Buch lesen: «Mein wunderbarer Wedding»
Heiko Werning
Mein wunderbarer Wedding
Geschichten aus dem Prekariat
FUEGO
- Über dieses Buch -
Nach dem Überraschungserfolg mit seinem Debüt »In Bed with Buddha«, einem episodischen Entwicklungsroman, der den Autor aus dem behüteten Elternhaus im heimischen Münster ins Krisengebiet Wedding führte, weil dort zufällig was frei war, jetzt also Geschichten aus dem Problembezirk selbst, wo goldkettchenbehängte in makellosem Weiß gekleidete Jungtürken breitbeinig den Bürgersteig einnehmen und auf gefährlich machen, aber einem dann doch nur helfen, die gesuchte Adresse zu finden, wo ein türkischer Wirt mit deutschem Essen eine Marktlücke entdeckt zu haben glaubt, wo Friedrich der Große in voller Montur herumläuft, ohne daß jemand Anstoß daran nimmt, wo Dönerverkäufer, Kleinkriminelle, Säufer, Finanzbeamte und religiöse Spinner aller Irrglaubensrichtungen sich tummeln und in Wernings Geschichten unsterblich werden.
Werning, von Haus aus Reptilienforscher, hat das gemacht, was er gelernt hat: seine Umgebung und ihre Geschöpfe beobachtet und seine Beobachtungen aufgeschrieben, die geprägt sind von schöner Selbstironie und Lakonie.
»Eigentlich möchte man jede zweite Zeile zitieren, man möchte diese Sätze wegen ihrer Genauigkeit immer mit sich herumtragen und sagen: Die hat jemand geschrieben, der die Dinge von ihrem Inneren heraus erforscht. Ein Wilder unter Wilden, der sich auch gerne mal darüber amüsiert, wie der Blick von außen auf seine Heimat fällt.«
Jule D. Körber/Literaturkritik.de
»Das wahre Leben schreibt keine Geschichten. Das müssen schon die Autoren tun. Wenn sie so gut wie Heiko Werning sind, vermitteln sie den Eindruck, das Leben sei am Erzählen ...«
Alexander Reich/junge welt
»Ein Büchlein, das die Augen für Alltägliches am Rande des Glitzers und der Hektik öffnen kann.«
Tagesspiegel
Inhalt
Über dieses Buch
Offener Brief an Angela Merkel
200 Wochen Hinterhaus, 3. Stock
Restaurant Seestraße 606
Mein Migrationshintergrund
Meine Wohngemeinschaft
Haus Bottrop
Entfesselte Leidenschaft
Tage im Februar
Der Kapuzenmann
Die Wahrheit ist das höchste Gut
Krasse Mooves
Natürlich im Fernsehen
Bei meinem Libanesen
Mich wundert es ja kein bisschen, dass dieser ganze Kapitalismus allmählich zusammenbricht
Wie ich einmal fast zum Steuerflüchtling geworden wäre
Nachbarschaftshilfe
Das Kind spricht nicht
Wir Steuerhinterzieher
Telefon-Spam
Durch den kommenden In-Bezirk
Unerwünschte Mitbewohner
Im Finanzamt Wedding
Beim Orthopäden
Die Anforderungen zur Vergabe von Ausbildungsplätzen scheinen mir manchmal doch etwas hoch angesetzt
Brötchenzange
Der Seoul-Imbiss
Der erste Elternabend
Christenalarm
Busfahrer Superstar
Ostern in der Unterschicht
Wie wir mal ein Zeichen Gottes waren
Rattenhimmelfahrt
Nachbarschaftsgespräche
Wedding am Ende
Auf ein gutes neues Jahr
Über den Autor
Über Fuego
Impressum
Offener Brief an Angela Merkel
Liebe Angela Merkel!
Das Schöne, wenn man im Berliner Wedding lebt, einem jener verrufenen Viertel der Hauptstadt mit vielen realen und noch mehr von Außenwohnenden angenommenen Problemen ist, dass man nur vor die Tür gehen und die Menschen betrachten muss, und schon bekommt man gute Laune.
