Mit Märchen zum Glück

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Das Glück wohnt im Echsental


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte einmal eine Königstochter. Sie hieß Tara und war über alle Maßen schön. Ihre Eltern waren alt und müde. So bemerkte niemand, wie sie ihr Land nach und nach an steingraue Echsen verloren. Immer schon waren diese Urtiere da und fraßen Blätter von Sträuchern und Bäumen. Die Leute ließen sie gewähren, und auch der König duldete die Fresser. Die Menschen waren sorglos, schauten nur auf heute und wollten einen schönen Tag erleben. Keiner fragte sich, woher die Echsen kamen und wie sie sich so vermehren konnten. Dann waren die Wälder kahl und die ganze Gegend steingrau. So konnten sich die Echsen weiter gut verbergen. Einige mutige Frauen und Männer zogen aus und bekämpften die mächtigen Fresser mit Schwertern, aber sobald sie einen Kopf abgeschlagen hatten, wuchsen zwei andere aus der Wunde nach und fraßen noch gieriger.

Alle, die in die Zukunft schauen konnten, verließen das Land und die Zurückgebliebenen bauten Mauern um ihre Häuser und Gärten.

Tara aber stieg jeden Tag hinauf zum höchsten Turm und schaute über alle Lande, ob nicht von irgendwo Rettung käme. Manchmal schien ihr, als ob drüben – vom Hohenberg her – etwas winkte, aber es war nur die Flagge, die heftig hin- und herschlug.

Als Tara zur Frau gereift war, hielt Ottokar, der König des Nachbarreiches, um ihre Hand an und feierte Hochzeit mit ihr. Jetzt war sie Königin auf Schloss Hohenberg.

Aber sie wurde in König Ottokars Land nicht glücklich. Die Menschen dort arbeiteten immerzu, liefen mit ernsten Gesichtern umher und taten gewichtig. Keiner genoss sein Leben, jeder erzählte nur von den Aufgaben, die noch erledigt werden müssten. Dabei waren die Häuser und Straßen prächtig, und die Gärten blühten bis in den Winter. Doch niemand schien sich daran zu freuen. Immer wieder spähte Tara über die Berge in ihr Echsental und sah, wie es von Tag zu Tag düsterer und kahler wurde. Der Kummer kroch ihr ins Herz und raubte ihr den Schlaf. Ihr Gemahl konnte die Trauer nicht verstehen und wurde zunehmend ärgerlich: »Genügt dir denn mein Reich nicht?«, warf er ihr entgegen. »Hast du denn bei mir nicht alles was du brauchst?«

Die junge Königin wusste keine Antwort, die ihn zufriedengestellt hätte, und so schwieg sie.

Doch unentwegt, auch in ihren Träumen, suchte sie nach einer Lösung.

Da sah sie eines Tages, wie die Leute von Hohenberg grüne Gartenabfälle auftürmten, um sie verrotten zu lassen. Und wie ein Blitz durchzuckte sie ein rettender Gedanke. Sie bat die Gärtner, ihr das Grünzeug zu überlassen, und diese taten es nur allzu gern. Ja, sie liehen ihr sogar Pferde und Wagen, damit sie alle Abfälle wegschaffen konnte.

Einige treuen Knechte und Mägde luden die matschigen Salatköpfe und verrunzelten Rübenblätter auf. Dann zogen sie mit den Pferdewagen hinunter ins Tal. Schon von Weitem konnten sie das hungrige Heulen der Echsen hören. Tara musste ihren Getreuen gut zureden weiterzufahren. Eilig warfen sie das alte Grünzeug von den Wagen und galoppierten davon. Beim Zurückschauen sahen sie noch, wie die Echsen sich auf die Abfälle stürzten und sie gierig herunterschlangen.

Als König Ottokar von ihrem Ansinnen erfuhr, verbot er, es fortzuführen: »Über die Berge werden diese trägen Tiere niemals kommen«, sagte er mit schneidender Stimme, »und was sie mit dem Echsenreich anstellen, wen kümmert es?«

Doch eine wahre Königin gibt niemals auf. So lud sie zu einem großen Fest mit lautem Musikgetöse, mit Gauklern und allerlei Gaumenschmaus. Jedermann hatte alle Hände voll zu tun. Und Tara tanzte unentwegt mit dem König, bis ihm die Füße schmerzten.

So bemerkte niemand bei Hofe, wie die treuen Mägde und Diener der Königin wieder und wieder Wagenladungen mit gärendem Gemüse ins Tal kippten.

