Buch lesen: «Witterung – Lauf so schnell du kannst»
Für meine Tochter
Für diesen Roman habe ich wahre Ereignisse und reale Orte mit fiktionalen Elementen verwoben. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
Heike Ulrich
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eISBN 978-3-8271-8397-2
Heike Ulrich
Witterung
Lauf so schnell du kannst
Die einzige wirkliche Gefahr für den Menschen
ist der Mensch.
PROLOG – Mai 1943
1
Igor fror und zitterte vor Aufregung. Doch mit seinen zehn Jahren gab er sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.
Denn Zofias große, blaue Augen blickten gerade alarmiert zu ihm auf. Irgendwo knackte erneut ein Ast, dann war es wieder ruhig. Ihre Panik war unverkennbar, und ausgerechnet jetzt musste Igor darüber nachdenken, wie es möglich war, dass dieser Umstand ihr hübsches Gesicht derart entstellte, dass es zu einer Angstfratze mutierte. Zofia zitterte heftig, ihre Atmung ging stoßweise. Igor befürchtete, entdeckt zu werden. Es war zu laut für die bedrohliche Stille, die sich wie ein schweres, dunkles Tuch über ihnen ausbreitete.
Hoffentlich sah Zofia ihm seine Angst nicht auch so deutlich an! Er legte den Zeigefinger an seine Lippen. Sie nickte, und er sah, wie sie die Augen schloss und das aufkommende Wimmern unterdrückte.
Fast die ganze Nacht hatte das drei Jahre jüngere Mädchen still vor sich hin geweint und leise nach der Mutter verlangt. Dabei hatte es immer wieder trostsuchend das Gesicht in ein mit Spitze besetztes schwarzes Halstuch gedrückt, das Letzte, was der Kleinen von der Mutter geblieben war. Als sie mit dem Schluchzen gar nicht hatte aufhören wollen, hatte der Junge schüchtern nach ihrer kleinen Hand gegriffen und sie so lange gehalten, bis das Mädchen in den frühen Morgenstunden endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Da hatte auch Igor einen Moment die Augen geschlossen.
Genau wie Zofia wusste er nicht, wohin sie seine Mutter verschleppt hatten, geschweige denn, wo sein Vater war. Es herrschte Krieg – Warschau war von den deutschen Truppen besetzt, der Aufstand im Ghetto gerade niedergeschlagen. Er erinnerte sich genau an den letzten Moment ihrer flüchtigen Umarmung zum Abschied.
„Vergiss nie, wer du bist, mein Junge“, hatte seine Mutter geflüstert. „Du hast Eltern, die dich lieben. Dein Vater wäre stolz auf dich.“
Ein kleines, grünes Büchlein mit Goldbuchstaben hatte sie unauffällig in seine Jackentasche gleiten lassen.
„Da steht alles drin, hörst du? Und so Gott will, sehen wir uns alle bald wieder.“
Dann hatten die Soldaten sie weggezerrt. Die Mutter hatte nicht einen Moment den Blickkontakt zu Igor unterbrochen – ihn so lange angelächelt, bis er sie aus den Augen verloren hatte. Den Impuls, ihr nachzulaufen, hatte er unterdrückt. Was hätte es schließlich auch genützt? Doch dieses Lächeln von ihr, diese letzte Geste seiner Mutter, die ihn hatte aufmuntern sollen, tat weh, wann immer er daran dachte. Und er dachte oft daran.
Die deutschen Soldaten hatten ihn zusammen mit ein paar anderen Kindern zusammengetrieben und nach einer Art Ausmusterungsverfahren in einen dunklen Zugwaggon gesperrt. Was wohl mit den anderen geschehen war? Er wusste es nicht, auch nicht, wie lange sie nach Deutschland unterwegs gewesen und wie weit weg sie nun von seiner Heimatstadt Warschau waren, und genauso wenig wusste er, wie lange er hier nach der Ankunft an diesem Ort, oben auf dem riesigen Dachboden, zugebracht hatte – eingesperrt mit vier anderen Kindern, die alle jünger als er zu sein schienen.
