Virus und Elfe

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Virus und Elfe
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Helene Hammerer

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum neobooks

1

„Also dann, einen schönen Sommer!“, verabschiedete sich Linus von der fröhlichen Runde der Kolleginnen und Kollegen, die den Schulschluss feierten. „Dir auch, vielleicht kommen wir einmal vorbei“, riefen die anderen. „Gut, ein Käsebrot und ein Bier gibt's auf jeden Fall“, grinste Linus und ging Richtung Tür. Seit zwei Jahren unterrichtete er nun am Gymnasium in Halden und er fühlte sich an der relativ kleinen Schule mit der familiären Atmosphäre sehr wohl. Es war richtig gewesen, ins Tal zurückzukehren, wo seine Mutter aufgewachsen war und wo er viele herrliche Sommer auf der Alpe seiner Großeltern verbracht hatte. Hier in Halden hatte er gleich nach dem Studium eine Stelle als Lehrer für Mathematik und Physik bekommen. Im Gemeindezentrum, einem hässlichen Mehrzweckbau aus den Siebzigerjahren, mietete er eine kleine Wohnung und konnte somit alles, was er täglich brauchte, in fünf Minuten zu Fuß erreichen. Jetzt überquerte er die Straße und ging in seine Wohnung im zweiten Stock, wo er sich umzog. Den Anzug, den er zur Feier des Tages getragen hatte, hängte er in den Schrank, das Hemd warf er in die Wäsche. Wenig später trug er alte Jeans, ein kariertes Hemd und seine alte Windjacke. Statt der Motorradstiefel zog er feste Bergschuhe an. Er nahm den Helm und den Rucksack, den er schon am Vorabend gepackt hatte, und ging in die Tiefgarage, wo seine alte BMW stand. Dort setzte er den Helm auf und los ging die Fahrt Richtung Sonnleiten und weiter auf den Geißberg, die Alpe seiner Großeltern. Wie schon in vielen Sommern davor würde Linus dort die Arbeit des Hirten verrichten und dem Großvater zur Hand gehen. Die Verarbeitung der frischen Alpmilch zu Bergkäse gab der alte Mann noch nicht aus der Hand, dafür stand zu viel Geld auf dem Spiel, denn wenn der Käse nicht von bester Qualität war, erzielte er keinen guten Preis. Linus genoss die Fahrt durch die malerischen Dörfer, vorbei an den alten Bauernhäusern mit ihren steilen Dächern, den verwitterten Holzschindeln und den üppigen Blumen vor den Fenstern. Das Gras auf den satten Wiesen stand hoch, bald wurde das zweite Mal gemäht. Nachdem er Sonnleiten hinter sich gelassen hatte und die kurvenreiche Schotterstraße zur Alpe hinauffuhr, änderte sich das Bild. Am Wegrand blühten Blumen in allen Farben, da und dort grasten Kühe und Rinder, meist in kleinen Gruppen. Linus verlangsamte das Tempo, der Weg war nicht im besten Zustand. Aber ein guter Fahrer kam auch damit zurecht, pflegte er nicht ohne Stolz zu behaupten. Schon sah er die Hütte des Geißbergs. Sie war von seinen Vorfahren geschickt inmitten der Hügel errichtet worden. Die Fenster waren gegen Osten gewandt, damit man gleich vom ersten Sonnenstrahl geweckt wurde. Der angebaute Stall schützte den Wohntrakt im Westen gegen das Wetter. Als er sein Motorrad abstellte, kam die Großmutter aus der Hütte gelaufen. Die kleine, zierliche Frau mit den aufgesteckten grauen Haaren wischte sich die Hände an ihrer geblümten Mantelschürze trocken. „Linus, schön, dass du da bist“, strahlte sie. „In zehn Minuten gibt’s Mittagessen.