Buch lesen: «Ausgebombt»
Heike Susanne Rogg
Ausgebombt
Das Ende einer Kindheit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Ein neuer Lebensabschnitt
Das Muttersöhnchen
In der Unterneustadt
In der Schule
Christian und Herr Hitler
Krieg
Kinderfreude
Christian wird zehn Jahre alt
Schulfrei
Der große Krieg
3. Oktober
Die nächsten Tage
Der 22. Oktober
Eine schreckliche Nacht
Der nächste Morgen
Was bleibt
Raus aus Kassel
Evakuierung
Hundelshausen
In der Dorfschule
Noch immer Krieg
Die Amerikaner kommen
Umbrüche
Nachwort
Impressum neobooks
Ein neuer Lebensabschnitt
Christian –
Ende einer Kindheit
(Teil 1)
Wir schreiben das Jahr 1938.
Christian ist ein kleiner fünfjähriger Junge mit blonden Haaren und abstehenden Ohren. Eines Tages geschieht etwas Aufregendes: Seine Mutter entscheidet, dass sie umziehen. Sein Leben fand bis jetzt in einer kleinen Wohnung in Bettenhausen statt. So heißt ein Stadtteil von Kassel. Seine Mutter und er leben dort zusammen mit der Oma im ehemaligen Wohnhaus der Familie. Im Erdgeschoss befindet sich eine große Gastwirtschaft. Nachdem aber der Großvater gestorben war, musste diese verkauft werden. Nun wohnen sie dort zur Miete.
Der Schwarze Schwan (Foto: priv.)
Seiner Mutter gefällt das gar nicht.
Zum einen gilt Bettenhausen als Arbeiterviertel, in dem viele arme Menschen wohnen. Zum anderen ist der Weg zu ihrer Arbeitsstelle sehr weit. Auch sie muss sparsam leben, denn Christians Vater starb, als der Junge erst ein Jahr alt war.
Da bietet sich die Möglichkeit, näher an die Innenstadt von Kassel zu ziehen. Direkt an der Fulda liegt ein großes Doppelhaus. Dort kann sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung bekommen.
Christian findet es toll, jetzt näher an der Stadt zu leben. Das Haus, in dem sie wohnen, gehört einem Ehepaar. Dieses führt im großen Garten einen Bootsverleih, denn gleich hinter dem Grundstück fließt die Fulda. Die Boote faszinieren den kleinen Jungen, und oft ›rudert‹ er auf dem Trockenen. Ins Wasser darf er nicht, denn er kann noch nicht schwimmen. Weil seine Mutter ständig Angst hat, ihm könne etwas passieren, wird er es auch lange Zeit nicht lernen.
Bootshaus Sinning von der Fuldaseite (Foto: priv.)
Das Muttersöhnchen
Im Frühjahr 1938 beschließt Christians Mutter, dass er in den Kindergarten in der Maulbeerplantage gehen soll. Christian sieht das ganz anders. Es gefällt ihm gar nicht, dass er dort, nicht wie zu Hause, als Hauptperson behandelt wird. Außerdem riecht es in den Räumen penetrant nach Desinfektionsmitteln. Lautstark äußert er sein Missfallen, das nicht ungehört bleibt. Nachdem er mal wieder, einen Morgen lang, den Kindergarten zusammengeschrien hat, wird die Mutter zu einem Gespräch gebeten. Wieder einmal gelingt es Christian, seinen Willen durchzusetzen. Er darf von da an zu Hause bleiben.
Weil er nun morgens zu Hause sitzt, nimmt ihn die Oma oftmals mit auf den Markt. Der findet auf dem Königsplatz statt. Christian findet es toll, wie die vielen Bauern aus dem Umland ihre Waren anbieten. Dort gibt es neben Obst, Gemüse und Fleisch auch Korbwaren und Geschirr. Oftmals fällt eine Kleinigkeit für ihn ab: Mal ein Apfel, oder eine Birne, aber am besten gefällt ihm, wenn er ein Stück ›Ahle Wurscht‹ geschenkt bekommt.
Einmal hilft ihm aber aller Trotz nichts. Mit acht Jahren muss er am Blinddarm operiert werden. Für das Muttersöhnchen eine schreckliche Zeit. Zwar besucht ihn seine Mutter jeden Tag, doch darf sie nur für eine Stunde bleiben. Außerdem muss sie dabei hinter einer Glastrennwand stehen. Wegen der Angst vor Bazillen und Viren durften die Eltern damals nicht einfach in die Krankenzimmer. Als Christian nach zehn Tagen endlich nach Hause darf, soll er sich noch eine Woche schonen. Mutter und Oma entschädigen ihn in dieser Zeit für den Krankenhausaufenthalt und verwöhnen ihn wo sie nur können.
In der Unterneustadt
In der Umgebung wohnen viele Kinder in seinem Alter. Schnell finden sie sich, um gemeinsam zu spielen und Unsinn zu treiben. Auf dem Grundstück seines Freundes Hans-Lothar steht eine große Eibe. Dort treffen sich die Jungen immer zum Spielen. Ab Herbst 1939 befindet sich Deutschland in der Anfangszeit des Zweiten Weltkrieges. Die Jungen sind natürlich sehr stolz auf die Erfolge der deutschen Soldaten und spielen deren Siege nach. So ist die Eibe mal Panzerturm, aus dem die kleinen Panzerkommandeure ›den Feind‹ besiegen oder Flugzeugkanzel, von wo aus die Minipiloten das Land erkunden.