Hier zwängen sich Frauen in hautenge Tops, die dem Begriff »bauchfrei« eine ganz neue, geradezu physische Dimension geben, denn dem speckigen Bäuchlein bleibt oft gar keine andere Möglichkeit, als den Weg in die Freiheit zu suchen, alternativlos quillt es wie Zwiebelmettwurst an der offenen Seite des Kunstdarms heraus, wenn man oben mal ordentlich draufdrückt. Männer daneben sind mit ausgefransten Ledermatten behangen und gucken durch die vom U-Bahn-Schacht-Abwind lustig hin und her spielenden Zotteln ihrer Cowboyhüte in die Gegend, während andere so wirken, als seien sie ausgebrochene Exponate eines ZZ-Top-Museums. Migrationshintergründische Jugendgangs tragen bizarre Kopfrasuren zur Schau, blenden den Betrachter mit einem Weiß, bei dem sich die gute alte Tante Clementine schamhaft in ihre Waschküche verkrochen hätte, oder stopfen sich in seltsam aufgeplusterte Jacken, die sie von Weitem aussehen lassen, als würde sich das Michelin-Männchen mit seinen Kumpels zum Plausch treffen. Ältere deutsche Herren sind so zurechtgemacht, als wären sie GIs, die gerade aus dem Irak zurückkehren, und ältere türkische Herren laufen in maßgeschneiderten Anzügen zum Jobcenter, als müssten sie danach noch die Übernahme eines DAX-Konzerns unter Dach und Fach bringen. Ein Mann läuft hier sogar seit Jahren wie Friedrich der Große herum, im vollen preußisch-blauen Wichs, aufwändig geschminkt, mit Dauerwellen-Perücke.
Niemand hat diese Menschen gezwungen, so nach draußen zu gehen. Im Gegenteil: Dem nackten Entsetzen zum Trotz, das ihnen im Rest der Stadt entgegenschlagen würde – sie haben Aufwand und Mühe in Kauf genommen, sich so zurechtzumachen. Viele der Frauen mussten erhebliche körperliche Anstrengungen auf sich nehmen, um den glitzernden Synthetik-Stoff über die Beine zu bekommen, Präzisionsarbeit war erforderlich, um die Hosennaht so exakt zwischen die Schamlippen zu drapieren. Die Islamerjungs bringen ohne Zweifel viele Stunden in der Woche damit zu, mehrmals am Tag ihre Klamotten zu wechseln, damit sie immer im strahlenden Weiß leuchten, ganz zu schweigen von all den Goldkettchen, die abends ordentlich abgelegt und morgens in der richtigen Reihenfolge wieder installiert werden müssen, ohne dass sie sich verheddern.
Kurzum: Es ist der freie Wille all dieser Menschen, so herumzulaufen, es steckt oft viel Liebe zum Detail dahinter, ja, sie mögen das, warum auch immer.
Und dazwischen bewegen sich noch all diejenigen, denen alles egal ist. Die halt mit dem vor die Tür gehen, was gerade dran ist, im Unterhemd, in der Jogginghose, in Textilien, für die ich gar kein passendes Vokabular kenne.
Es ist ihnen wurscht, was andere davon halten, und, das ist das Tolle, den anderen ist es auch völlig wurscht, was die so tragen. Mögen die Hintergründe, die die Menschen hier zu dieser entspannten Einstellung gebracht haben, auch fragwürdig sein – ist es im Ergebnis denn nicht eine wunderbare Vision? Gibt uns der Wedding nicht eine kleine Vorstellung davon, wie eine bessere Welt aussehen könnte? Sicherlich, keine schönere – aber eben eine bessere?
Angela Merkel, vermutlich wissen Sie gar nichts von diesem Viertel, das nur ein paar Minuten von ihrem Wohnsitz und Arbeitsplatz entfernt ist. Kommen Sie doch mal vorbei. Sie können getrost Ihre Bodyguards zu Hause lassen, hier erkennt Sie ohnehin niemand. Freien Wohnraum gibt es genug, Sie könnten einfach einziehen, entspannt hier leben und ausgehen, ganz wie Sie mögen. Mit Ihrer berühmten Topffrisur, die so vielen drittklassigen Kabarettisten und Satirikern lange Jahre Inhalts- und Brotlieferant Nr. 1 war, Sie müssten nicht mehr diesen aufdringlichen, schmierigen, promigeilen Haarschnitzer an sich heranlassen, denn hier gibt es an jeder Ecke ein »cut & go« für nur 10 Euro, und wenn Sie wirklich mögen, könnten Sie Ausschnitt bis zum Bauchnabel zeigen, oder gleich am Plötzensee nackt baden, so wie damals, in Ihrer Uckermark. Sie könnten in dem Abendkleid, das Sie bei dieser Oper in Oslo trugen und das wochenlang die Medien der Republik beschäftigte, beim Imbiss zur Mittelpromenade in der Schlange stehen oder sich beim Lidl ins Dekolleté filmen lassen – niemand würde auch nur aufmerken.