“ Ihr Enkel grinste. Auch auf der Alpe stand bei seiner Großmutter um Punkt zwölf Uhr das Essen auf dem Tisch. Danach konnte man die Uhr stellen. „Tag Säle, ich hab schon einen Bärenhunger“, begrüßte er sie und schüttelte ihr die Hand, wie es im Tal üblich war. Er nahm den Rucksack vom Gepäckträger und folgte der alten Frau in die Hütte. Durch die Haustür kam man direkt in die Sennküche, in deren Mitte ein großer Kupferkessel stand. An der Wand links von der Tür befand sich ein Holzherd, daneben ein offenes Regal mit Küchenutensilien. An der Wand über dem Herd hingen Pfannen an Haken und eine alte Küchenkredenz diente als Vorratsschrank. Die Tür zur Stube stand offen und Linus sah, dass der Tisch bereits gedeckt war. Eine zweite Tür führte in die Schlafkammer der Großeltern und eine steile Holztreppe ins Dachgeschoss, wo noch zwei kleine Zimmer waren. Eines davon gehörte dem Jagdherrn der Alpe, das andere benützte die Familie. Rechts ging es in den Stall, wo auch das Plumpsklo zu finden war. Inzwischen gab es auf den umliegenden Alpen schon viele neue, modern ausgestattete Hütten, aber die Großeltern liebten das einfache Alpleben, wie sie es seit ihrer Jugend gewohnt waren. „Den Luxus gönnen wir uns lieber im Tal“, pflegte der Großvater mit einem Schmunzeln zu sagen. Von Luxus hätte Linus zwar auch im Tal nicht gesprochen, aber der stattliche alte Hof war solide renoviert worden, als sein Onkel diesen vor fünfzehn Jahren übernommen hatte, und war nun mit allem ausgestattet, was ein modernes Haus brauchte. Linus hängte seine Jacke und den Helm in der Stube an die Haken neben der Tür und setzte sich auf Großmutters Einladung hin an den Tisch. Gleich darauf brachte sie eine Pfanne voll Bratkartoffeln, eine zweite mit Spiegeleiern und einen Topf mit Spinat. Sobald das Essen auf dem Tisch stand, kam auch der Großvater zur Tür herein. Er schaltete das batteriebetriebene Radio ein und schon kamen die Mittagsnachrichten. Die Großeltern sprachen ihr altes, traditionelles Tischgebet und auch Linus murmelte ein wenig mit. Die Großmutter teilte den beiden Männern großzügige Portionen aus und richtete dann auf einem Teller eine kleinere Portion appetitlich an. Diese stellte sie auf ein Tablett, auf dem bereits ein Glas Milch und ein Stück Kuchen standen. Zu Linus' Verblüffung ging sie damit Richtung Tür. „Habt ihr einen Gast?“, wandte er sich an den Großvater. Dieser nickte: „Ja, die Enkelin von Grete. Sie hat letzte Woche Tabletten geschluckt und da dachte deine Großmutter, dass wir das Mädchen am besten mit in die Berge nehmen, damit sie sich hier erholen kann.“ Damit hatte Linus neben Großmutters gutem Essen einen ziemlichen Brocken zu schlucken. Grete war Großmutters älteste Freundin und die Taufpatin seiner Mutter. Die Großmutter und sie standen sich sehr nahe und es gab im Leben der beiden Frauen keine Freude und keinen Kummer, die sie nicht geteilt hatten. Und nun war also Gretes Enkelin auf Erholungsurlaub hier. Wenn sie die Kammer im Dach bewohnte, in der normalerweise Linus Quartier bezog, musste er auf den alten Matratzen am Heuboden schlafen, mitunter den ganzen Sommer. Und wie es aussah, verlangte das verwöhnte Ding auch noch Zimmerservice. Schweigend aßen die beiden Männer und hingen ihren Gedanken nach, als die Großmutter zurückkam. Seufzend nahm sie den Teller mit dem Mittagessen und den Kuchen vom Tablett. „Elvira wollte wieder nichts essen“, meinte sie bekümmert. Dann wandte sie sich an ihren Enkel und ihr Gesicht hellte sich auf. „Aber jetzt bist du ja Gott sei Dank gekommen, Linus. Du wirst das arme Mädchen schon aufheitern.“ Linus runzelte die Stirn und gab einen unbestimmten Laut von sich. Er hatte überhaupt keine Lust, irgendein armes Mädchen aufzuheitern. Kurz vor dem Zeugnis musste er sowieso immer das Gejammer und die Tränen seiner Schülerinnen aushalten, wenn die Mathematiknoten schlecht ausfielen. Und jetzt, da er seine Ferien genießen wollte, hatte das Säle so einen Kuckuck in ihr Nest geholt. „Schau nicht so grimmig“, ermahnte sie ihn jetzt und stellte ein großes Stück Kuchen vor ihn auf den Tisch. „Elvira ist ein sehr nettes Mädchen. Grete hat gesagt, das arme Kind hat eine sehr schwere Zeit hinter sich, bis es sich keinen Rat mehr wusste und Tabletten geschluckt hat.“ Linus hatte bereits seine eigene Theorie, warum das verwöhnte Töchterchen von Gretes Sohn, dem Herrn Primarius, einen Selbstmordversuch unternommen hatte. „Ich hab Grete versprochen, dass wir uns gut um sie kümmern. Du hilfst uns doch, oder?