Niemand hörte, wie die Echsen vor Schmerzen brüllten, dass es wie Donnerhallen klang und die Berge erzitterten.

Der König schlief ermattet in seinen Daunendecken und wähnte sich sicher. Die gierig schlingenden Echsen aber nahmen in dieser Nacht ein böses Ende. Sie fraßen und fraßen von den faulenden Blättern, bis sich ihre Innereien so aufblähten, dass sie nacheinander zerplatzten.

Im Morgengrauen lag das Tal übersät mit toten, schuppig-grauen Urtieren. Die Leute des Echsentals kamen freudig aus ihren Häusern und bestaunten die reglosen Tierleiber. Und als Tara im Sonnenaufgang mit ihrer weißen Stute über den Berg geritten kam, jubelten sie ihr entgegen.

Es dauerte nicht lange, bis die Tiere vergraben waren und das Schloss wieder im alten Glanz erstrahlte. Jetzt konnte die Königin mit ihrem treuen Gefolge in ihrem angestammten Reiche Einzug halten. Die alten Eltern weinten vor Freude. Von den Steinen der Mauern, die die Leute um ihre Häuser gebaut hatten, ließ die Königin zahlreiche Türme errichten, die weit hinaus ins Land schauten. Und drei Mal im Jahr gab es Wettbewerbe im »Glücksuchen«. Derjenige wurde Sieger, der die Ereignisse am besten auf ihre Glückstauglichkeit abwägen und in die Zukunft deuten konnte. Und alle achteten darauf, dass es ihnen gutging und ihnen nichts mehr über den Kopf wuchs.

Der König von Hohenberg aber schaute jeden Morgen und jeden Abend vom Turm hinab ins Tal und wusste sich keinen Rat. Sein Herz war ihm vor Sehnsucht schwer. Manchmal war er kurz davor, mit seinem Rappen hinunter zu seiner angetrauten Frau zu reiten und mit ihr Versöhnung zu feiern. Doch immer hielt ihn sein Stolz zurück.

Da bemerkte er eines Tages, dass unten auf dem höchsten Turm zwei Fahnen wehten: die von Hohenberg und die von Echsental. Eilig wies er seine Schneider an, auch Flaggen mit dem Wappen von Echsental zu fertigen, und wachte persönlich darüber, dass alle Welt sie sehen konnte.

Wie froh war Tara, als sie das Versöhnungszeichen ihres Mannes erkannte. Noch in der Nacht sattelte sie ihr Pferd und ritt im Morgengrauen los. Mit den ersten Sonnenstrahlen sah sie König Ottokar direkt auf sich zugaloppieren, sodass ihr Herz vor Glück hüpfte.


Die dicken Schwestern


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte Marie, ein junges Mädchen, in einem großen Wirtshaus. Sie war das zehnte Kind der Familie, und wenn durch die Gäste auch immer Geld ins Haus kam, so reichte es doch vorne und hinten nicht.

Fünf der Brüder hatten ihr Erbe schon vom Vater ausbezahlt bekommen und sich Handwerksbetriebe aufgebaut. Dem Ältesten wurde die Wirtschaft zugesprochen, während die vier Mädchen auf einen angesehenen Freier warteten.

Marie hatte von allen Kindern das sonnigste Gemüt. Wer sie kannte, war ihr zugetan. Doch leider hatte sie das herbe Aussehen ihres Vaters geerbt, und alle Männer, die in die Wirtschaft kamen, umwarben lieber eine ihrer drei Schwestern.

Marie betrübte das nicht, sie gönnte allen ihr Glück.

Eines Tages brachte der Viehhändler ein Kälbchen vorbei, das der Vater einem Bauern abgekauft hatte. Marie kraulte das Tierchen und schmiegte sich in seinen Hals, sodass der Vater es nur mit Mühe von ihr weg ins Schlachthaus ziehen konnte. Der Viehhändler betrachtete das Mädchen mit großem Interesse: »Würdest du denn auch einen Bauern heiraten?«, fragte er.

»Von Herzen gern«, antwortete Marie, »die Arbeit auf dem Feld macht mir gar nichts aus.«

Da erzählte er ihr von Hannes, einem Bauern, dessen Hof über drei Berge weg in einem Tal lag. »Er ist der Alleinerbe, die Schwester ins Kloster gegangen und die alten Eltern vor Kurzem gestorben. Er wäre eine gute Partie.«

Schon während der Viehhändler sprach, hatte Marie Herzklopfen und willigte ein, den Hof mit Vater und Bruder in Augenschein zu nehmen.