Liebe Frau Merkel, ich weiß, das ist nur eine Idee, ein Hirngespinst. Aber kleiden und frisieren Sie sich doch weiterhin bitte so, wie Sie es mögen, und ignorieren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Geraune und Gejohle drum herum. Und wenn Sie dann wirklich mal kurz eine kurze Verschnaufpause brauchen von diesen lächerlichen Debatten, den hochnotpeinlichen Kommentaren, den voyeuristischen Wichtigtuern, kurzum: diesen ganzen Vollspacken der Regenbogenpresse von Spiegel bis Bild, dann schmeißen Sie sich einfach Ihr liebstes Abendkleid über oder Ihren bequemsten Bademantel, ziehen Sie sich hochhackige Lederstiefel bis zum Arsch an oder Ihre Adiletten, und kommen Sie zu uns gefahren, es sind bis zum U-Bahnhof Seestraße nur sechs Stationen mit der U6, das ist diese Linie in der Farbe Ihres Oslo-Kleides, und dann trinken Sie hier einen Kaffee oder essen einen Döner, ganz wie Sie wollen – es interessiert hier keine Sau.
Herzliche Grüße,
Ihr
Heiko Werning
200 Wochen Hinterhaus, 3. Stock
1. Woche
Die Menschen, die heute durch den Innenhof laufen, sehen so derart normal aus, dass mir gleich klar ist: Die sind nicht von hier. Zwei ganz gewöhnliche Männer Mitte 40, wie aus einer ZDF-Familienserie. Keine Ausländer, keine vom Alkohol ausgezehrten Gesichter und Gliedmaßen, keine Haare bis auf die Schultern, keine flächenfüllenden Tattoos auf den Armen, nirgends Metall – so was haben wir hier sonst nicht. Misstrauisch schauen die Nachbarn aus den Fenstern.
Dann betritt das junge Paar die Szene. Ein bisschen flippig gekleidet, so wie junge Paare in der Fernsehwerbung immer aussehen, so, wie sich Werbeagenturen und Werbegucker ein bisschen flippige Adoleszenten halt vorstellen, mit dem am Körper, was H&M für ein bisschen flippige Adoleszenten auf der Stange hat – so was haben wir hier eigentlich auch nicht.
Der Fall ist klar: Westdeutsche ziehen ein.
Und tatsächlich: Nach ein paar Minuten gehen sie wieder durch den Hof zur Straße, um bald darauf mit Kisten und Gerät wieder- und wiederzukehren. Das junge Paar zieht in unser Haus, und die Väter helfen beim Einzug. Was die wohl in den Wedding getrieben hat? Wahrscheinlich diese eigenartige Verwaltungsreform, in deren Folge die ehemaligen Bezirke Wedding, Tiergarten und Mitte zu einem neuen, großen, gemeinsamen Bezirk Mitte zusammengefasst wurden. Seither kann jeder Makler den Provinzdeppen selbst den Leopoldplatz als Berlin-Mitte verkaufen, und die Zugezogenen halten die Zwitscherklause für ein abgefahrenes In-Lokal im Retro-Design.
Wie dem auch sei, die beiden Männer wirken doch manchmal leicht verunsichert, wenn sie auf den bröselnden Putz im Treppenhaus blicken oder auf das Graffiti, auf das kleine Elektroschrottlager neben den Mülltonnen oder die großteils mit Paketband zugeklebten Briefkästen. Einer davon gehört jetzt ihren Kindern. Mit dem Teppichmesser schneiden sie ihn frei. Die Werbezettelausträger werden sich freuen.
Die Väter bleiben das Wochenende über, man hört es bohren und sägen und schleifen aus den Fenstern im dritten Stock.
Die Hausgemeinschaft ist skeptisch. Wie lange die es wohl aushalten hier? Aber wir wissen noch zu wenig, um begründete Schätzungen abgeben zu können. Da bleiben nur die Erfahrungswerte mit den Vorgängern. Akshat, unser Hausmeister, und ich einigen uns auf fünf Monate, danach Umzug nach Prenzlauer Berg.