“, fuhr die Großmutter fort und ihm blieb nichts anders übrig als zu nicken. Der Großvater hatte das Gespräch schweigend verfolgt und schmunzelte nun, als sein Enkel kapitulierte. „Das Annele hat Recht“, meinte er in seiner bedächtigen Art. „Dem armen Kind geht’s wirklich schlecht. Sie isst schon seit Tagen nichts und läuft herum wie ein Gespenst.“ Diese unerwartete Unterstützung für den ungeliebten Gast ließ Linus aufhorchen. Normalerweise ertrug der Großvater die Pläne, die seine Frau und ihre Busenfreundin schmiedeten, recht geduldig, aber er unterstützte sie nicht aktiv. Also gab Linus nochmals seine Zustimmung, bedankte sich bei der Großmutter für das gute Mittagessen und machte sich daran, seinen Rucksack auszupacken. Im Stubenkasten hatte ihm die Großmutter ein Fach leergeräumt, wo er seine Kleidung verstaute. Ein paar alte Hemden, kurze und lange Hosen und einen warmen Pullover. Regenjacken hingen schon an den Haken neben der Tür. Der Großvater legte sich inzwischen auf das alte Sofa in der Stube und hielt sein Mittagsschläfchen, während die Großmutter am steinernen Brunnentrog in der Sennküche das Geschirr wusch. Linus setzte seinen alten Strohhut auf und machte sich auf den Weg, um nach den Kühen und Rindern zu schauen. Er war an den vergangenen Wochenenden hier gewesen, kannte die Tiere also schon. Bereits als Bub hatte er alle Kühe des Großvaters beim Namen genannt, eine Gabe, die man als Hirte gut brauchen konnte. Unter der Woche hatte ein junger Bauernbub aus dem Dorf dem Großvater geholfen, aber er war am Morgen nach dem Melken mit seinem Moped heimgefahren. Jetzt brauchte man ihn für die Heuarbeit. Linus ging die große Runde, genoss die Ruhe und den Frieden, nahm die Schönheit der blühenden Wiesen und des weiten, fast wolkenlosen Himmels in sich auf und achtete doch wachsam auf jedes Detail. Er kontrolliere die Zäune, zählte das Vieh und schätzte ab, wie lange das Gras noch reichen würde. Kommende Woche würde er die Rinder auf die Weiden weiter oben treiben. Die Milchkühe blieben immer in der Nähe der Hütte, da sie zweimal am Tag gemolken wurden. Auch Lena und Lisa, die beiden Haflingerstuten des Großvaters grasten zwischen den Rindern. Als sie den Hirten sahen, kamen sie gleich auf ihn zu, in der Hoffnung auf einen Leckerbissen. Natürlich hatte er daran gedacht, altes Brot für die beiden mitzunehmen. Er hielt es den Pferden auf der flachen Hand hin und fuhr ihnen durch die „Stirnfransen“. „Na, ihr Schönen, freut ihr euch, mich zu sehen?“, grinste er und die Stuten schnaubten, als stimmten sie ihm zu. Linus lachte: „Gut zu wissen, dass ich bei den Damen immer noch Chancen habe.“ Die hatte Linus zweifelsohne. Mit seinen 1,75m war er nicht besonders groß, jedoch kräftig und muskulös gebaut. Die dichten, hellbraunen Haare trug er immer kurz geschnitten. Sein Gesicht war nicht auffallend schön. Eine gerade Nase, ein breiter Mund, die Zähne ein wenig schief und warme, braune Augen. Beim Lesen musste er eine Brille aufsetzen, da er weitsichtig war. Sobald er jedoch sein freches, jungenhaftes Grinsen aufsetzte, war es um die Frauen geschehen. Sein Freund Helmut, der einen halben Kopf größer und dunkelhaarig war, beschwerte sich oft darüber, dass alle hübschen Mädchen nur Augen für Linus hatten. Dann lachte dieser ihn nur aus und spendierte ihm zum Trost ein Bier. Seit einem Jahr war Linus wieder solo. Seine Freundin und Studienkollegin Bianca wollte in Innsbruck bleiben, während es ihn nach Hause ins Ländle vor dem Arlberg zog. Ihre ständigen Vorwürfe, dass er nicht schreibe und sie fast nie besuche, gingen ihm auf die Nerven und so verabschiedete er sich schließlich ohne großes Bedauern. Bianca hatte inzwischen einen Kollegen gefunden, der ihre Gefühle