt wurde.

Den Druiden traf fast der Schlag, als er bei der nächsten Führung diesen alten Stein aus vorchristlicher Zeit in strahlender Frische des 21. Jahrhunderts vor sich sah. Und alle Teilnehmer waren sehr enttäuscht. Der Druide protestierte heftig bei der Gemeindeverwaltung, die ihre Hände aber in Unschuld wusch: Vermutlich sei es eine hinterhältige Anordnung des Verkehrsamtsleiters gewesen, der ohnehin das falsche Parteibuch hatte. Nach einigem Hin und Her entschloss man sich den Denkmalschutz des Landratsamtes zu befragen. Dort zog man eine Landschaftsarchitektin hinzu, die das richtige Parteibuch hatte. Sie machte einen Kostenvoranschlag zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes und befragte einen Diplom-Biologen wegen der Mückenplage.

Auch die Kindergartenleiterin hatte von der ganzen Sache Wind bekommen. Sie veranstaltete einen Ausflug mit ihren Kleinen und ließ den hässlich gewordenen grauen Stein bemalen. Und die Bäume wurden umringelt mit schönen Bändern. Die eingeladene Lokalreporterin fotografierte den bunten Opferstein samt Kindergruppe.

Der Druide war am Verzweifeln! An seiner ernsthaften Sache schien niemand mehr interessiert zu sein. Er zog wieder vor die Gemeindeverwaltung und legte schweren Herzens sein Amt nieder. Da er aber der Schwager des geschäftsführenden Beamten war und dieser wiederum bei der nächsten Bürgermeisterwahl ein Konkurrent des jetzigen Amtsinhabers sein würde, konnte der aktuelle Bürgermeister es nicht riskieren, dass ihm aus der Demission des Druiden eine Fallstrick gedreht würde. Also boxte er die Kostenübernahme für die fachfrauliche Renovierung – äh Restaurierung – des antiken Stückes durch und versprach sogar noch eine Blutfüllung von Amts wegen, allerdings mit Theaterblut. Und der Druide versprach, es sich noch einmal zu überlegen…

Und alles begann wieder von vorne.

Der Wald blieb laut und - der Jäger blieb verzweifelt!

Die Hexenrosl hatte es damals noch geschafft, sich die Plagegeister vom Leib zu halten. Sie hatte auf ihrem Grundstück einen Erdstall gefunden und dies leichtsinnigerweise anderen erzählt. Aber sie hatte rechtzeitig die Leine gezogen: Als die ersten „Erforscher“ ankamen und sich durch den vordersten um eine Ecke angelegten „Schlupf“ durchgequetscht hatten, krabbelten die angeekelt rückwärts so schnell es ging wieder zum Ausgang. Am Ende des Schratzllochs lagen nämlich stinkende blutige Schlachtabfälle.

Der Jäger aber musste lernen, dass Blut nicht immer die gleiche Wirkung hat. Und Schlachtabfälle mögen zwar überall Ekel auslösen, halten aber nicht überall die Menschen fern!

3. Günter entdeckt das Schratzlloch

Was hatte der Jäger von ihm gewollt? Der scheue Günter hatte zwar wenig Erfahrung mit Menschen, doch dass es dem Jäger bei seinem Besuch nicht nur um die Rehe ging, war ihm klar geworden. Günter fühlte sich ausgehorcht. Es musste auf seinem Grundstück hier irgendein Geheimnis geben! Sollte die Hexenrosl etwas vergraben haben? So ein einsames Grundstück im Wald ist halt riesig, selbst wenn es nur eine kleine Lichtung ist. Da half alles Nachschauen und Umherstochern nichts.

Der Jäger hatte einen Vergleich gezogen zwischen seiner Ruhe hier und dem Lärm, der um den Druidenstein gemacht würde – auch in wortwörtlichem Sinn. Aber dass der Jäger hinter dem Blutopfer stecken würde, hatte sich Günter ohnehin gedacht. Der wollte halt nicht, dass sein Wild von den Leuten vertrieben wird. Aber die Rechnung war nicht aufgegangen. Vielleicht aber könnte er den Jäger mit entsprechenden Andeutungen über seine Blutabenteuer, quasi als Gegenleistung für sein Schweigen, dazu bewegen, das Geheimnis der Hexenrosl zu lüften.

So lud dieses Mal der Günter den Jäger ein und fragte ihn völlig naiv danach, ob es eigentlich im Dorf bekannt sei, dass er hinter den Opfergaben stecke. Der Jäger schien konsterniert und druckste herum, so dass Günter gleich die Frage nachschob, was er denn beim letzten Besuch gemeint habe, dass sich die Hexenrosl die Leute vom Leib halten konnte, obwohl man auf dem Grundstück etwas gefunden habe. Nun verstand der Jäger und erzählte Günter die Geschichte vom Erdstall. Aber wo der zu finden sei, wisse er auch nicht. Ein Erdstall also, ein Schratzlloch, vor vielleicht 1000 Jahren für Zwerge gebaut!