6. Woche
Das junge Paar schlägt sich tapfer. Es trägt Getränkekisten nach oben, Tannenzäpfle-Pils, Weinflaschen, sogar diese kleinen grünen Fruchtsaftkisten. Es kommt mit Reichelt-Tüten heim. Mal lugen Lauchstangen heraus, mal liegen Salatköpfe obenauf. Sie haben so ein lustiges braunes Biomülleimerchen, mit dem sie zum lustigen großen Biomülleimer gehen, wo sie dann ihre Kaffeefilter und Kartoffelschalen auf die darin liegenden Plastiktüten voll Hausmüll kippen.
Ich werde ganz nostalgisch. Ich war ja auch mal jung. Ich habe auch mal Müll getrennt. Habe auch mal Fruchtsaftkisten getragen. Fast gerührt blicke ich den beiden nach, wie sie im Hauseingang verschwinden.
8. Woche
Als ich nachts aufwache und in die Küche gehe, um etwas zu trinken, sehe ich durch das Fenster, wie sie im Morgengrauen durch den Hof nach draußen entschwinden. Richtung Uni. Zur Acht-Uhr-Vorlesung. Schaudernd lege ich mich wieder schlafen.
14. Woche
Im Treppenhaus hängt ein Zettel. In schöner, großer Mädchenhandschrift steht da: »Liebe Nachbarn! Wir feiern am Samstag unseren Umzug nach Berlin mit einer großen Einweihungsparty. Dazu sind Sie alle herzlich eingeladen, kommen Sie doch einfach vorbei. Und sehen Sie es uns bitte nach, wenn es nachts etwas lauter werden sollte. Ihre Nachbarn aus dem Hinterhaus, dritter Stock, Julian Kessler und Birthe Langmeier«. Fassungslos blickt Akshat mich an. »Von so was hat ein Freund mir mal erzählt«, sage ich, »aber der wohnt im Friedrichshain.«
30. Woche
Sie lassen das Fenster beim Sex jetzt geöffnet. Ich glaube, sie leben sich langsam ein.
42. Woche
Statt der Reichelt-Tüten tragen sie immer häufiger die in Alu-Folie eingeschlagenen, dreieckigen Päckchen, oft auch die quadratischen, flachen Pappschachteln. Allmählich sehen die Löcher in ihren Jeans nicht mehr aus, wie neu so gekauft, sondern wie: »Scheiße, kannste eigentlich nicht mehr anziehen, aber egal, hab grade nichts anderes, nächste Woche muss ich aber wirklich mal wieder einkaufen.«
75. Woche
Aus den offenen Fenstern kommt jetzt seltener lustvolles Stöhnen, dafür öfter lautes Gebrüll. Akshat meint, vielleicht bleiben sie doch länger.
130. Woche
Lange schon keine Fruchtsaftkiste mehr gesehen. Überhaupt selten Kisten. Häufig Aral-Tüten. Akshat meint, sie könnten sich ruhig auch mal neue Klamotten kaufen, bei Zeemann seien die doch ganz preiswert. Am Wochenende furchtbarer Lärm aus ihrer Wohnung. Lautes Wummern und Grölen, ohne jede Vorwarnung. Akshat beschwert sich am Montag darauf über Bierflaschen im Innenhof, außerdem habe jemand von oben in den Flieder gekotzt.
186. Woche
Sie kommen mit großen Tüten von H&M nach Hause. Schon das dritte Mal in dieser Woche. Sie sogar mit einer von Douglas.
188. Woche
Heute morgen verließen sie Hand in Hand das Haus. Er im Anzug, mit Krawatte, sie in einem schicken Kleid. Ich glaube, es geht zu Ende.
198. Woche
Akshat hält mir den Zettel vor die Nase. Verdana, Schriftgröße 16, Fettdruck. »Liebe Nachbarn. Am kommenden Samstag feiern wir unser Diplom und unseren Auszug. Falls es lauter werden sollte, bitten wir um Entschuldigung.« Er schüttelt traurig mit dem Kopf: »Sie haben sich einfach nicht richtig integriert.«
199. Woche
Am Samstag sehe ich zwei ältere Männer durch den Hof gehen, Ende 40, erstaunlich normal aussehend. Die gehören hier nicht hin, das sieht man auf den ersten Blick. Sie wirken erleichtert, als sie auf den bröckelnden Putz und die Graffiti blicken. Bald darauf tragen sie Kisten und Gerät aus dem Hinterhaus zur Straße.
