Buch lesen: «Von Hand zu Hand»

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Die kanadische Originalausgabe erschien 1973 unter dem Titel Passing Ceremony bei House of Anansi Press in Toronto.

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien. Wir danken dem Canada Council for the Arts für die Unterstützung der Übersetzung.


E-Book-Ausgabe 2020

© 1973 Helen Weinzweig, 2017 Daniel and Paul Weinzweig

© 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

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Covergestaltung: Julie August

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142863

Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803133281

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Für Paul und Daniel

»Es ist doch ein seltsames Ding, ein solcher Hochzeitsgottesdienst!«, sagte Miles in fast vertraulichem Ton und lehnte sich zurück. »Ich habe die Worte gelesen. Und ich kann es kaum glauben, dass ich sie in Bezug auf mich selbst habe aussprechen hören. Ich meine, diesen Teil der Angelegenheit hatte ich ganz vergessen. Es ist nur eine vorüberziehende Zeremonie.«

Ivy Compton-Burnett,

A Father and His Fate

Die Kapelle ist feucht, und es fröstelt mich. Es riecht nach grünem Schimmel, trotz der Blumen, trotz ihres Parfüms. Sie lehnt sich an mich, genau wie du, als wir so beieinander standen, vor vielen Toden. Sieh nur, was du verpasst hast, Maggie, indem du dich umgebracht hast: Jetzt nimmt dein Bruder doch noch eine Frau zu seiner rechtmäßigen Gattin: Eine Trauung ist immer noch möglich: Du hast nicht abgewartet, um herauszufinden, was möglich ist. Wenn du mich jetzt hören könntest: Mit diesem Ring vermähle ich mich dir und werde dich nicht enttäuschen in Krankheit und Gesundheit, so wie all die anderen es getan haben. Von euch allen fallen gelassen und zugleich von euch allen verfolgt, jede Nacht ein Albtraum entschwundener Gesichter, nehme ich sie, nehme ich dich, ein kleines Leben, dich zu haben und zu halten entgegen meiner verbotenen Begierde. Der Pastor sagt, ich darf deine trockenen Lippen küssen …

Ja, ja, ich nehme dich, ja, lauter, ich nehme dich, ich nehme dich, denn du bist bereit, dich halten zu lassen von diesem Reif, hast zugestimmt, dass wir uns mit goldenen Ringen aneinander binden … Ein Ritus, den schon die Götter der Antike billigten, vorausgesetzt, wir schauen uns nicht um … Ich spüre sie, meine Höllenkomplizen, wie sie mir ihre satanischen Gedanken in den Rücken schleudern, hinter mir, wo die Nachzügler sitzen, die sich in letzter Minute umentschieden haben, und wo die Dünste der Gehässigkeit zum Gewölbe aufsteigen; nicht einmal das Kreuz kann die Teufel noch schrecken … Ich muss mich an dich lehnen, deine Schulter an meiner spüren, denn getrennt von dir wird ihr Feuer mich verzehren … Warum wollen sie nicht glauben, dass ich dir treu sein werde …

–Was für ein edles Paar.

– Edel ist, wer edel handelt.

– Man kann nie wissen, vielleicht handeln sie ja edel. Anders womöglich, aber es kann –

– Natürlich. Aber wozu dieses Brimborium? Sie sollten die Kirche aus dem Spiel lassen.

– Läuterung. Die universelle Art der Liebe, auf heilige, nicht auf die schweißtreibende Weise.

– Reine Liebe bedarf keiner kirchlichen Trauung. Geistigen Verkehr können sie jederzeit, an jedem Ort haben. Sie könnten einander lange Briefe schreiben.

– Was das angeht – niemand braucht eine Lizenz zum Lieben.

– Liebe ist nicht genug.

– Nichts ist genug.

– Man kann nicht alles haben.

– Dann haben sie das Richtige getan.

– Was?

– Etwas.

In die Züge des Pastors mischt sich immer wieder Leons Gesicht mit der großen Nase. Der Bräutigam konzentriert sich auf den Mund des Pastors, der wiederum ganz anders ist als Leons; jener hat schmale, Leon dagegen volle Lippen. Indem er den Mund beobachtet, kann er der Eheschließung folgen. Sein Kopf ist voller Geräusche, sodass er die Worte nicht deutlich hört. In der Brusttasche des Bräutigams steckt eine Postkarte, die den Strand von Málaga zeigt. Der Gruß auf der Vorderseite lautet: Denke an Dich und versuche zu verstehen. In Liebe, Leon. Auf dem kolorierten Foto nicht zu sehen ist der Strandabschnitt, wo Leon im Sand liegt und die olivfarbene Haut eines schlanken Jungen streichelt.