teilte, was nach Linus' Meinung für alle das Beste war. Als er am späten Nachmittag zur Hütte zurückkehrte, sah er schon von weitem den alten Geländewagen des Großvaters. Im Sommer benutzte ihn sein Onkel, um regelmäßig Lebensmittel und andere notwendige Dinge auf die Alpe zu bringen. Falls ganz dringend etwas gebraucht wurde, holte es Linus mit dem Motorrad. Heute hatte Reinhard nicht nur Lebensmittel und die Post, sondern auch seine beiden älteren Kinder mitgebracht. Der zwölfjährige Thomas und die achtjährige Angela würden eine Woche bei den Großeltern bleiben. Als seine kleine Cousine ihn sah, lief sie ihm freudestrahlend entgegen. „Linus, ich hab im Zeugnis lauter Einser und nur einen Zweier“, rief sie atemlos. „Gut gemacht“, lobte dieser, „dann hast du dir die Ferien ja wirklich verdient.“ Hand in Hand gingen die beiden zu den anderen. Linus war auch der Liebling all seiner jüngeren Cousins und Cousinen sowie seiner drei Schwestern. Auch Thomas kam ihm entgegen. „Linus, darf ich eine Runde mit deinem Motorrad fahren?“, wollte er wissen. „Ja, aber nur als Beifahrer“, lautete der Bescheid. „Schade, bei Seppl zu Hause fahren wir immer mit dem Mofa und sein Bruder hat mich sogar mit seiner Motocross fahren lassen“, maulte der Bub enttäuscht. „Ich bin nicht Seppls Bruder. Komm meiner BMW besser nicht zu nahe“, warnte Linus. „Und wie ist dein Zeugnis ausgefallen?“, wechselte er das Thema. „In Mathe hab ich einen Einser“, grinste Thomas. „In Englisch hat er einen Vierer“, verkündete seine kleine Schwester, was ihr einen bösen Blick und ein gezischtes „Tratschbase!“ einbrachte. „Und hat dich Reinhard wenigstens an den Ohren gezogen?“ „Nein, Papa ist das egal. Mama hat geschimpft, aber dann hab ich einfach ganz traurig geschaut, wie du gesagt hast, und dann hat sie mir für den Einser in Mathe einen Zwanziger gegeben.“ Die beiden grinsten einander verschwörerisch an. „Hast du schon gehört? Der Virus bleibt den ganzen Sommer hier auf Erholung“, verkündete Thomas wichtig und verdrehte die Augen. Linus brauchte einen Moment, bis er begriff, dass mit „Virus“ Elvira gemeint war. Er verkniff sich ein Grinsen und ermahnte Thomas halbherzig, den Gast der Großmutter nicht so zu nennen. Gemeinsam gingen sie in die Hütte, wo es eine Jause mit Bauernbrot, frischer Butter, Käse und Speck gab. Elvira ließ sich auch diesmal nicht blicken und die Großmutter brachte ihr ein Tablett aufs Zimmer, das sie wenig später unberührt zurückbrachte. Nur den süßen kalten Kräutertee wollte das Mädchen trinken. Linus schwor sich, dem Spuk bald ein Ende zu machen. Es ärgerte ihn, mitanzusehen, wie die Großmutter bei jeder Mahlzeit ein Tablett die steile Stiege hinauftrug, wo ihr das Treppensteigen eh nicht ganz leichtfiel, nur, um dann bekümmert und enttäuscht alles wieder zurückzubringen. Nach der Jause holten Linus und die Kinder die Kühe von der Weide. Die klugen Tiere wussten, dass es Zeit zum Melken war und kamen von selbst näher zur Hütte. Als sie den Ruf des Hirten hörten, drängten sie zur Stalltür, wo der Großvater stand und für Ordnung sorgte. Jede Kuh fand ihren Platz selbst, wurde angebunden und dann gemolken. Inzwischen lief der Dieselgenerator, denn von Hand zu melken war auch dem Großvater zu mühsam. Die Kinder tummelten sich ebenfalls im Stall und während die Männer mit zwei Melkmaschinen die Kühe molken, streuten sie den Tieren Streueheu. So lagen sie in der Nacht trocken und der Mist konnte dann am Morgen leicht entfernt werden. Die Milch in den vollen Melkeimern wurde durch ein feines Sieb in eine große Milchkanne umgeschüttet. Wenn diese voll war, leerte Linus die Milch in große, flache Holzgefäße, die sogenannten „Gebsen“, damit am Morgen der Rahm abgeschöpft und zu Butter verarbeitet werden konnte. Nach dem Melken wusch er das Melkgeschirr und die Eimer. Der Großvater legte größten