200. Woche
Heute morgen hat Akshat einen weiteren Briefkasten mit Paketband abgeklebt.
Restaurant Seestraße 606
Der Standort Seestraße 606 im Wedding scheint kein ganz leichter zu sein für gastronomische Projekte. Jedenfalls hat das Restaurant bei uns im Haus eine sehr wechselvolle Geschichte, und obschon ich mich immer aufrichtig bemüht habe, so stabilisierend wie möglich auf die Umsätze im Vorderhaus einzuwirken, muss ich doch letztlich mein Scheitern eingestehen.
1. Versuch:
Lange Zeit hat Akshat, unser pakistanischer Hausmeister, allen diplomatischen Ressentiments dem Nachbarland gegenüber zum Trotz, dort ein indisches Restaurant unterhalten und sich in der Nachbarschaft sehr beliebt gemacht. Nicht beliebt genug aber, denn er klagte über mangelnden Umsatz. Nun hat er seinen Laden im LSD-Viertel in Prenzlauer Berg neu aufgemacht. »Hier lohnt sich das wenigstens«, sagt er und sieht zufrieden dabei aus, als wir ihn besuchen, um mal wieder ein ordentliches Tandori Chicken zu essen.
2. Versuch:
Als Nachfolger zog ein Inder ein, der möglicherweise auch ganz gut kochen konnte. Genau haben wir es nie herausgefunden, da der Mann über keinerlei Deutschkenntnisse verfügte und dadurch jede Bestellung zu einem unkalkulierbaren Risiko wurde. Nicht nur, dass man nie wusste, was man eigentlich erhielt, es war auch keineswegs garantiert, dass alle am Tisch überhaupt etwas bekamen, denn zählen konnte er leider auch nicht. Womöglich damit in Zusammenhang stand der nächste problematische Aspekt seines Wirtschaftsunternehmens, nämlich das Kassieren. Da er offenbar weder seine Gerichte noch die Preise kannte und auch keinerlei Beziehung zwischen diesen Dingen herzustellen vermochte, war es jedes Mal eine echte Überraschung, welche Zahl – und es war immer nur eine einzige Zahl – er am Ende auf seinen Notizblock schrieb und auf den Tisch legte. Mal konnte man sich für insgesamt 7 Euro mit drei Personen pumpelsatt essen und reichlich trinken dazu, mal gab es nur drei Gerichte für vier Leute, die dafür aber 25 Euro bezahlen mussten. Reklamationen führten zu einem quälenden Prozess, den ich hier nicht näher schildern möchte, der aber letztlich darin mündete, dass man selbst errechnen musste, was das alles kosten sollte. Und das wiederum war technisch ebenfalls nicht ganz einfach, da man ja gar nicht wusste, was man eigentlich gegessen hatte. Nur beispielhaft sei ein Essen mit meinem Freund Backen erwähnt:
Backen: Ich hatte ein Chicken Curry – äh ... bestellt.
Ich: Und was hast du bekommen?
Backen: Tja. Curry war’s nicht. Eher so etwas in Richtung Madras. Huhn war’s allerdings auch nicht. Vielleicht Lamm?
Ich: OK, hier gibt es Mutton Madras, könnte es das gewesen sein?
Backen: Na ja, vielleicht, obwohl die Zwiebeln, die da stehen, waren nicht dabei.
Ich: Na ja, dann zieh die halt ab.
Der indische Gastwirt schaute dem Spektakel fasziniert zu, manchmal nickte er freundlich zu irgendetwas. Ansonsten schien er sehr gespannt, wie die Dinge sich entwickelten, vielleicht hoffte er auch, durch genaue Beobachtung die Rätsel der Rechnungstellung zu ergründen und wähnte sich schon ganz dicht auf der Spur.
Aber obwohl ich recht optimistisch bin, dass niemand von Akshats ehemaliger Stammkundschaft unseren indischen Lehrling absichtlich über den Tisch gezogen hat, erwiesen sich die Besuche in dem Restaurant einfach als zu mühsam, sodass die Kundschaft nach und nach ausblieb. Gelegentlich versuchte ich es immer mal wieder, aber es wurde nichts besser. Im Gegenteil: Da außer mir offenbar so gut wie niemand mehr dorthin mochte, wurde die Qualität des Essens zunehmend fragwürdiger. Nach einer deutlichen Durchfallattacke im Anschluss an einen Besuch zog auch ich mich schweren Herzens zurück.