Die Braut ist ähnlich aufmerksam. Sie kennt die Litanei in- und auswendig und kann jedes Wort voraussagen. Dennoch ist sie nervös: Im hinteren Teil der Kapelle ist ein Rascheln zu hören: Nachzügler versuchen leise Platz zu nehmen. Sie spürt eine gewisse Unruhe. Ist es die Anwesenheit ihres Vaters, wurde er erkannt? Hat er seine mexikanische Frau mitgebracht? Im Rücken eine Unruhe, wie von Mäusen in der Nacht. Ja, ja, ich will, sagt sie, als es an ihr ist, zu antworten.

…Alle meine Kleinen sind fort, dort steht das letzte meiner Babys in jungfräulichem Weiß und macht Versprechungen, die sie nie halten wird, genau wie ihr Vater … Ich verstehe nicht, wozu die langen Monate mit dickem Bauch gut waren, die finsteren Schmerzen, nun, da sie fort sind, da alle fort sind … Es ist nicht fair, es ist nicht fair …

Da sitzt du nun, Vater der Braut, sitzt aufrecht da und In der Mitte einer mittleren Reihe rechts vom stolz. Gang. Wie kommt es, dass du dich nicht an deinem rechtmäßigen Platz befindest, in der zweiten Kirchenbank zur Linken, neben der Mutter der Braut? Es ist dein Sohn Thomas, der dort statt deiner sitzt.

Du wirst begutachtet: Mehr Augen sind auf dich gerichtet als auf deine Tochter, die ihr Gelübde wiederholt.

Spekulationen. Mit deiner Anwesenheit gehst du ein furchtbares Risiko ein. Und wenn du schon deine kleine dunkelhäutige Frau mitbringen musstest, das arme Kind, so jung, weshalb hast du sie dann nicht angemessen eingekleidet?

Als einfühlsame Beobachter sollten wir deine zutiefst bewegenden Gefühle, zumindest deine sentimentalen Betrachtungen zur Kenntnis nehmen. Du bist verstockt. Wir können dich nicht lesen. Gib uns Anhaltspunkte: ein paar Erinnerungen, etwas, was du bereust. Ersatzweise stichhaltige Theorien über die Ehe, wie sie sich in deinen umfassenden Studien finden lassen: Verweise auf Stammesbräuche wären akzeptabel. Doch nichts von literarischem Interesse lässt sich entnehmen. Keine Philosophien? Wir haben dich als einen Philosophen in Erinnerung, der dazu neigt, banale Vorkommnisse in eine historische, meist altgriechische Perspektive zu rücken. Gewiss ist dies der passende Moment … ah … ein flüchtiger Gedanke: Der Bräutigam wirkt auf dich wie ein Mann ohne Knochen, von der Sorte, deren Fleisch so nachgiebig ist wie das einer Frau; und die Vorstellung, dass dieses doppelt Nachgiebige kopuliert, ist dir widerwärtig. Zu hart ausgedrückt? Dann ist es eben nur anstößig. Das wird vorerst reichen müssen. Vielleicht kommen wir später, beim Empfang, nach ein paar Drinks, auf dich zurück.

In jedem Fall haftet dem Vater der Braut etwas Rastloses an. Während sein Kopf und seine Schultern, leicht vornübergeneigt, ungeteilte Aufmerksamkeit vermuten lassen, krümmt er sich weiter unten, wo niemand es sehen kann, auf seinem Sitz. Seine Knie sind zusammengepresst, die Füße zur Seite gestellt, als wolle er einer Pfütze ausweichen. Natürlich. Der Vater der Braut verspürt Symptome einer vergrößerten Prostata.

Die ganze Zeit hat er versucht, sich daran zu erinnern, ob er in den unterirdischen Gängen vor der Kapelle irgendwo das Schild einer Herrentoilette erblickt hat. All die massiven Eichentüren mit schwerem schmiedeeisernem Zierrat sahen gleich aus. Kein Hinweis auf die Beschaffenheit der Zuflucht, die sie bieten. Seine Konzentration gilt dem Bemühen, den Harndrang zu kontrollieren.

Frederick Gainsborough Smith.

Fred.