Wert auf Sauberkeit, da sonst der Käse nicht gelang. Heißes Wasser holte man aus dem „Schiff“, dem Wasserbehälter im Holzherd oder aus dem Waschkessel, auf dem Großmutter als junge Frau bestanden hatte. Wenn das Melkgeschirr gewaschen war, wurde der Generator abgeschaltet und nun gab es nur noch „Batterielicht“. Die kleinen Leuchtröhren, die Linus vor ein paar Jahren installiert hatte, wurden von einer Autobatterie gespeist, die immer aufgeladen wurde, solange das Dieselaggregat lief. Sie waren erstaunlich hell und ein großer Fortschritt zu den trüben, stinkenden Petroleumlampen, die sie früher verwendet hatten. In der Stube saßen die Großeltern und die Kinder am Tisch und tranken frische Milch. Dazu gab es Weißbrot, das die Kinder freudig in die Milch tauchten, um es dann schlürfend herauszulöffeln. Linus goss sich aus dem Krug auf dem Tisch ebenfalls Milch in die große alte Kaffeetasse, nahm sich eine Scheibe Brot, tunkte sie ein und biss geschickt ab. Als Kind hatte er genauso „Milch und Brocken“ geschlürft, wie Thomas und Angela es heute taten. Grinsend schaute er den beiden zu und wartete darauf, dass das Säle sie ermahnte, nicht gar so laut zu schlürfen, was es kurze Zeit später auch tat. Als alle satt waren, räumten sie den Tisch ab. Linus brachte den Krug mit der restlichen Milch in den Keller, wo es immer kühl blieb und wo der Käse und die Vorräte gelagert wurden. Inzwischen holten die Kinder das alte Spielbrett und stellten die Kegel auf. Am Abend wurde auf der Alpe sehr oft gespielt. Da der Ähne die neue Zeitung lesen musste, die sein Sohn ihm vom Tal heraufgebracht hatte, spielten sie mit dem Säle „Mensch ärgere dich nicht“. Nach drei erbitterten „Schlachten“ war es Zeit zum Schlafengehen. Das Säle zwang die Kinder, sich sie Zähne zu putzen und sich in der alten Blechwanne unter der Stiege zu waschen. An einer Stange war ein Vorhang befestigt, damit man vor neugierigen Blicken geschützt war und der Großvater nannte den kleinen Verschlag scherzhaft „Anneles Bad“. Linus wusch sich draußen am Brunnentrog und ging mit den Kindern auf den Heuboden, wo das Säle die alten Matratzen und Kopfkissen bezogen hatte. Zum Zudecken gab es immer noch die schweren Steppdecken. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, gingen die drei in den Stall und über die steile Holztreppe zu ihrem Lager. Das Plumpsklo befand sich gleich neben der Treppe, was praktisch war, wenn man es in der Nacht benützen musste. Angela wollte zwischen Linus und ihrem Bruder liegen, weil sie sich dort am sichersten fühlte. Unter sich hörten sie die Kühe leise schnauben und ab und zu bimmelte eine Schelle. Das Stalltor war nur unten geschlossen, da die Nacht lau war. So kamen durch die obere Hälfte Luft und Licht in den Stall. Die Kinder waren müde von ihrem langen, ereignisreichen Tag und schliefen schnell ein. Linus hörte die Großeltern noch eine Weile kommen und gehen, dann senkte sich tiefer Friede über die Hütte. Mitten in der Nacht wurde er unsanft gerüttelt. „Linus, wach auf, ein Gespenst!“, flüsterte Thomas. Da der Bub vor Schreck zitterte, stand Linus auf und bot ihm an, nachzuschauen. Thomas hielt die Hand seines unerschrockenen Cousins umklammert und gemeinsam schlichen sie Richtung Treppe. Plötzlich knarrte die Klotür. Thomas erstarrte und auch Linus blieb stehen. Im Schein der Kerze, die sie in der Hand hielt, sahen sie eine weiße Gestalt mit langem blondem Haar. Auf den ersten Blick konnte man sie wirklich für ein Gespenst halten, auf den zweiten Blick erkannte Thomas Elvira. „Der Virus“, zischte er empört. Die junge Frau bemerkte ihre Beobachter nicht und ging zurück ins Wohnhaus. Thomas nahm die Taschenlampe und polterte die Stiege hinunter, während Linus sich bemühte, nicht gar zu laut zu lachen. Bis der Bub zurückkam, hatte er sich gefasst und wünschte ihm eine gute Nacht.