3. Versuch:
Rettung schien in Form eines mexikanischen Restaurants zu nahen. Ein Ur-Weddinger Pärchen so um die 60 – Lederwesten mit Nieten, Tätowierungen, reichlich Ohrringe und ein wilder weißgrauer Rockerhaarwuchs – schraubte hoch motiviert Schilder mit der Aufschrift Tequila – mexikanische’s Restaurant und Bar an, tauschte das Mobiliar im Inneren aus, hängte Corona-Leuchtwerbung ins Fenster und klebte die roten Zettel mit der Aufschrift »Neue Bewirtschaftung« an die Tür. Ich war gespannt, ob im Gefolge auch noch jemand auftauchen würde, der näherungsweise mexikanisch wirkte, aber offenbar mussten die Sombreros an der Wand für die Authentizität genügen. Kurz nach der Neueröffnung aßen wir einmal dort – es war ganz okay. Als wir eine Woche später ein zweites Mal dorthin gingen, begrüßte uns freundlich grinsend der Inder. Wir waren leicht irritiert, aber er legte uns die Tequila-Karten vor. Also gut. Wir bestellten Tacos, freudig nickend verschwand er in der Küche und kam 40 Minuten später mit etwas, das man mit viel gutem Willen als Chili con Carne durchgehen lassen konnte, wieder daraus hervor. In der Woche darauf war die Karte wieder gegen die alte indische ausgetauscht und das mexikanische Restaurant-Innere gegen das alte indische Restaurant-Innere. Nur das große Tequila-Schild am Eingang erinnerte noch an die rätselhafte zweiwöchige mexikanische Episode in unserem Haus. Mangels Sprachkenntnis des überlebenden Beteiligten haben wir leider nie die Geschichte dahinter erfahren.
4. Versuch:
Dann blieb das Restaurant plötzlich geschlossen. Niemand im Haus war überrascht. Abgesehen von mir, einen Tag später, als der DSL-Mann wie immer die Pakete für den ganzen Block gesammelt bei mir abgab. Er stand mit einem großen Schiebewagen vor der Tür und fragte, wo er die etwa schrankgroßen Dinger denn hinstellen sollte. Ein Blick auf die Kartons ließ mich staunen: Es waren Gläser darin und Teller und anderer zerbrechlicher Kram. Offenbar eine neue Restaurant-Ausstattung.
Am Abend tauchte ein etwa 50-jähriger, sehr freundlicher Türke bei uns auf.
»Guten Abend! Ist bei Ihnen etwas für mich abgegeben worden?«, fragte er höflich. Anklagend deutete ich auf die acht mannsgroßen Kisten im Eingangsbereich.
»Oh, ist das alles schon da! Wie schön!«
»Was machen Sie denn damit?«
»Ich habe das Restaurant vorne im Haus übernommen.«
»Oh. Na dann, viel Glück. Lief ja nicht mehr so gut die letzte Zeit.«
»Aber bei mir wird alles viel besser. Ich habe schon 15 Jahre Erfahrung in der Gastronomie!«
»Ach ja?« Das interessierte mich ja nun tatsächlich mal.
»Ja, ich habe sogar mal im Grunewald gekellnert!«
Ich war beeindruckt. »Und? Welche Art Restaurant wollen Sie machen?«
»Na ja«, sagte der Türke, »Türkisch gibt es hier in der Gegend ja schon so viel. Und dann habe ich mich mal ein bisschen umgeguckt und gesehen, Indisch gibt es auch, und ganz viel Asiatisch, und Arabisch. Und Pizza! Sogar Afrikanisch! Gibt es alles hier! Und da habe ich gedacht: Da mache ich doch Deutsch, das hat hier keiner, da bin ich der Einzige.«
Ich war noch beeindruckter. »Aha. Und, äh, inwiefern Deutsch?«
»Na, deutsche Küche! Ist doch eine echte Marktlücke! Und außerdem: Deutsch ist am einfachsten. Da kann man einfach drei Saucen vorbereiten, Sauce braun, Sauce mit Pilzen, Sauce braun zwei, kann man gut Montagmorgen machen, hält die ganze Woche, ist ganz einfach. Türkisch ist ja viel aufwändiger, Asiatisch erst recht. Ich mache gute deutsche Küche!«
Ich wünschte ihm alles Gute.