Während der langen Fahrt auf dem Freeway 401 hast du an deinen Geburtstag gedacht, deinen fünfzigsten. Die Hälfte eines Centenniums, ein halbes Hundert, fünfzig, eine Fünf mit einer Null. Du hast versucht, die Obsession mit deinem Alter abzuschütteln, weil man bezüglich Geburt oder Tod ohnehin keine Wahl hat – um ehrlich zu sein, hat man überhaupt recht wenig Wahl. Ehrlichkeit ist keine Hilfe: Die Zahl 50 nimmt allen Raum in deinem Kopf ein. Du kannst an nichts anderes denken. Dennoch, wie du so mit hundertdreißig Sachen dahingebraust bist, hast du dich damit getröstet, dass du nach wie vor geistig rege und motorisch geschickt bist, das rasende mechanische Monster ganz in der Gewalt hast. Dir war kalt, aber auf der gesamten Strecke hattest du das Fenster heruntergekurbelt. Deine Hände am Steuer waren blau, dein rechter Fuß auf dem Gaspedal taub. Sogar als du der weißen Fahrbahnmarkierung folgtest, warst du überwältigt von Furcht, wie auf jenen langen Nachtflügen im Krieg. Wie damals verspürtest du den Drang, weiterzujagen, am Ziel vorbei, auf ein Nirgendwo zuzuhalten und nie wieder zurückzukehren. Trotzdem hast du deinen Kurs fortgesetzt, heute wie eh und je, hast getan, was von dir erwartet wurde: hast alle Entscheidungen vernünftig getroffen, bist den Wegweisern gefolgt, richtig abgebogen und dort gelandet, wo du solltest. Und jetzt bist du hier.

Die kleine Kapelle ist kalt wie ein Grab. Du blickst auf deine Armbanduhr und merkst, dass du gut durchgekommen bist: Du bist eine halbe Stunde zu früh dran. Du bist allein, bis auf eine Floristin, die noch an den Blumen nestelt. Die hölzerne Kirchenbank widersetzt sich deinen Bemühungen, dich zu entspannen. Mit dem Mantel als Kissen streckst du dich auf der Bank aus, schließt die Augen und wünschst, du wärst zu Hause in deinem eigenen Bett. Nächste Woche, du Glückspilz, erhältst du eine Muschi als Geschenk, denn es ist dein Geburtstag. Einmal im Jahr gibt’s eine Gratisnummer. Marylou wird dir einen starken Martini reichen und erwarten, dass du voranmachst, Junge, in Anbetracht deines fortgeschrittenen Alters bist du noch ziemlich viril. Marylou wird sich von dir ausziehen lassen. Sie wird keinen Widerstand leisten. Aber den Narren der Leidenschaft zu spielen, so wie du, wird sie sich vielleicht gerade deswegen weigern. Kein Wort, kein Laut von ihr, während du, verzweifelter Idiot, Schreie ausstoßen wirst wie ein Irrer.

Wie kalt es ist. Du holst deinen Mantel unter deinem Kopf hervor und deckst dich damit zu. Jetzt bist du ganz allein. Ohne Stütze fühlt sich dein Kopf immer leichter an, dir wird schwindlig. Du setzt dich auf. Du fühlst dich nicht wohl: Vielleicht könntest du gleich nach der Zeremonie heimfahren, den Empfang vergessen, zurückkehren in dein Zuhause, wo, wenn auch sonst nichts, die Sicherheit der Gleichgültigkeit herrscht. Wieder schließt du die Augen, lässt dich, so gut es geht, gegen die starre hölzerne Rückenlehne sinken, nur um gleich wieder aufstehen zu müssen, um andere in deine Kirchenbank zu lassen.

Später, zusammen mit all den anderen, drehst du dich um, verrenkst den Hals, um nach hinten zu schauen und dem Voranschreiten der Braut von der Rückseite der Kapelle zum Traualtar zu folgen. Als sie an dir vorübergeht, blickst du auf in der Hoffnung, das Gesicht zu erspähen, das dir einst so viel bedeutete, aber du siehst nur geisterhafte Gesichtszüge hinter einem Schleier.