 

2

Am Morgen um fünf Uhr warf der Großvater den Dieselmotor an und Linus wurde jäh aus dem Schlaf gerissen. Er rieb sich die Augen, streifte sich Hemd und Hose über und ging hinunter in die Sennküche, wo er sich Wasser ins Gesicht spritzte und die Hände wusch. Das genügte als Morgentoilette. Aufs Rasieren verzichtete er auf der Alpe auch. Erst, wenn ihm der Bart lästig wurde, musste er wieder weg. Der Großvater hatte sich schon einen Melkschemel und eine Melkmaschine geholt und saß friedlich an die Flanke einer Kuh gelehnt, während die Maschine ihre Arbeit tat. Linus zog eine blaue Stallhose und eine Arbeitsjacke über seine Kleidung, setzte einen alten Filzhut auf und machte es ebenso. Er mochte es, am Morgen zu melken, wenn alles noch ruhig war. Es war eine beschauliche Arbeit. Die Milch wurde wieder gesiebt und kam gleich in den großen Sennkessel. Jeden Vormittag machte der Großvater Käse daraus. Als sie gemolken waren, wurden die Kühe losgebunden und auf die Weide getrieben. Die Großmutter hatte inzwischen das Frühstück zubereitet. „Stopfer“, wie der herzhafte Grießschmarren genannt wurde, dazu heiße Milch und Kaffee. Wobei „Kaffee“ eigentlich nicht die richtige Bezeichnung war für die dunkle Brühe aus Kaffeeersatz. Linus gab immer einen Esslöffel löslichen Bohnenkaffee in seine Tasse und schenkte sich erst dann aus der großen Kanne ein. Die Kinder tranken zu ihrem Stopfer heiße Milch. Sie waren noch verschlafen und friedlich um diese Zeit. Nach dem Frühstück ging Linus seine Runde, um zu sehen, ob die Tiere gut über die Nacht gekommen waren. Normalerweise gab es nach einer so ruhigen, friedlichen Nacht keine unangenehmen Überraschungen aber Nachschauen musste der Hirte auf jeden Fall. „Warte auf mich, Linus!“, rief Angela, als ihr Cousin sich vom Tisch erhob. „Ich geh mit dir.“ „Gut, dann iss in Ruhe fertig. Ich warte draußen auf dich“, versprach er. Wenig später machten sie sich auf den Weg. Beide trugen alte Jeans, Bergschuhe und Hüte, außerdem einen kräftigen Haselstecken, falls man die Kühe treiben mussten. Fröhlich plappernd lief das Mädchen neben dem jungen Mann her, erzählte ihm von ihren Freundinnen und von zu Hause, pflückte nebenbei Blumen für die Großmutter und nannte ihm bei vielen den Namen. „Woher kennst du denn die ganzen Blumen?“, wollte Linus wissen. „Das Säle hat sie mir gezeigt und in der Schule hab ich alle gekannt. Das Fräulein hat gesagt, ich bin echt spitze“, strahlte Angela. Linus nickte anerkennend. „Das ist ein Hornklee“, erklärte sie und hielt ihm eine kleine gelbe Blume unter die Nase. „Stimmt“, bestätigte er. „Also, spielen wir, wer mehr Blumen kennt?“, schlug die Kleine vom Ehrgeiz gepackt vor. „Ich fürchte, gegen dich habe ich keine Chance.“ Das Wissen und der Eifer des Kindes gefielen ihm und natürlich ließ er es gewinnen. Angela durfte sich ein Spiel aussuchen, das er am Nachmittag mit ihr spielen würde. Längere Zeit war nichts zu hören, weil Angela angestrengt überlegte, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf und ihre grünen Augen strahlten. „Ich will, dass du mit mir reitest“, entschied sie. Linus war einverstanden und kurze Zeit später kamen sie zur Hütte zurück. Angela brachte der Großmutter freudestrahlend die Blumen und Linus nützte die Zeit bis zum Mittagessen, um die Halfter und die beiden alten Sättel zu reinigen. Der Großvater hatte schon immer Haflingerstuten gehabt, hauptsächlich zum Fahren. Im Frühling bot er Kutschenfahrten an, im Winter Schlittenfahrten. Manchmal fuhr er auch zu seiner eigenen Freude. Die Pferde waren seine Lieblinge und immer ruhige, gutmütige Tiere. Die Kinder durften darauf reiten, wenn sie wollten. Auch Linus' Schwestern waren ganz versessen darauf gewesen. Die Großmutter rief zum Mittagessen. Es gab Tirolerknödel und Kraut. Hungrig machten sich die Kinder und die Männer über das Essen her, während die Großmutter wieder eine Portion zu Elvira ins Zimmer hinauftrug. Auch diesmal brachte sie das Essen unberührt zurück. Linus schaute in ihr besorgtes Gesicht und stand auf. „So, das reicht jetzt. Ich werde mit der Prinzessin ein ernstes Wörtchen reden. Das ist kein Vier-Sterne-Hotel und du nicht ihre Dienstmagd“. Bei seinen energischen