Eine Woche später machten sie sich mit dem Viehhändler auf den Weg. Als Marie das Haus des Mannes besichtigte, von dem in den höchsten Tönen gesprochen worden war, fand sie es verschmutzt und abgeblättert vor.

Doch Hannes war stattlich und schäkerte so frech mit ihr, dass sie übermütige Kräfte in sich wachsen fühlte.

Im Stall standen drei dicke Kühe, eine davon trächtig, und Marie wurde heiß bei dem Gedanken, bald das neugeborene Kälbchen kraulen zu können. In einer Nebenstube lagerten dicke Ballen fester Stoffe und zarter Gardinenspitzen.

Eine blank geputzte Nähmaschine wartete in der Ecke, und die Schränke quollen über vor Bettzeug. Sie sah sich schon an den Abenden sitzen, Vorhänge für die niedlichen Sprossenfenster nähen und dicke Federdecken aufschütteln.

Gern stimmte sie der Heiratsvermittlung zu und stieß auf den Hochzeitstermin mit ihrem Bräutigam an.

Vater und Bruder blieben seltsam ernst, als sie zusammen den Weg über die drei Berge zurück in ihren Heimatort wanderten. Doch Marie schmiedete unentwegt Pläne für ihr neues zu Hause. Da Hannes’ einzige Schwester im Kloster war, konnte sie bald allein in ihrem Haus schalten und walten.

Mit einem üppig beladenen Hochzeitswagen zog Marie nach der kirchlichen Trauung durch ihr neues Heimatdorf. Alle standen vor den Haustüren und staunten. Marie hätte vor Stolz platzen können. Doch als sie sich fröhlich in allen Räumen umschaute, waren Stoffballen, Nähmaschine und Bettzeug verschwunden. Und am Abend beim Melken stand nur noch eine Kuh im Stall, die wenig Milch gab.

 

Hannes gestand ihr, all die anderen Schätze vom Viehhändler nur ausgeliehen zu haben, um ihr zu imponieren.

Aber ihre jugendlichen Kräfte wuchsen trotz der Enttäuschung über ihren Mann und behielten die Oberhand. »Jetzt erst recht!«, wurde ihr Leitspruch.

Als zwei ihrer Schwestern sie im Herbst besuchten, fanden sie ein blitzblankes Bauernhaus und eine in sich ruhende Hausfrau vor, die ein Kind erwartete. Marie erzählte von dem Betrug und zeigte ihnen die leeren Kammern und Schränke.

Oh, wie betroffen und traurig sie alle waren.

Noch vor Wintereinbruch kamen alle drei Schwestern über die Berge, dick und rund, als wolle man sie kugeln, und blieben, bis das Kind geboren war.

Dann zogen sie, ersichtlich dünn geworden, wieder von dannen.

Die Leute spotteten über Hannes: »Hast wohl nichts mehr zu essen im Haus, wenn dein Besuch so abmagert?«

Er fühlte sich in die Ecke gedrängt und ging, so oft er ein paar Münzen zusammenkratzen konnte, ins Wirtshaus. Manchmal grabschte er in aller Frühe Eier aus den Nestern und tauschte sie gegen ein Glas Wein. Aus der Bauernwirtschaft holte er wenig heraus. Nichts ging ihm von der Hand. Keiner im Dorf bestellte die Äcker so ungeschickt, keiner drückte sich so vorm Abernten der Bäume und Mähen der Wegeränder. Wenn Marie nicht eine tüchtige Hand beim Gärtnern und beim Versorgen des Kleinviehs gehabt hätte, der Tisch wäre mager gedeckt worden.

Zum großen Glück gab es auch noch die dicken Schwestern, die abwechselnd im Frühjahr und Herbst vorbeikamen und abgespeckt nach ein paar Wochen wieder heimwärts wanderten.

Was war ihr Geheimnis?

Sie zogen sich zu Hause mehrere Stoffbahnen unter die Röcke, versteckten Schaffelle und Wolle in ihren Oberteilen und trugen Kinderkleider unter den Mützen. In den Buckelkörben brachten sie Geselchtes und Geräuchertes von der Mutter mit. So konnten sie ihrer betrogenen Schwester das Überleben sichern und Patin stehen für die neuen Kinder, die jedes Jahr geboren wurden.