Mit den Augen folgst du der weißen Gestalt, wie sie, mit den stockenden Schritten der Braut, den Gang entlangschreitet. Im Geist ziehst du ihr das Hochzeitskleid aus. Du kannst die Körperteile nicht benennen. Anhand erinnerter Details versuchst du, vergangene Freuden heraufzubeschwören: wo ihr euch begegnet seid, was gesagt wurde, ihr Parfüm, war es Nacht oder Tag, war es hier oder in Montreal? Du stellst dir die Braut vor, wie sie unter dir lag, und du blickst in ihre braunen Augen, die plötzlich die Farbe verändern und hellblau werden mit schwarzen Wimpern. Wessen Augen? Ihre? War es der Sommer, als dein Vater starb, oder der Sommer, bevor Ted auf die Welt kam? Jedenfalls war es Sommer. Jetzt erinnerst du dich an die Hitze, an eure Körper, nass vor Liebe und Schweiß, wie sie sich aneinander reiben, die ganze Nacht, jede Nacht. Außer an Wochenenden, wenn du zum Cottage fuhrst. Aber welcher Sommer war der mit ihr? Und wem gehörten die blauen Augen? Die Erinnerung ist verblasst. Du bist allein mit deiner Phantasie und wartest.

Die Zeremonie ist vorbei. Du schaust dich um, findest dich inmitten lächelnder Fremder wieder. Eine Welle der Erregung überwältigt dich. Du beschließt, dass du in den besten Jahren stehst, dass dein Haar noch dicht ist, dein Bauch flach und deine Arme stark. Ich werde auf den Empfang gehen. Vielleicht bleibe ich sogar über Nacht in der Stadt. Aber nicht allein, bei Gott, nicht allein. Wenn ich Marylou schon anlügen muss, darf es nicht umsonst gewesen sein. Und solltest du eine andere Frau verdächtigen, Marylou, dann kannst du all deinen anderen Tugenden auch noch das Märtyertum hinzufügen. Ist dies nicht das einzige Juwel, das in deiner Krone noch fehlt?

In der Nacht vor seiner Hochzeit träumte er, er befinde sich in einem hell erleuchteten gefliesten Tunnel. Er wusste, dass es der Tunnel unter dem Hudson River war, wenngleich ohne Verkehr. Auf einer erhöhten Plattform hinter einem Geländer, ein paar Meter weiter unten rechts, stand ein Polizist. Er schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Von seinem Standort, auf halbem Wege zwischen den Ausgängen, konnte er beide Tunnelenden sehen, die pechschwarz waren. Die Bedeutung des Traums liegt auf der Hand, und er beschließt, seinem Psychiater nichts davon zu erzählen.

Jetzt die umgekehrte Richtung. Diesmal hat die Braut ihren Arm durch den Arm ihres (neuen) Ehemanns geschoben. Während sie schnellen Schrittes den Gang entlanggehen, müssen Braut und Bräutigam einen Spießrutenlauf durch verzehrende Blicke absolvieren; sie lächelt den Reihen nach oben gerichteter (gieriger) Gesichter zu ihrer Rechten zu, er grüßt jene zu seiner Linken, so als hätten sie das Terrain im Voraus unter sich aufgeteilt. Die meisten sehen den Bräutigam zum ersten Mal. Die tiefen Falten in seinen Wangen stehen im Widerspruch zu seinen Augen, treuherzig wie die eines Kindes, und verleihen ihm das Aussehen eines plötzlich gealterten Jugendlichen. Braut und Bräutigam tragen glückliche Mienen zur Schau. Von jemandem, der ihnen am Ende des Gangs entgegentritt, werden sie fotografiert. Blitzlichter flammen auf. Eins der Bilder wird die Braut des Wahrheitsgehalts wegen auswählen. Ihre Gesichter, seins und ihres, werden gerahmt und in der Wohnung ihrer Mutter an die Wand gehängt werden; in der Wohnung ihres Vater in Mexiko werden sie von Raquel von der Wand genommen werden und für einen Zeitraum, der derzeit noch unbekannt ist, an der Wand ihres eigenen Schlafzimmers hängen.