Unten war es nach dem Fest immer stiller geworden. Doch plötzlich, gerade eben, war die Tür des Dachbodens aufgestoßen worden. Ein paar Männer, offensichtlich betrunken, hatten ihnen lachend bedeutet, dass die Nacht um war und nun ein schönes Spiel beginnen würde. Niemand von den anderen Kindern hatte das geglaubt, auch Igor nicht. Und die Gesichter von ihnen allen hatten vermutlich Bände gesprochen – zur kranken Freude dieser Erwachsenen, unter die sich plötzlich auch ein paar betrunkene, polnisch sprechende Frauen gemischt hatten. Unten im Hof hatten Autos gestanden. Man war mit ihnen zu einem Waldstück gefahren. Wieder war gelacht worden, und die Kinder hatten den Heiterkeitsausbruch der Erwachsenen nicht nachvollziehen können. Dann war ein Jagdhorn erklungen, und man hatte ihn und die anderen vier aufgefordert, in den Wald zu laufen, man würde ihnen, den kleinen Polacken, einen Vorsprung gewähren.
Niemals würde er diesen merkwürdig lauernden Gesichtsausdruck von einem der Männer vergessen, der plötzlich sein Maschinengewehr gehoben und dann ein paar Salven abgefeuert hatte. Da waren er und die anderen Kinder erschrocken in alle Richtungen auseinandergestoben. Igor hatte Zofias Hand gegriffen und das Mädchen mit sich fortgerissen. Nun kauerten sie zusammen im Gestrüpp hinter der großen Eiche.
Das Mädchen hatte sich dicht an ihn gekuschelt. Es zitterte immer noch, genau wie er. Ihre langen, blonden, geflochtenen Zöpfe lösten sich bereits auf und waren ganz schmutzig.
Die Morgendämmerung setzte gerade ein, und er wunderte sich über das Muttermal unterhalb ihres linken Auges. Warum war es ihm nicht schon vorher aufgefallen? Doch es war nicht wichtig. Er wandte sich ab und lauschte. Im Moment war alles mucksmäuschenstill. Niemand schien da zu sein, und doch spürte er das heranschleichende Böse.
Da, plötzlich – wieder ein knackender Ast! Dann war es totenstill, doch nur für einen Moment. Igor hörte deutlich das Atmen und die leisen, immer näher kommenden Schritte.
Aus dem gegenüberliegenden Gebüsch sprang plötzlich eine kleine Gestalt hervor – Marek! Er lief mit seinen krummen Beinchen, so schnell er konnte. Sein Gesicht war zu einer angstverzerrten Fratze erstarrt. Sofort folgte eine Bewegung! Igor hatte sie nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Dann sah er das auf Marek angelegte Gewehr, das sich immer näher in Igors Blickfeld schob, samt der Gestalt, die die Waffe hielt.
Paralysiert, unfähig zu irgendwas, hörte er überdeutlich ein metallisches Klicken und den Schuss und noch etwas anderes … ein tiefes lautes Grollen – im selben Moment! Dann sah er den gigantischen Schatten! Der Angriff folgte blitzschnell – ein Sprung, das Gewehr flog durch die Luft, Fleischfetzen wurden herausgebissen, gigantische Kiefer klappten immer wieder auf und zu, während der Mann schrille Schreie ausstieß, die etwas merkwürdig Groteskes – überhaupt nichts Menschliches – hatten und plötzlich in ein ersticktes Röcheln übergingen. Knochen knackten und wurden zermalmt. Nur kurz sah Igor den Sabber, der aus der Riesenschnauze tropfte, dann war der Schatten fort, und weiter weg schien sich ein ähnliches Szenario zu wiederholen, Schreie, Schüsse, unter die sich wieder das wütende Knurren mischte, wieder und wieder, bis der Wald endlich still wurde.
Igor und Zofia trauten sich kaum zu atmen und kauerten weiter im Gebüsch hinter der uralten Eiche. Der Junge sah überdeutlich, wie Zofias Halsschlagader hämmerte, und auch sein Herz wummerte. Er hörte den Widerhall, das rhythmische Rauschen in seinen Ohren.
Plötzlich, nicht weit weg von ihnen, bewegte sich etwas. Igor merkte alarmiert auf. Marek! Tatsächlich, er war es und schien unverletzt zu sein. Er blickte sich vorsichtig um und schlich zu ihnen hinüber. Auch die anderen beiden Kinder krochen zögernd aus ihren Verstecken. Man sah ihnen die Strapazen und den Schrecken des eben Erlebten deutlich an. Es war totenstill – nichts regte sich -, so als würde der Wald die Luft anhalten.
Doch eine Amsel begann plötzlich ihren einsamen Singsang, und nach und nach antworteten ihre Artgenossen. Die Kinder waren wie versteinert – betäubt, paralysiert –, unfähig, einen Gedanken zu fassen, geschweige denn zu verarbeiten, was sie gerade überall um sich herum im Gebüsch und auf dem Waldboden verstreut sahen – die abgebissenen Gliedmaßen ihrer Peiniger. Auf einem größeren Stein, der über und über mit Moos bedeckt war, lag, wie drapiert, ein abgetrennter Arm – das Gewehr immer noch in der verkrümmten Hand.