Nun kam es dem Günter zugute, dass er sich im Internet hervorragend bewegen konnte. Es war eine Grundbedingung für die Wahl seiner Unterkunft gewesen, dass es hier einen guten Empfang gab. Denn mit der Arbeit am Computer verdiente Günter seinen Unterhalt. So konnte er sich leicht informieren über Erdställe und den verschiedenen Interpretationen über ihre Funktion. Wenn Rosls Erdstall schon annähernd so alt war, wie die anderen Erdställe in Deutschland oder Österreich, dann sollte er in der Nähe einer Siedlung angelegt worden sein. Anhand alter Karten zu diesem Grundstück bekam Günter heraus, dass auf dieser Lichtung einst tatsächlich mehrere Gebäude gestanden hatten. Sicher gab es bewohnte Behausungen auch schon zu Zeiten des Ausbaus des Erdstalls. Vermutlich an gleicher Stelle. Und so arbeitete er sich voran, überprüfte Wasserläufe, schloss zu sumpfigen, zu sandigen und zu steinigen Untergrund aus und kam so zu einigen wenigen Stellen in seinem Grundstück, die geeignet erschienen. Mit Hilfe einer fingerdünnen Eisenstange fand er schließlich unter einer Grasschicht einen rostigen Deckel, den er wegstemmte. Und da lag der Erdstall vor ihm: Ein feucht-modriger, scheinbar Jahrtausende alter Geruch schlug ihm aus dem etwa zwei Meter tiefen und nicht einmal einem Meter breiten Loch entgegen. Er musste sich angewidert abwenden, hatte sich aber schnell an den bald nachlassenden Gestank gewöhnt. Mit einer Leiter stieg er mühevoll hinab. Dann musste er die Leiter anheben, um überhaupt den sich nun waagerecht erstreckenden Gang weiterkriechen zu können – hoffentlich kam er da jemals wieder hinaus! Nicht nur zu Beginn des Gangsystems, sondern Meter für Meter lagen herausgebrochene Gesteinstrümmer, verrostete Schüsseln, dicke morsche Äste und andere Dinge herum, deren Funktion und Sinn er nicht immer erkennen konnte. Vermutlich stammten sie alle von der Hexenrosl. Einzeln schaffte er sie zum Einstieg und warf sie nach oben. Bald war er erschöpft und kletterte wieder hoch.

Aber schon nachts war ihm klar, dass ihm der Erdstall keine Ruhe lassen würde. Er kaufte sich eine Stirnlampe und andere geeignete Werkzeuge. Tagelang verbrachte er nun jeweils mehrere Stunden in dem feuchten Gang, gespannt, was um die nächste Ecke ihn erwartete. Tatsächlich schien öfters der Gang verschlossen und er musste probieren, ob es eine Richtung gab, in der er durch leichtes Graben die Fortsetzung finden konnte. Das konnte auch einmal aufwärts und abwärts gehen! Jede Engstelle – „Schlupf“ - kostete ihn größte Überwindung. Und immer dachte er an die Erzählung des Jagdpächters und erwartete die ekligsten Sachen. Es war aber keineswegs so, wie der Jäger ihm erzählt hatte, dass der Gang schon gleich vor einer Wand endete, dort wo die Rosl einst die Schlachtabfälle hingelegt hatte. Nein, sie hatte den Gang dort nur geschickt verschlossen gehabt. Und so verlängerte sich das Schratzlloch Meter um Meter, mal mit genügend Raum, um bequem zu sitzen, mal mit Schlupfen, durch die sich Günter nur mit Mühe zwängen konnte. Er stellte sich vor, wie verfolgte Menschen hier ausgeharrt haben mochten – und es schauderte ihn. Da war ihm die Interpretation einer Zufluchtsstätte für die Seelen der Verstorbenen schon lieber. Vermutlich hatten in den Absätzen in den Seitenwänden des Erdstalls bei Bedarf Kerzen gestanden. Oder Grabbeigaben gelegen? Am ehesten konnte Günter sich anfangs aber vorstellen, dass jugendliche Kinder diese Höhlen sich zum Spielen gebaut hatten. So wie er es in bescheidenem Maß auch getan hatte. Aber je länger der Erdstall wurde, umso mehr gab er diesen Gedanken auf.