Hannes aber schrumpelte immer mehr in sich hinein und überließ die Arbeit in Stall und Feld bald seinem Ältesten, der in allem der Mutter nachschlug.

Teils aus Gewohnheit, teils aus purer Freude kamen die Patinnen weiterhin in den rauen Wintermonaten dick eingemummelt ins Dorf und wanderten sichtlich erleichtert nach einigen Tagen wieder heimwärts.


Wie Kinder so werden


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte ein flinkes, kluges Mädchen in einem großen Haushalt. In Schränken und Truhen war alles vorhanden, was man braucht, und noch viel mehr.

Annelie bekam die herzigsten Puppen und den feinsten Kaufmannsladen. Ihr Zimmer quoll über von Spielzeug. Ihre Mutter wollte ihr all das gönnen, was sie selbst als Kind vermisst hatte. Doch das Mädchen wollte nicht damit spielen.

Was es wollte?

Hinaus wollte es, hinaus in die Welt und frei sein. Wenn die Mutter einen Augenblick nicht aufpasste, entwischte es nach draußen und lief zum Teich am Waldrand. Da traf es Buben, mit denen es von Herzen gern spielte. Sie scheuchten Tiere auf, bauten sich ein Floß, mit dem sie auf dem See herumpaddelten, und schnitzten sich Pfeile. Je wilder das Spiel, desto besser gefiel es ihr.

Wenn Annelie bei Einbruch der Dämmerung hungrig und verdreckt von oben bis unten zurück ins Haus schlich, wurde sie von den Eltern nur streng angesehen. Sie waren immer froh, ihr Kind wieder heil bei sich zu haben. »Warum kannst du nicht so brav sein, wie die anderen Mädchen?«, seufzte ihre Mutter oft, wenn sie ihr ein weißes Spitzenkrägelchen für feinen Besuch umband und doch wusste, dass es keine Stunde lang sauber bleiben würde.

Annelie wuchs heran, schaffte die Schule mit viel Augenzudrücken und wählte einen ehrbaren Beruf. Auch ein angesehener Mann gesellte sich zu ihr, und bald stellte sich ein Kind ein: Tilda.

Annelie wollte eine gute Mutter sein und nahm das Kind von morgens bis abends mit hinaus. Es sollte sich frei fühlen inmitten der Natur und Zwiesprache halten mit all den Geschöpfen und Gewächsen der Erde.

Doch Tilda klammerte sich an die Mutter, verbarg ihr Gesicht an der Schulter und wurde erst ruhig, wenn sie wieder zu Hause waren.

Annelie wollte nicht glauben, was sie sah: Tilda spielte mit Bausteinen am Boden, drückte jedes Püppchen an sich und betrachtete ausdauernd bunte Bilderbücher. Wenn sie ins Gras gesetzt wurde, weinte sie, und vor Tieren hatte sie Angst.

»Ist das wirklich meine Tochter?«, fragte Annelie zweifelnd vor sich hin.

Und es blieb so; Tilda wurde ein Stubenkind.

Die Großmutter freute sich darüber, denn sie hatte die kleinen Möbel und den Kaufmannsladen aufbewahrt und spielte nun stundenlang mit der Enkelin Puppen anziehen und einkaufen gehen.

Auch Tilda wurde groß und ging ihrer Wege.

Als sie eines Tages ein Kind erwartete, konnte Annelie ihre Ungeduld kaum zügeln. Sie freute sich unbändig darauf, mit ihrer Enkelin all die Abenteuer in der Natur durchzustehen, die sie mit ihrer Tochter nicht leben durfte. Es muss doch eine Gerechtigkeit geben in der Welt, dachte sie.

Anfangs ließ Rosa alles über sich ergehen. Überall griff sie mit ihren Händen zu. Ständig hatte sie ein Ding in der Hand, drehte es, klopfte damit, probierte es im Mund. Bald schon steckte sie es mit anderen zusammen, baute Türme und Mauern. Jede Kiste, jede Schublade füllte sie mit Alltagszeug – so als wolle sie messen, wie viel hineinpasst. Gerne probierte sie auch mit ihrem ganzen Körper aus, wie groß Höhlen und Nischen waren. Tilda musste sie oft befreien, weil sie sich zu weit hineinzwängte.

Wenn die Großmutter sie hinaus ins Freie lockte, versteckte sie sich unter Büschen oder kletterte von Ast zu Ast, als müsse sie deren Spannbreite erfassen.

Am liebsten werkelte sie mit Kabeln und steckte Rohre zusammen. Schon bald wünschte sie sich Technikspielzeug und experimentierte.