Worten schaute der Großvater auf. „Sie ist unser Gast“, bemerkte er kurz. Das hieß im Klartext, Linus solle höflich sein und ihr nicht zu nahe treten. Dieser nickte unwillig, nahm der Großmutter das Tablett ab und stürmte die Treppe hinauf. Er klopfte kurz an die Zimmertür und trat ein, bereit für eine ordentliche Standpauke. Doch der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn augenblicklich verstummen. Auf dem ordentlich gemachten Bett saß Elvira und schaute aus großen blauen Augen ängstlich zu ihm auf. Sie war blass und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Das lange blonde Haar hing ihr offen über den Rücken und in ihrem Schoß lag ein dickes Buch. Linus stellte das Tablett auf den kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem ein Strauß Alpenblumen stand. Die Großmutter hatte Elvira wohl einen Teil von Angelas Blumen abgetreten. „Magst du nicht ein bisschen essen?“, frage er dann freundlich. „Das Säle hat schon Angst, dass du hier oben verhungerst.“ Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen und sie schüttelte den Kopf. Als Linus nur geduldig wartete, schluckte sie schwer und schüttelte abermals den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie leise und schon rannen ihr Tränen über die Wangen, die sie vergeblich mit den Fingern wegwischte. Linus nahm das Tablett und setzte sich neben sie aufs Bett. Er zerteilte den Knödel, spießte ein Stückchen auf und hielt es ihr hin wie einem kleinen Kind. „Ein Löffel für das Säle“, grinste er und Elvira machte brav den Mund auf. Nach einigen Bissen gab er ihr die Gabel in die Hand und sie aß den halben Knödel und ein wenig Kraut. Auch ihre Tränen waren versiegt. „Danke“, sagte sie leise. Plötzlich kam Linus ein Gedanke. „Bist du nicht als Kind immer geritten?“, fragte er. „Angela möchte am Nachmittag reiten, da könntest du uns Gesellschaft leisten.“ Nach kurzem Zögern nickte sie. Mit dem guten Gefühl, einen Anfang gemacht zu haben, ging Linus nach unten. Dem armen Ding ging es wirklich schlecht, das war nicht nur Theater, wie er zuerst gedacht hatte. Damit war auch das Verhalten des Großvaters geklärt. Als junger Mann hatte er ohnmächtig mitansehen müssen, wie seine kleine behinderte Schwester von den Nazis abgeholt worden und dann angeblich an Lungenentzündung gestorben war. Das hatte er nie vergessen und so setzte er sich immer für die Schwachen und Wehrlosen ein. Zu jenen schien Elvira in seinen Augen zu gehören. Die Großmutter war hocherfreut, als Linus den halbleeren Teller zurückbrachte. „Du bist ein Tausendsassa, Linus“, lobte sie ihn. Der Großvater schmunzelte: „Na, dann bringt ihr in Zukunft Linus das Essen.“ Dieser schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, sie kommt bald herunter. Am Nachmittag geht sie mit uns reiten.“ „Au ja“, freute sich Angela. „Von mir aus kann der Virus ruhig in seinem Zimmer bleiben“, verkündete Thomas, dem eindeutig zu viel Aufhebens um den Gast gemacht wurde. „Du kannst von mir aus auch im Zimmer bleiben, wenn ich diesen Namen noch einmal höre“, bemerkte der Großvater ruhig. Doch wer ihn kannte, hörte den stählernen Unterton und auch sein Enkel wusste, dass der Spaß vorbei war.

 

Linus nahm die Sättel von der Bank vor dem Haus und wartete auf seine Begleiterinnen. Er hatte Angela zu Elvira geschickt. Kurze Zeit später kamen die beiden. Auch Elvira trug alte Jeans und eine karierte Bluse. Die Hose war ihr viel zu weit und so hatte sie einen „Strohspagat“ als Gürtel umgebunden. Die groben Kunststoffschnüre mit denen die Strohballen zusammengehalten wurden, gab es in Weiß, Blau und Orange. Sie wurden auf den Bauernhöfen gesammelt und für alles Mögliche verwendet. Als Gürtel hatte Linus sie noch nie gesehen. „Elvira verliert ihre Hose aber das Säle hat uns einen Strohspagat geholt“, verkündete Angela. Linus ging nicht lange auf das Thema ein, drückte den beiden ein Halfter in die Hand und schlenderte Richtung Weide, wo die beiden Pferde grasten. Wieder hatte er altes Brot mitgenommen und so kamen die Tiere gleich, als sie ihn sahen. Er gab Angela ein Stück Brot und sie hielt es Lisa auf der flachen Hand hin. Als sie die weichen Lippen des Pferdes kitzelten, kicherte die Kleine und wischte sich schnell die Hände an der Hose ab. Linus legte Lisa das Halfter an und sattelte sie. Elvira machte das Gleiche mit Lena. Ihre Bewegungen waren sicher und geschickt, stellte Linus erstaunt fest. „Das machst du auch nicht zum ersten Mal“, bemerkte er. „Nein, ich hatte als Kind ein Pony“, erklärte Elvira und lächelte traurig bei dem Gedanken. „Als ich zu groß wurde, hat meine Mutti es verkauft. Da hat mir das Reiten keinen Spaß mehr gemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich es noch kann.