Gibt es mal keine Erfolge nachzuspielen, treffen sich Christian, Hans-Lothar, Hilmar, Wolfgang, Rolf, Marie und Anna am Zugang der Drahtbrücke. Gemeinsam ziehen sie in eine Nachbarstraße im Blücherviertel.
Die ›Sternstraßenkinder‹ (Foto: W. Tilcher)
Damit keine Langeweile aufkommt, liefert man sich ›Straßenkämpfe‹ mit den dort wohnenden Kindern. Diese verteidigen natürlich ihr Revier. Kommt es dabei mal zu kleineren Verletzungen, öffnen Anna und Marie ihre Brottaschen und verarzten die tapferen Krieger mit dem mitgebrachten Pflaster.
Die wichtigste Waffe dabei ist die selbstgebaute Zwille, die jeder Junge in der Hosentasche trägt. Die von Christian erfordert eines Tages zwei Todesopfer, als er damit auf die Nachbarhühner schießt. Nicht nur die Mutter seines Freundes Hans-Lothar ist stocksauer über seine Treffsicherheit, auch Christians Mutter ist nicht begeistert. Sie muss die Hühner teuer bezahlen. Christian bedauert nur, dass sie dafür die Hühner nicht mitnehmen dürfen. Sie hätten bestimmt prima geschmeckt.
Seine Treffsicherheit bringt ihm auch einmal zwei Ohrfeigen ein: Zusammen mit Wolfgang und Rolf beschießt er einige Wassersportler auf dem Fluss. Plötzlich dreht einer der Paddler bei und kommt auf den Bootssteg zu. Die Jungen nehmen die Beine in die Hand und rennen in unterschiedlichen Richtungen davon. Während sich seine Freunde aber zu Hause unter dem Küchentisch verstecken, rennt Christian ins Blücherviertel. Dort wartet er eine gefühlte Ewigkeit, bevor er sich zurücktraut. Doch der Paddler beweist viel Ausdauer und wartet noch immer auf ihn. Er verpasst Christian eine heftige Ohrfeige. Das sieht die Vermieterin und stellt den Mann zur Rede. Nachdem dieser ihr erzählt, was die Jungen angestellt haben, bekommt Christian seine zweite Ohrfeige von ihr.
Ihren Meister finden die Kinder aus der Sternstraße in einem Parkaufseher der Karlsaue. Sie verdienen sich ein bisschen Taschengeld mit dem Sammeln von Kastanien für die winterliche Tierfütterung. Hängen diese aber noch an den Bäumen, versuchen sie, mit Stöcken nachzuhelfen, dass sie herunterfallen. Dabei erwischt sie der Aufseher, denn das ist verboten. Zunächst wollen sie fortlaufen, lassen das aber lieber, als sie sehen, dass der Mann einen großen Schäferhund dabei hat. Da erscheint ihnen ein Schlag mit dem Stock auf das Hinterteil wesentlich ungefährlicher.
Wenn das Wetter schön ist, fahren Christian, Mama und Oma oftmals auf den Flugplatz nach Waldau. In einem alten Henschelbus mit einer riesigen Motorhaube fahren sie dann raus zum Flugfeld. Dort bestaunt Christian die startenden und landenden Flugzeuge. Zwar steckt die Flugzeugtechnik noch in den Kinderschuhen, aber Kassel hat einen großen Anteil an dieser Entwicklung. In der Stadt gibt es die Fieseler Werke, die den ›Fieseler Storch‹ bauen. Das ist ein Flugzeug, das man als Kurier- und Sanitätsflugzeug einsetzt. ›Storch‹ heißt es, weil es ein hochbeiniges Fahrgestell hat. Der ›Storch‹ kann ganz langsam fliegen, deshalb braucht er nur eine 50 Meter lange Startbahn. Zum Landen reichen sogar 20 Meter. Bei Gegenwind kann er in der Luft stehen oder sogar rückwärts fliegen. Die gezeigten Flugvorführungen sind natürlich sehr spannend für den kleinen Jungen.
Manchmal treffen sich die drei auch mit Tante Minna und den drei kleinen Kusinen in der Aue.
Christian mit zwei seiner Kusinen (Foto: priv.)
Dort spazieren sie dann durch den Tierpark. Besonders gern mag Christian die kleinen Affen, die sich gelenkig von Baum zu Baum schwingen. Schwierig wird es nur, wenn man in eines der Cafés einkehrt. Christian muss dann immer die schwierige Entscheidung treffen, nimmt er ein Eis oder eine Limonade. Für beides zusammen ist die Mama zu sparsam.
Besonders aufregend wird es im Frühjahr und im Herbst. Dann findet auf der Leister‘schen Wiese die Volksmesse statt. Für 20 Pfennig darf Christian Karussell fahren. Außerdem gibt es Mohrenköpfe und Zuckerstangen. Es ist doch schön, Kind zu sein.
Der kostenlose Auszug ist beendet.