Träumt Judith, der Mann, der neben ihr sitzt, sei von einer unkontrollierbaren Kraft an ihre Seite gezogen worden. Als die Kirchenbank sich füllt, drückt er sich an sie. Eigentlich ist sie es, die sich an ihn drückt. Er trägt eine dunkelblaue Uniform mit goldener Tresse auf dem Ärmel des (drückenden) Armes neben ihrem (rechten) Arm. Seine Hand, mit breiten, groben Fingern und sauberen Nägeln, ist gebräunt. Unzählige Male hat er die Welt umrundet (träumt Judith), jedoch bis zu diesem Augenblick nicht erkannt, dass er nur sie gesucht hat. Sie wünscht, sie wüsste mehr über Uniformen. Französisch? Capitain, mon capitain, c’est moi! Vielleicht Russisch. Wenn er mich will, muss er überlaufen. Wie werden wir kommunizieren? Wir werden mit unseren Augen sprechen. Eines ihrer großen dunklen Augen, ihr linkes, schließt sich immer wieder – ein nervöser Tick, hervorgerufen durch Aufregung. Vielleicht ist er ein amerikanischer Arzt, der in der Armee dient, um den Verwundeten zu helfen. Judith beschließt, dass ein Mann nicht nach seiner Uniform beurteilt werden sollte. Aber angenommen, er ist nur Linienpilot …

Unsicher bleiben die Hochzeitsgäste vor einer grauen Steinvilla stehen: Wessen Haus ist das? Sie schauen auf zu einem Miniaturschloss mit runden und spitzen Türmchen und einem roten Ziegeldach. Vor dem Eintreten überprüfen sie ihre Einladungskarten. Doch im Inneren des Hauses sind sie sofort beruhigt: Die architektonische Strenge war nur eine Fassade: Das Interieur hat die Vertrautheit eines guten Hotels. Direkt hinter der Tür befindet sich eine lange, glänzende Bar mit drei Reihen bunter Flaschen. Der Barkeeper wird wie ein alter Freund begrüßt.

Eine Person ist da, die sich aus Liebe umbringen will. Aus Liebe zu mir. Sie sehnt sich danach, versklavt zu werden. Den Gefallen werde ich ihr tun. Ich werde ihr Herr sein. Ich muss genau aufpassen, auf dem Quivive sein, auf die Zeichen achten. Sie wird weder jung noch alt sein. Nur in der Mitte des Lebens ist Selbstmord eine Versuchung, nicht, wenn man mit dem Spiel der Liebe gerade erst beginnt, und auch nicht, wenn es zu spät ist. Sie wird überschwänglich oder schwermütig sein: Mit solchen Frauen gibt es keine Kompromisse. Sie wird zu viel oder gar nicht reden; ihre Augen werden suchen, jedoch leer bleiben; sie wird unentwegt trinken, dabei aber nüchtern bleiben.

Eine Person ist da, die damit drohen wird, dass sie sich die Pulsadern aufschneidet, sämtliche Tabletten schluckt oder sich auf die U-Bahn-Gleise wirft. Mit Küssen werde ich sie davon abbringen. Vielleicht hat sie schon einmal Versprechen erhalten, aber nicht von mir. Diese Versprechen werden anders sein. Wie immer. Wenn sie mir erst einmal vertraut, braucht es viel Geschick, um sie an den Rand der Verzweiflung zu treiben, ohne irgendein Versprechen zu brechen. Von entscheidender Bedeutung ist die Wahl des Zeitpunkts: Ich muss da sein, um sie bei jenem letzten, jenem exquisiten Moment zwischen Leben und Tod aufzuhalten. Ich werde sie retten. Der Gedanke erregt mich. Ich spüre eine Leidenschaft, wie ich sie noch nie erlebt habe. Mit Sex werde ich sie jedes Mal wieder ins Leben zurückbringen. Lebendig, aber in einem Schockzustand, blass, schwach, gleichgültig gegen alles, was ich mit ihr anstelle. Ich werde sie zärtlich hochheben, sie sanft niederlegen und es ihr besorgen. Sie, die nur eine Stunde zuvor an der Tür des Todes stand, wird aufschreien vor ekstatischem Schmerz und sich wünschen, sie könnte ins Vergessen sinken, mit meinem Schwanz in ihr.

Von da an werde ich sie an den Rand des Abgrunds treiben. Wieder und wieder. Geben, vorenthalten. Verkünden, bestreiten. Schmeicheln, drohen. Ignorieren, bestrafen.