Igor wandte seinen Blick ab. Was für eine Kreatur konnte so etwas anrichten? Sie musste überirdische Kräfte haben und nicht von dieser Welt sein, wenn selbst Gewehrkugeln ihr nichts anhaben konnten. Er tastete vorsichtig nach dem Tagebüchlein seiner Mutter, als könnte es ihn beschützen. Ein Geräusch ließ die Kinder erschrocken zusammenfahren. Der gigantische Schatten, der sich auf dem hundert Meter entfernten Felsplateau deutlich abzeichnete, sah wie eine Versteinerung aus, die sich langsam im aufsteigenden Dunst des Waldes aufzulösen schien. Zofias Atem stockte – der Kopf dieser Kreatur glich plötzlich dem eines Menschen, nur einen winzigen Moment. Dann hatte der Dunst die Erscheinung, oder was immer es war, endgültig verschluckt. Wie war das möglich? Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber schlüssig zu werden. Hinter ihnen knackten plötzlich Äste, und die Kinder drehten sich alarmiert um.
Zeitsprung – Gegenwart
2
Das Fiepen in seinen Ohren hatte den Pegel des gerade noch Erträglichen erreicht. Man hatte ihm gesagt, dass er Achtsamkeit üben sollte.
Heribert Falk nahm eine gemütlichere Sitzposition auf seiner Bank ein und schloss die Augen. Zu dumm, dass man bei all dem Übel auch noch eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert hatte. Das war für ihn ein Schock gewesen – schließlich war er keine Memme!
Als das Dauerfiepen ihn nicht mehr hatte schlafen lassen, war ihm die Tinnitus-Klinik in Bad Arolsen von seinem HNO-Arzt empfohlen worden. Ein paarmal hatten sie ihn dort in einer Unterdruckkammer behandelt, und tatsächlich war der quälende Dauerton in seinem Kopf derzeit nicht mehr so präsent.
Er müsse begreifen, nicht der Tinnitus sei das Problem, sondern seine Haltung zu dem Problem, hatte ihm seine Therapeutin erklärt. Die konnte gut reden, aber vielleicht war ja was dran.
Heribert öffnete die Augen wieder und warf die Zeitung in den Papierkorb, der neben der Bank stand. Er hatte genug von kranken Arschlöchern!
Einen Moment ließ er seinen Blick über den Schloss-teich gleiten. Eine Schar Enten zog ihre Kreise, während sie gründelten. Wie friedlich es hier war! Die Sonne kam gerade heraus und ließ die kleinen Wellen, die die Enten hinterließen, aufblitzen. Es war April, und überall spross zartes Grün.
Aber auch jetzt spürte er dieses unangenehme innere Vibrieren. Er streckte seine Arme aus – auch die Hände zitterten. Das alles bloß wegen dieses Artikels in der Zeitung, den er gerade gelesen hatte. Und wie so oft stellte er sich auch jetzt die Frage: Wie konnte jemand zu solch einer Tat fähig sein? Es ging einfach nicht in seinen Kopf: Ein Achtjähriger und dessen Mutter waren am Frankfurter Hauptbahnhof von einem Migranten, der selbst Familienvater war, vor einen einfahrenden Zug geschubst worden – einfach so. Die Mutter hatte noch rechtzeitig aus dem Gleisbett entkommen können, während ihr Sohn vom Zug überrollt und tödlich verletzt worden war. Nur eine Woche zuvor hatte ebenfalls jemand, in einer anderen Stadt, eine junge Frau vor einen Zug geschubst. Auch für sie kam jede Hilfe zu spät, sie hinterließ Ehemann und ein Kind. Die Welt wurde immer verrückter – und brutaler. Wie sollte die Mutter des Achtjährigen weiterleben? Sie hatte doch alles mit ansehen müssen und war vermutlich bis zu ihrem Lebensende traumatisiert. Schon jetzt konnte er sich vorstellen, wie man derlei Tötungsdelikte wieder relativieren und psychische Probleme der Täter bemühen würde, während die Opfer kaum eine Stimme bekamen und schnell vergessen waren. Und was war mit den vielen anderen Zeugen, die diese grausamen Taten hatten mit ansehen müssen – vermutlich auch ein Leben lang seelengezeichnet! Seelengezeichnet, ja, genau das traf es. Wo hatte er diesen Begriff gehört? Ah ja, der Pfarrer hatte ihn bei der Beerdigung eines Kollegen benutzt, vor ein paar Jahren.