»Unsere Ingenieurin«, nannte sie ihr Vater stolz.

Sie wurde ein Papakind wie es im Buche steht. Tilda räumte die Puppen in Kisten und seufzte.

»Alles im Leben wiederholt sich«, sagte sie vor sich hin, um sich zu trösten.

Dann erwartete auch Rosa ein Kind. Doch Luna war von Anfang an ein stilles Baby. Sie schaute nur und schaute. Man meinte, sie wolle sich die Welt mit den Augen einverleiben.

Spielzeug betrachtete sie kurz, drehte es um und ließ es fallen.

Draußen im Garten konnte sie stundenlang ins Geäst der Bäume blicken und dabei zufrieden einschlafen. Wenn man ruhig mit ihr sprach, entlockte man ihr ein Lächeln. Manchmal formte sie die Lippen und versuchte zu antworten. Das klang wie Engelsgeflüster.

»Was bist du nur für ein Wesen?«, fragten Tilda und Rosa wie aus einem Mund.

Aber Luna antwortete nicht. Sie sprach überhaupt erst in einem Alter, als die anderen Kinder den Eltern schon ein Ohr abgeschwatzt hatten.

Und so gesammelt, so in sich ruhend, blieb Luna ihr Leben lang. Sie war zufrieden mit sich selbst, zufrieden mit ihrem beschaulichen Leben, ein Ruhepol in allem Weltentreiben. Auch Männer interessierten Luna nicht, und Kinder betrachtete sie befremdlich.

So können wir leider nicht sagen, wie die Tochter der nächsten Generation geworden wäre. Vielleicht ein Bücherwurm oder eine zarte Prinzessin oder eine wortstarke Revolutionärin oder eine kinderreiche Übermutter. Wer weiß? Wer weiß?


Wo die Elfen leben


Es ist noch gar nicht lange her, da lebte das Elfenvolk mitten unter uns. Sie hatten einen König namens Lupinius. Er war ein Elf wie im Bilderbuch: sanft, edel, immer verträumt und verspielt.

Doch auch ein Elfenreich hat Feinde. Als sein Vater noch lebte, wagte sich kein Fremder über die Grenzen, denn er kreuzte mit seinem Schwert so gekonnt die Winde, dass diese den Eindringlingen ins Fleisch schnitten.

Aber Lupinius wollte kein Schwert führen. Der Wächter des Reiches war Johann. Er hatte seinen Namen von den Johannissträuchern bekommen, unter denen er geboren wurde. Das war bei den Elfen so Brauch. Die bittersüßen Früchte hatten ihm auch ihre Farbe verliehen. Schon wenn er vor Zorn rot anschwoll, fürchteten sich alle. Wenn er aber zu Blau wechselte, nahm jeder Reißaus. Im tiefdunklen Blau ergoss sich Unheil über alle in seiner Nähe.

König Lupinius wiederum schätzte gerade diese Fähigkeit, denn wenn Johann Nachtwache hielt, wagte sich kein Feind in die Nähe des Schlosses.

Linde wurde unter einer Kastanie geboren. Zur Feier des Tages streckte der Baum weiße Kerzen in den Frühlingshimmel. Ein Lindenbaum stand daneben. Er gab ihr seinen Namen und rauschte sie in den Schlaf. Elfine, die Mutter, hätte lieber einen Jungen zur Welt gebracht und ihn Kastanius genannt – daher suchte sie diesen Geburtsort auf. Sie fürchtete sich vor Johann, dem Vater des Kindes. Er lehnte alles Weibliche ab. Selbst seiner Frau, die er doch gewählt hatte, ging er meist aus dem Weg.

Verwirrt lief Elfine nach Hause und überließ ihr Mädchen den Kräften der Natur.

Linde wuchs heran – gestärkt vom betörenden Duft ihrer Patentante, umsorgt von heilendem Lindenblütensaft. Sie rannte den Hummeln hinterher und spielte mit den Bienen und Schmetterlingen. Die fliegenden Tiere wurden ihre besten Freunde, und wenn sie mit ihnen herumtanzte, wippten die Zweige der Bäume den Takt dazu.

Nach Hause in die Elfenburg wagte sie sich nur am Abend, wenn Johann, ihr Vater, schon zur Nachtwache im Königsschloss unterwegs war.