Aber was, wenn ich … Was, wenn ich in die Falle gehe … Nichts ist unmöglich … Was, wenn sie darauf aus ist … Und was ist, wenn ich nicht in der Lage bin …

In der Schlange der Gratulanten warten die Gäste darauf, dass sie an der Reihe sind, das Paar anzulächeln. Beim Anblick des wachsbleichen Gesichts der Braut bringen sie ihre vorbereiteten Worte nicht über die Lippen. Es ist davon auszugehen, dass ihr Lächeln ein freudiges ist, schließlich ist es ihre Hochzeitsnacht. Sie ist nicht mehr die Jüngste, obwohl das geschorene Haar ihr ein kindliches, fast unschuldiges Aussehen verleiht. Tatsächlich ist es ein erschreckender Anblick: Unter einem Nimbus aus Orangenblüten blüht das junge alte Gesicht, das zum ersten Mal ohne Schminke, nackt zu betrachten ist, nichts Künstliches, weder um die Augen noch auf den Wangen, der Mund blutleer. Das geisterhafte Gesicht mit dem geheimnisvollen Lächeln löst einen leichten Schock aus, und dem Hochzeitsgast gelingt es kaum, einen Glückwunsch hervorzustammeln und rasch weiterzugehen. Zum Glück verhält der Bräutigam sich so, wie man es von ihm erwartet. Er hat den richtigen Handschlag: streckt seine Hand aus, greift zu, drückt beruhigend und löst sie wieder, all das mit dezenter Unpersönlichkeit.

Fred ist nicht verpflichtet, sich in die Schlange der Gratulanten einzureihen, schlurft aber vorbei, um mit der Brautjungfer zu sprechen. Sie ist nicht da. Nur Braut und Bräutigam. Zu spät, um zu verschwinden. Er muss der Braut etwas sagen. Wie war das noch gleich mit dem Vergeben?

Die Affäre nahm ihren kurzen Lauf in jenem Sommer. (Es war Sommer.) Als Fred das strahlende Lächeln der Braut sieht, fällt ihm auf, dass sie einen sinnlichen Mund hat. Eine plötzliche Erinnerung an starke weiße Zähne, aber nicht an dieses wunderbare Lächeln. Bestimmt hat sie gelächelt. Doch ein lächelndes Gesicht kann er in keinen Rahmen der Vergangenheit einordnen.

Es ist eine Tatsache: Die Braut hat gute Zähne. Den größten Teil ihres Lebens werden ihre Zähne weiß und stark bleiben, sodass sie, ganz gleich, was ihr widerfährt, ihren mädchenhaften Überbiss beibehalten wird.

–Eine Jungfrau, eine Jungfrau, gibt’s in der Menge eine Jungfrau?, ruft der Bürgermeister.

Die Braut ist auf halbem Wege die Treppe hinauf und beugt sich mit emporgehaltenem Bouquet über das Geländer.

– Kommt schon, kommt schon, wenn’s hier eine Jungfrau gibt, lasst sie vortreten und den Brautstrauß fangen, haha!

Die Frauen halten sich zurück, ihre Mienen sind rätselhaft. Die Männer sind erregt: flüstern witzige Bemerkungen. Niemand rührt sich. Die Braut zögert: Was, wenn niemand die Blumen fängt …

Schließlich spricht Edie: »Nun, Mädels, der Begriff ist nur eine Redewendung. Wir wissen, nicht wahr, Mädels, dass Jungfräulichkeit ein Geisteszustand ist.« Sie signalisiert der Braut, dass sie warten soll. Geht in die Küche und kommt mit der Witwe MacDonald zurück. Eine richtige Wahl, darin ist man sich einig: Fleischliche Kenntnis fehlt dem Gesicht der Dame völlig.

»Meine Mutter sah auch so aus«, bemerkt Mrs Endicott. »Als ich heiratete, trug sie mir auf, den zweiunddreißigsten Psalm zu rezitieren, das werde mir helfen, die Nacht zu überstehen, so wie es ihr geholfen habe. ›Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist!‹«

Die Witwe MacDonald ist sich ihrer Position bewusst. Befehle führt sie aus. Sie ist nicht beunruhigt. Sie tritt in die kleine Lichtung, die im Saal entstanden ist, und streckt die Arme aus, um den Strauß in Empfang zu nehmen. Geht schnell zurück in die Küche, wo sie die Blumen sofort in eine Vase mit Wasser stellt.