Seine Gedanken ließen sich nicht stoppen. All die Tötungsdelikte, die er als Fallanalytiker untersucht hatte, gaben sich wieder ihr Stelldichein. Er rief sich zur Ordnung und stoppte die Bilder.
Die operative Fallanalyse war ein spannendes Thema für ihn – GEWESEN. Nach fast zehn Jahren als Ermittler in Tötungs- und Sexualdelikten bei der Kripo in Frankfurt hatte er es kaum glauben können, als man ihn tatsächlich nach zermürbenden Auswahlverfahren für die jahrelange Weiterbildung zum operativen Fallanalytiker zugelassen hatte. Empathie, soziale Kompetenz, die Fähigkeit, fallanalytisch zu denken, und – nicht zu vergessen, Instinkt, Kreativität und Teamfähigkeit – waren unabdingbare Voraussetzungen, die man in diesem Bereich brauchte. Und diese Fähigkeiten waren ihm nach psychologischen Tests attestiert worden. Er war der Jüngste seines Lehrgangs gewesen.
Noch fasziniert von der dunklen menschlichen Seite, die einen Täter in die Lage versetzte, schrecklichste Taten zu begehen, hatte er begonnen, Tatort und Tathergang zu untersuchen, Fakten gesammelt und analysiert. Das Ziel: ein Täterprofil – welche Motivation trieb den Täter zu seinen Handlungen? Aus Schlussfolgerungen folgten Strategien, wie man des Täters habhaft werden konnte.
Heribert grinste schief – alles nur Arbeitshypothesen. Vielleicht waren sie wichtig. Doch nicht selten hatte er sich auf seinen Instinkt, auf seine Erfahrungen verlassen und war damit erfolgreich gewesen. Nichts gegen die Fallanalyse – bloß ohne Instinkt und Vorstellungskraft war sie in seinen Augen nur die Hälfte wert, war lediglich eine weitere Option, ein weiteres Hilfsmittel bei Tatermittlungen.
Wieder spulten sich filmische Endlosschleifen ab: Er sah die Hinterbliebenen der Mordopfer, wie sie zusammenbrachen – bei der Überbringung der schlechten Nachricht oder bei der Identifizierung ihrer Liebsten.
Wie oft hatten ihm da die richtigen Worte gefehlt – aber verdammt, was sollte man auch jemandem sagen, der einen nahestehenden Menschen auf dermaßen grausame Weise verlor? Irgendwann hatte dann eine merkwürdige Dunkelheit seine Seele eingeholt. Er hatte sich wie unter einem grauen Tuch gefühlt, das immer schwerer geworden war und ihn fast erdrückt hatte. Es war lähmend gewesen, während sein Tinnitus immer lauter geworden war.
Das Schlimme war, dass sich in einem harmlosen, freundlichen, ja sogar bemitleidenswerten Menschen eine Monstrosität verbergen konnte. Ein gewinnendes Lächeln sagte noch lange nichts über die Persönlichkeit aus, die sich dahinter verbarg. Er hatte es erlebt – hatte sie erlebt, Psychopathen, Narzissten, die täuschend echt Sozialkompetenzen vorspielten, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Das alles machte die Angelegenheit ja auch so schwierig. Dieser Umstand hatte ihn zunehmend zermürbt und zum Schluss mutlos gemacht. Auch weil das personifizierte Böse manchmal mit unverhältnismäßig milden Strafen davonkam – in Ermangelung von Beweisen oder weil die einzelnen Behörden samt Spurensicherung schlampig zusammenarbeiteten. Auch dass Täter vorzeitig entlassen wurden oder aufgrund psychologischer oder fragwürdiger Gutachten freikamen – quasi auf die Gesellschaft losgelassen wurden –, war in seinen Augen falsch. So etwas war ein Experiment. Ein Experiment, das schiefgehen konnte. War dies der Fall, mussten es Unschuldige büßen. Das alles machte ihn wütend, wenn er daran dachte. Wozu die ganze Mühe überhaupt? Bis heute ertappte er sich dabei, wie er jede Person, die ihm begegnete, auf Charaktermerkmale scannte. Er konnte es nicht lassen.
Kurz – er hatte genug! Und das Beschäftigen mit den Abgründen der menschlichen Seele faszinierte ihn schon lange nicht mehr. Er war inzwischen dünnhäutig und immer weniger belastbar – wie jemand, der ein Lieblingsgericht zu oft genossen und inzwischen beim bloßen Gedanken daran einen Brechreiz bekam.