Leider hatten auch die sanften Elfenmädchen, die am Tag bei König Lupinius weilten, vor ihm Angst und flohen aus dem Palastgarten, wenn es zu dämmern begann. Der König konnte noch so bitten – keines wollte dem strengen Wächter begegnen. Johann lehnte alles Zarte ab und verscheuchte die Mädchen gnadenlos aus dem Schloss. Daher hatte Lupinius noch keine Frau an seiner Seite. Er war darüber traurig und wusste sich nicht zu helfen. Nachts quälte ihn die Einsamkeit, während ihn zwischen seinen blonden Locken schon die ersten grauen Haare warnten.

Auch das Elfenvolk sorgte sich um seinen König. Die Ältesten raunten oft miteinander und gaben dem König allerlei eindeutig zweideutige Ratschläge.

Doch dieser schüttelte nur den Kopf. Er hatte das fröhlich leuchtende Wesen der Lupinen geerbt, unter denen er das Licht der Welt erblickte. Stets lächelte er, kicherte über Albernheiten und spielte mit den Elfenmädchen Fangen.

Als Linde alt genug war, um auch in den Garten des Königs eingeladen zu werden, bat sie ihre fliegenden Tiere, doch mitzukommen. Zuerst wollte sie Lupinius damit nur eine Freude machen und das gemeinsame Spiel erfüllen. Doch dann läutete die Turmuhr zu Abend. Alle liefen davon und riefen angstvoll: »Johann kommt, rettet euch!«

Nur Linde blieb bei Lupinius stehen und nahm seine Hand. Sie winkte ihren Freunden flehentlich zu, und die verstanden.

Bunte Schmetterlinge setzten sich auf ihre Schultern und kitzelten die beiden mit ihren Flügeln am Hals, um das Lächeln in ihren Gesichtern wieder zu wecken.

Die Hummeln umflogen ihre Köpfe und formten Ringe in der Luft.

Die Bienen aber schwärmten Johann entgegen und drängten ihn zurück – Schritt für Schritt musste er weichen. Der Zorn blieb ihm im Hals stecken, während die Angst ihm grauweiß ins Gesicht kroch.

Linde und Lupinius schauten gebannt zu.

In der Luft hing eine furchtgeladene Spannung – zum Schneiden dicht. Würden die Bienen den Kampf gewinnen?

Auch die Lupinen und Linden ringsherum spürten die Gefahr und entsandten alle Insekten, die gerade an ihren Blüten saugten.

Das war ein Summen und Surren in der Luft, ein Raunen und Zischeln! Der zornig blassblaue Wächter stolperte rückwärts zum Tor hinaus und versteckte sich in den Büschen.

Erst als die Nachtkühle ihre zarten Flügel zu lähmen begann, ließen die Insekten von ihm ab. Eilig flatterten sie nach Hause, aber nur, um am nächsten Abend wieder in großen Trauben überall im Garten zu hängen und auf Johann zu warten.

 

Der begnügte sich fortan mit der Außenwache und wagte sich nicht mehr hinter die Mauern. Linde und Lupinius nahmen das Schloss in Besitz und erfüllten es mit perlendem Lachen bei Tag und bei Nacht.

»Bleib für immer bei mir!«, flüsterte ihr der König schon am ersten Abend zu und brachte damit ihre hellgrünen Augen zum Leuchten.

Sie feierten ein prächtiges Hochzeitsfest, wie es nur ein Elfenvolk zu feiern versteht.

Und ihre Liebe war gesegnet, denn sie bekamen viele Elfenmädchen. Sie hießen Hortensie und Rosana, Glöckchen und Sonja, Jasmin und Nelke. Alle waren so unbeschwert fröhlich und leuchtend wie die Blumen, unter denen sie zur Welt kamen.

Und Johann? Der mied anfangs die zarten weiblichen Wesen, wie er es immer gehalten hatte, oder scheuchte sie zornig davon. Doch je älter er wurde, desto sehnsuchtsvoller wurde sein Herz. So gerne hätte er seine Enkelinnen einmal geherzt und mit ihnen gespielt.

Eines Abends nahm er all seinen Mut zusammen und lockte die Elfenmädchen mit köstlich süßem Johannisbeeren-Saft unters Tor. Und wie sie ihn so arglos tranken, freute er sich an ihren blauen Beerenmündern.

Von da an begrüßten sie ihn jeden Abend draußen vor der Mauer und er verwöhnte sie mit stärkenden Beerensäften.

So wuchsen die Königskinder unbeschwert heran und lernten doch, dem rauen Leben kraftvoll zu trotzen.


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