Am fünften Tag war es dann soweit: Er bemerkte, dass der Gang plötzlich viel trockener wurde. Und kurz danach stieß er an ein Holztürchen. Es war genügend Platz zum Wenden und so konnte er sich mit beiden Beinen dagegen stemmen: Der Holzverschlag flog weg und Günter sah einen kleinen Raum vor sich, dessen Boden mit Mauerziegeln ausgelegt war und in dem er sogar stehen konnte! Bis hierher zeigte sein Seil, das er vor dem Einstieg befestigt und immer mitgeführt hatte, 14 Meter Länge an.

Wo war er, warum war es hier trocken? Konnte wirklich die Rosl jemals so weit gekommen sein? Sorgfältig leuchtete er den kleinen etwa 2,5 Quadratmeter großen Raum aus. Die Decke bestand zu seiner großen Überraschung diesmal aus alten Holzdielen – und wieder gab es Nischen, kleine Absätze in den Seitenwänden. In einer lag ein kleines verrostetes Kästchen. Der Deckel war strukturiert mit dem Relief der Nürnberger Kaiserburg. Er strich mit der Hand drüber. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Dann erlosch das Licht seiner Stirnlampe.

Sollte er das Kästchen im Dunkeln öffnen oder doch lieber mitnehmen zurück durch all die engen 14 Meter?

Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte er, dass durch die Ritzen der Holzdielendecke ein schwaches Licht drang. Er konnte die Decke im Zehenstand gerade mit den Fingerspitzen berühren. Er nahm das Kästchen und drückte mit ihm nach oben gegen die Decke. Tatsächlich: sie bewegte sich! Und nun kam sogar ein kleiner Lichtstrahl hindurch. Der Weg durch die Decke schien ein Ausgang zu sein!

4. Max kümmert sich um die Asche

Als im März die Böden weich wurden, entschloss sich Maximilian, ein letztes Mal seinen Kachelofen einzuheizen. Es war immer die Arbeit seines Vaters gewesen, der vieles nicht richtig konnte und deshalb stolz darauf war, wenigstens das Feuer im Kachelofen fachgerecht in die Höhe zu bringen. Alles andere versenkte er. Mit seiner Frau schlug er sich so heftig, dass eines Tages nur noch er den Streit überlebte und dafür einige Jahre in der Justizvollzugsanstalt Straubing zubringen musste.

Maximilian, den sein Vater je nach Stimmungslage Maxi oder Max nannte, wurde in dieser Zeit in einem Heim untergebracht. Adoptionswillige und Pflegeeltern wollten ihn nicht haben, weil er doch recht auffällig war und sein Verhalten von anderen nie vorhergesehen werden konnte. Unberechenbar sei er, mal aggressiv, mal über alle Maßen anhänglich, dann wieder weinerlich, selten offenbar freundlich, ruhig und fleißig, wie er hätte sein müssen, um dem Heim zu entkommen. Obwohl es ihm dort nicht schlimmer erging als im Elternhaus, wollte er wieder zurück, als sein Vater auf Bewährung entlassen wurde. Maximilian war damals schon 15 und die mit dem Fall Befassten versprachen sich auch eine Stabilisierung seines Vaters durch das gemeinsame Leben der beiden.

Der Max könnte mir eine gute Hilfe sein, dachte sich auch sein Vater. Aber das Einheizen seines Kachelofens ließ er sich nicht nehmen. Maximilian absolvierte bei einem sozial offenbar engagierten Zimmerer eine Lehre und kümmerte sich ansonsten wenig um das Fortkommen der Restfamilie. Was der „hartzende“ Vater alles ohne ihn so trieb, war ihm egal. Nein, eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Weil sie aber mehr und mehr Zeit miteinander verbrachten, begann Max doch tatsächlich, seinen Vater zu mögen. Er entwickelte keine auffälligen Selbstständigkeitsbestrebungen, wie andere in seinem Alter, sondern wurde immer anhänglicher. Er wollte seinen Vater nicht mehr verlieren. Deshalb besorgte es ihn schon, dass der Vater auf irgendwelchen Wegen zu einer Pistole gekommen war und mit der auch gelegentlich im Auto herumfuhr. Selbst auf ihren Spritztouren, bei denen der Vater ihm das Fahren beibrachte, noch bevor die Fahrschule viel Geld dafür haben wollte, hatte er die Waffe dabei. Dies war besonders in dieser Gegend an der tschechischen Grenze ein großes Risiko, weil die Bundespolizei mit Zivilfahrzeugen überraschende Kontrollen durchführte, um nach Rauschgift oder Schmuggelwaren zu fahnden. Der Vater sagte, lieber würde er sterben, als noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Eines Tages kam dann Max darauf, dass der Vater wohl nicht nur die Pistole, sondern auch das Rauschgift und die Schmuggelwaren mit sich führte. Und die Waffe brauche er, um im Ernstfall richtig reagieren zu können. Das ängstigte den jungen Mann sehr.