Plötzlich tauchte ein sportlicher, gut aussehender und sehr höflicher Mann vor seinem geistigen Auge auf – Abraxas Lemm! Dessen zahlreiche Opfer hatte man schrecklich entstellt aufgefunden. Es war sehr schwierig gewesen, ein Täterprofil zu erstellen.
Lemm hatte seine Opfer willkürlich ausgesucht, sie dann aber genau ausspioniert und zu Tode gefoltert. Anschließend hatte er die abgeschnittenen Gliedmaßen neu arrangiert und die Ermordeten grotesk zur Schau gestellt – wie ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk des Grauens! Seine Tatorte waren sauber hinterlassen worden, sodass man zum Schluss vermutet hatte, dass es sich um einen Täter aus den Reihen der Kriminalpolizei handeln könnte.
Letztendlich hatte die Täterbeschreibung einer zufälligen Zeugin, die Lemm kurz an einem der Tatorte gesehen hatte, Heribert und seine Kollegen auf dessen Spur gebracht. Er war schockiert gewesen, über den Mann, der ihm und seiner Kollegin später beim Verhör gegenübergesessen hatte – eine Monstrosität mit freundlichem Durchschnittsgesicht.
Doch Lemms heimlicher und verschlagener Blick, mit dem er immer wieder die Kollegin gemustert hatte, war Heribert nicht entgangen. Lemm war tatsächlich in die Falle getappt, als die Kollegin später den Lockvogel gespielt hatte.
Nach Abraxas' Verhaftung war alles schnell gegangen. Dass ausgerechnet an einem seiner letzten Tatorte DNA-Spuren gesichert worden waren, war ein mehr als glücklicher Zufall gewesen. Der DNA-Abgleich war eindeutig gewesen, und Abraxas war beim nächsten Verhör dann auch nicht mehr der höfliche und harmlose Mann gewesen, als der er sich während der ersten Vernehmung noch theaterreif inszeniert hatte. Er war ausfallend geworden, und sein Gesicht war dabei zu einer abgrundtief bösen Fratze mutiert. Bestie! Heribert nickte und atmete geräuschvoll aus. Ja, genau das war er – eine Bestie! Eine Krebsgeschwulst an der Gesellschaft. Doch dieser Bastard saß jetzt, Gott sei Dank, im Knast. Wenn es nach Heribert gegangen wäre, hätten sie Lemm gleich eine Kugel in den Kopf jagen können. Doch vielleicht erledigte das ja noch einer seiner Mitinsassen im Gefängnis.
Heribert rief sich abermals zur Ordnung. Abstand! Noch drei Wochen Reha – er würde sie sich nicht mit solchen Gedanken vermiesen. Ab sofort würde er nur an schöne Dinge denken – Frauen zum Beispiel. Mit fünfundvierzig war er noch alleinstehend – die vermeintliche Unvereinbarkeit mit seinem Beruf! Doch er war entschlossen, neu durchzustarten und sein berufliches Know-how für die weniger nervenaufreibende Arbeit als Privatermittler zu nutzen! Er würde sich seine Fälle sorgfältig herauspicken. Denn was nützten ihm Reputation und Anerkennung, die er sowohl durch die Öffentlichkeit als auch Vorgesetzte erfuhr, wenn er keinen Sinn mehr in seiner Arbeit sah, sie ihn nicht mehr erfüllte, sondern – im Gegenteil – ihn zermürbte? Darüber konnte auch sein sicheres und passables Einkommen nicht hinwegtrösten. Für ihn war Schicht im Schacht. Er hatte bereits seiner Dienststelle das Kündigungsschreiben zugesandt.
Plötzlich dachte er an die kleine Dunkelhaarige von heute Morgen beim Frühstück. Wie herausfordernd sie ihn angelächelt hatte! Heribert wusste, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Er war groß, immer noch durchtrainiert, und mit seinen blauen Augen konnte er Frauen in ‚Aufregung‘ versetzen. Schon früh hatte er die Wirkung eines charmanten Lächelns entdeckt. Er reckte sich genüsslich – die kleine Schwarze, heute Abend war sie fällig, heute Abend würde er sie mal ganz genau unter die Lupe nehmen!
Er hielt sein Gesicht in die Frühlingssonne – das Leben konnte schön sein.
Als sein Handy klingelte, ignorierte er es. Was hatte seine Therapeutin noch mal gesagt? Richtig, „Achtsamkeit!“ Ganz genau – Achtsamkeit war der Schlüssel zu seinem neuen Leben.