Und Leon in der Türöffnung rotes Gesicht schneller Atem nicht in Form für drei Treppenfluchten … ich rühre mich nicht er steht nur da und lächelt unbekümmert dieses Lächeln das ich hasse salbungsvoll und überheblich aber ich fühle mich zu dem Lächeln hingezogen fühle mich zu ihm hingezogen wie zur Verheißung eines Priesters … ich schütze mich … was immer er will ich werd’s ihm verweigern aber er lächelt immer noch und das Lächeln reicht bis in seine Augen ich blickte ihm in die großen dunklen Augen falle in sie hinein kann aber den Grund nicht berühren … plötzlich habe ich Angst dass er mich verlassen wird … die Furcht kehrt zurück … komm rein komm rein bestürme ich ihn …

Hier also hältst du dich versteckt sagt er und blickt sich in der schäbigen Dachkammer um nackte Glühbirne schmutzige Matratze auf dem Boden und blickt auf das Hemd und die Hose in denen ich geschlafen habe … habe ich dich gestört … nein nein ich muss eingeschlafen sein hart gearbeitet im Büro alle Hände voll zu tun … er gestattet mir die Lüge denn er weiß … Leon hat gutes Gras mitgebracht das wir auf der Matratze liegend rauchen … leise erzählt er mir von seinen Schülern von dem neuen Haus das er gekauft hat einigen Gemälden sie verbringen großartige Wochenenden … er spricht sachte … wie es für Männer wie uns ist versteht vollkommen hat die gleichen Schocks erlitten … allmählich fühle ich mich besser glücklich dämmere fast weg … ich weiß er küsst mich …

Viel später, aber gerade noch rechtzeitig, um sie in ihrem Hochzeitskleid zu sehen, findet Roland die Braut. Er küsst sie auf die blasse Wange, dann tritt er zurück, um sie zu bewundern.

– Du siehst zauberhaft aus, absolut hinreißend, sagt er ihr.

In Wahrheit ist er schockiert über ihr Aussehen: das geschorene Haar, die aufgedunsene Haut, ein kleines Päckchen Papiertaschentücher in derselben Hand, die die Atlasschleppe vom Boden hebt. Die Leidensmiene. Er schenkt ihr ein (falsches) Lächeln. Lehnt sich vor, um sie auf die andere Wange zu küssen, damit er seine Überraschung verbergen kann. Mit einer Aufrichtigkeit, die er sich leisten kann, weil er sie nie wiedersehen wird, sagt Roland, er hoffe, dass sie sehr glücklich sein werde. Und schaut ihr tief in die Augen, zögert seine letzte Bemerkung hinaus, was ihn unwillkürlich an die Art und Weise erinnert, wie er beim Sex immer den Höhepunkt hinauszögerte. Sie wartet.

– Auf Wiedersehen, Liebling, seufzt er.

– Bin so froh, dass du kommen konntest, sagt sie.

– Das war das Mindeste, was ich tun konnte.

– Natürlich. Mehr als das Mindeste hast du nie getan.

Soll sie nur ihre kleine Rache nehmen. Von nun an wird ihr Ehemann, der kleine Raumgestalter, mit ihren nächtelangen Hysterien zurechtkommen müssen. Roland ist frei. Und doch schuldet er ihr etwas.

– Ich war immer ehrlich zu dir.

– Stimmt. Du hast nie vorgegeben, mich zu lieben.

Sie lächelt ihn an. Wieder das Gefühl des Schocks. Er hat dieses Lächeln schon einmal gesehen: ein Schlachtfeldlächeln des Überlebens. In seinem Bett. Als sie die Laken durchnässte. Mit ihrem Blut. Und dabei lächelte. Das warf mich aus der Bahn. Ich glaubte, dass sie mich auslachte, weil sie in der Nacht nach der letzten Nacht schon wieder in meinem Bett lag. Sie wurde immer wieder ohnmächtig und lächelte dieses schaurige Lächeln. Kein Arzt. Entschlossen, in seinem Bett zu sterben.

Mitleid. Verspätet. Roland kennt Mitleid. Zum ersten und einzigen Mal zieht er sie aus freien Stücken an sich. Und küsst sie auf den Scheitel. Sie schmiegt sich an seine Brust. Jetzt können sie Abschied nehmen, anständig, wie Fremde.

Am anderen Ende des Hauses, vor der Glaswand mit Blick auf den Garten, ist auf einer langen Tafel mit weißem Damasttuch, dessen Ecken mit roten J’s versehen sind, das Hochzeitsmahl angerichtet. Mit Ausnahme der Tomaten sind sämtliche Speisen dunkel: Schwarzbrot, roher Spinat und Brokkoli, brauner Reis, schwarze Bohnen. »Nicht sehr appetitlich«, meint jemand. Voller Stolz weist Edie auf vier große Silberplatten, auf denen je ein ganzer kalter Lachs ruht. Die bewunderungswürdigen Exemplare wirken lebensecht, silberne Schuppen auf rosa Fleisch, aus einer zähen Flüssigkeit starrt ein nacktes Auge.