“ „Reiten ist wie Radfahren. Das verlernt man nicht“, behauptete Linus und hielt Elvira seine ineinander verschränkten Hände hin. Geschickt stellte sie einen Fuß darauf und schwang sich in den Sattel. Sie tätschelte der Stute den Hals und wartete geduldig, bis Linus Angela in den Sattel geholfen hatte. „Ich hab schon fünf Reitstunden gehabt“, erzählte sie stolz. „Gut, dann halt dich fest, es geht los“, schmunzelte ihr Reitknecht, nahm das Halfter und führte das Pferd langsam Richtung Hütte. Ein wichtiger Teil der Reitstunden waren Säles Bewunderungsrufe. Elvira fiel neben ihnen in einen langsamen Schritt. Nachdem Angela vom Säle ausgiebig bewundert und ermahnt worden war, drehten sie eine Runde auf der Weide in der Nähe der Hütte. Elvira schien sich zu entspannen. Sichtlich mochte sie Pferde gern und konnte gut mit ihnen umgehen. Nach dem Reiten hatten sie Durst und tranken in der Hütte kalten Tee. Linus ging seiner Arbeit nach, während Angela den Sack mit den Strohschnüren vor die Hütte schleppte. Sie wollte mit Elvira einen richtigen Gürtel flechten. Die Begeisterung des Kindes schien die junge Frau anzustecken und sie half bereitwillig. Später saßen alle in der Stube bei der Jause und auch Elvira hatte ein kleines Stück Brot und Käse vor sich. Linus hob fragend die Augenbrauen und sie nickte leicht. Angela führte ihre neuen Gürtel vor. Mit Elviras Hilfe hatte sie Strohschnüre zu einem Zopf geflochten, was gar nicht so übel aussah, wie Linus zugeben musste. Thomas hatte einen neuen Haselstock geschnitzt und zeigte ihn stolz den anderen. Er wollte ihn natürlich gleich ausprobieren und ging mit seinem Cousin mit, um die Kühe von der Weide zu holen. Nach dem Melken gab es Milch und frisches Zopfbrot, weil Samstag war. Elvira trank einen Becher Milch. Sie schaute den Kindern zu, wie sie das Zopfbrot aus der Tasse löffelten. „Das durften wir bei Oma Grete auch immer“, erzählte sie und ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Danach spielten die Männer mit den Kindern Karten, die Großmutter strickte Socken und Elvira verabschiedete sich. Sie wollte sich noch die Haare waschen. Also schöpfte sie mit einem Blecheimer Wasser aus dem Waschkessel, leerte es in die Blechwanne, gab ein wenig von der Molke dazu, die in einem Eimer neben der Wanne stand und füllte dann mit kaltem Wasser auf. Sie zog den ausgebleichten Vorhang vor und stieg in die Wanne. Wenn sie wolle, könne sie jeden Tag baden, hatte ihr das Annele versichert. Die Molke würde ihre Haut und ihr Haar weich und seidig machen. Elvira räkelte sich wohlig im warmen Wasser und fühlte sich angenehm müde. Vielleicht war Oma Gretes Idee doch nicht so schlecht gewesen. Anneles Familie war wirklich nett zu ihr. Niemand machte ihr Vorwürfe, weil sie die Tabletten geschluckt hatte und niemand schimpfte, wenn sie nicht essen konnte. Im Moment fühlte sich auch der Kloß in ihrem Hals nicht mehr so groß an. Nach einer Weile stieg die junge Frau aus der Wanne, wickelte sich in ein großes Badetuch, schlang sich ein Handtuch um die nassen Haare und ging in ihr Zimmer. Dort schlüpfte sie in das lange weiße Nachthemd, flocht die feuchten Haare zu einem Zopf und trat ans Fenster. Es war noch nicht ganz dunkel. In der Dämmerung lagen die Hügel und weiter weg die hohen Berge vor ihr. Die friedliche Stille wurde nur durch das Bimmeln der Kuhglocken und die Stimmen aus der Stube unterbrochen. Elvira atmete die reine, kühle Luft tief ein und auch das Atmen ging wieder leichter. „Danke“, flüsterte sie und legte sich ins Bett, wo sie der Schlaf von den dunklen, bedrückenden Gedanken der vergangenen Tage und Wochen erlöste.

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