Beim Anblick der Fische wendet die Braut sich ab. Ich hatte ihr eindeutig zu verstehen gegeben: kein Fleisch von irgendeinem Lebewesen.

Hinter dem Büfetttisch steht ein junger dunkelhaariger Mann in einem weißen Jackett mit einem roten J auf der rechten Tasche. Er beugt sich ein wenig vor. Wenn er lächelt, zeigt er zwei goldene Zähne. Er schwingt zwei große silberne Löffel. Wenn ihm ein Teller hingehalten wird, trennt er geschickt mit beiden Löffeln das rosa Fleisch vom Rückgrat des Lachses. Auf diese Weise serviert er die Fische, bis das gesamte entblößte Fleisch von den vier Platten verschwunden ist. Nur die Köpfe und die Schwänze bleiben übrig. Daraufhin verlässt der Kellner seine Position hinter dem Tisch, bewegt sich elegant nach vorn und dreht jeden der halb verzehrten Fische mit denselben großen Löffeln auf die andere Seite. Dann kehrt er auf seinen Posten hinter dem Tisch zurück. Binnen kurzem sind nur noch vier Lachswirbelsäulen von exquisiter Symmetrie übrig. Die dreieckigen Köpfe, die glasigen Augen und die gekerbten Schwänze liegen steif in ihren silbernen Särgen.

Raquel kommt zu spät zum Büfett, um noch etwas von dem Lachs zu ergattern. Es brauchte drei Damen, die Hunger und dessen Stillung mimten, um sie zu überreden, vom Boden aufzustehen und mit ihnen an den Tisch zu gehen.

–Danke, sagt ihr Mann (Vater der Braut), meine Frau wäre beleidigt, wenn man ihr Essen bringen würde. Sie ist es gewohnt zu bedienen: Ich habe sie noch nie essen sehen.

Raquel hält mit beiden Händen ihren Teller hin. Die drei Damen häufen ihn mit Bohnen voll in dem Glauben, dass sie sich dann wie zu Hause fühlt. Raquel stößt ein helles, kehliges Lachen aus. Sie reicht den Teller mit den Bohnen ihrem Mann und lässt sich anmutig auf dem Boden nieder, zu seinen Füßen.

Jetzt bilden die Gäste eine Schlange und warten darauf, dem Paar ihre Reverenz zu erweisen. Es herrscht eine Art sportlicher Geduld, wie beim Anstehen für Hockey-Tickets. Kein Schubsen, kein Drängeln. Hat man das Schalterfenster erst einmal passiert, kann man sich auf das Spiel freuen. Das Paar steht allein für sich. Im Obergeschoss hat ihre Mutter einen Asthmaanfall. Ihr Vater steckt auch irgendwo, aber das darf niemand wissen. Die Brautjungfer ist in der Küche. Der Trauzeuge des Bräutigams ist verschwunden.

Während sie wartet, ist Hilda Erikson das Guthaben auf ihrem geistigen Bankkonto durchgegangen und hat Freveltaten, geringgeschätzte Freundschaften, missbrauchtes Vertrauen und Treulosigkeiten zusammengerechnet. Das Konto führt sie für Notzeiten. Als Hilda an der Reihe ist, dem Paar zu gratulieren, überreicht sie der Braut den Jahresabschluss:

– Wann immer du bereit bist, kannst du Gunnar wiederhaben.

– Das ist lieb von dir, aber ich bin jetzt verheiratet.

– Im Ernst, er nützt mir nichts, du kannst ihn haben.

– Ich brauche Gunnar nicht mehr, ich bin jetzt verheiratet.

– Eine geringfügige Formalität. Du wirst bald wieder im Geschäft sein.

Zum Bräutigam sagt Hilda:

– Ich kenne Ihre Frau, seit sie ein unbeholfenes Kind von fünfzehn Jahren war, mit großen Zähnen und großem Bauch. Ich habe ihr über das ganze Durcheinander hinweggeholfen, die Adoption und all das, und der Dank, den ich dafür …!

– Ah, ich weiß, wer Sie sein müssen.

Die Miene des Bräutigams erhellt sich, als er sie erkennt.

– Sie hat mir erzählt, was Sie alles für sie getan haben. Ihre Absichten waren sehr freundlich, und wir werden Ihnen dafür immer dankbar sein.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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