Wenn Vampire Tango tanzen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wenn Vampire Tango tanzen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Heike Möller



Wenn Vampire Tango tanzen





Dieses ebook wurde erstellt bei






Inhaltsverzeichnis





Titel







Prolog







Kapitel 1: Die Einladung







Kapitel 2: Versöhnung ausgeschlossen?







Kapitel 3: „Hat dir die Krankheit den Brägen püriert?“







Kapitel 4: Der erste Schritt







Kapitel 5: „Lass dich einfach fallen!“







Kapitel 6: Das perfekte Kleid







Kapitel 7: Die nächste Hausaufgabe







Kapitel 8: Der Menüplan







Kapitel 9: Überraschungsbesuch







Kapitel 10: Dunkle Vergangenheit







Kapitel 11: Schuhwerk







Kapitel 12: Diverse Kostproben







Kapitel 13: Annäherungen







Kapitel 14: Wannsee bei Nacht







Kapitel 15: Neue Aufregungen







Kapitel 16: „Ich kann es nicht!“







Kapitel 17: Urlaubspläne







Kapitel 18: „Du tropfst!“







Kapitel 19: Hingabe







Kapitel 20: Ein paar Bröckchen Wahrheit







Kapitel 21: Letzte Vorbereitungen







Kapitel 22: Das Ja-Wort







Kapitel 23: Vor Gott







Kapitel 24: Von Geschenken und Tortenstücken







Kapitel 25: Tango







Kapitel 26: „Du bist mein Licht!“







Kapitel 27: Endlich Urlaub







Kapitel 28: Vertrauensbeweis







Epilog







ENDE







Impressum neobooks







Prolog




Mit einem lauten Stöhnen wachte Tobias Kerner schweißgebadet auf. Keuchend setzte er sich auf, zitterte, die dunkelblonden Haare klebten nass in Stirn und Nacken.



„Nicht schon wieder!“, murmelte er, atmete ein paar Mal tief durch, machte seine Nachttischlampe an und stand auf. Er brauchte einen Moment, bis der Schwindel in seinem Kopf verflogen war, dann raffte er seine Schultern und verließ das Schlafzimmer. Mit nackten Füßen tappte er durch den Korridor, der mit einer flauschigen und teuren Auslegeware belegt war. Er mochte das weiche und warme Gefühl unter seinen Füßen, doch jetzt hatte er kein Empfinden dafür. Pustend öffnete Tobias die Tür zu seinem Arbeitszimmer, das am Anfang der großen Wohnung neben der Küche lag. Er ging zu seinem Schreibtisch, knipste auch hier die Lampe an und startete seinen Computer. Während das Gerät hochfuhr, blickte Tobias auf die Uhr, die an der Wand über der Tür hing.



>3 Uhr 17. Die Stunde des Wolfes. Wie passend!<



Sich den Schlaf aus den Augen reibend griff Tobias nach einem Zeichenblock und einem Bleistift. Geschickt zeichnete er das Gesicht, das er in seinem Traum gesehen hatte. Dabei versuchte er, die grauenhaften Einzelheiten außer Acht zu lassen, die er gesehen hatte.



Es war das Gesicht eines Mannes, etwa vierzig Jahre alt. Markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen und dichte, beinahe buschige Augenbrauen. Als Tobias mit der Zeichnung fertig war, gab er in seinem PC das Kennwort und die Pin ein und öffnete seinen Account. Er fuhr mit seiner Maus auf eine geschützte Datei, die sich wiederum nur mit einem anderen Passwort von ihm öffnen ließ. Außer ihm gab es noch zwei Leute, die, falls Tobias etwas zustoßen sollte, Zugang zu dieser Datei hätten.



Tristan Kadian und Jannik Cerný.



Jeder Versuch, die Datei mit einem falschen Passwort zu öffnen, würde in der sofortigen Löschung der Datei enden.



Tobias hatte sich die Datei vor drei Monaten angelegt, als er nach dem Tod von Bertrand Leclerc auf dessen Recherchen gestoßen war. Dabei ging es um eine Organisation, die sich die `Krieger des Reinen Glaubens´ nennen. Diese Organisation wurde im 3. Jahrhundert nach Christus unter dem damaligen koptischen Papst in Alexandria gegründet. Deren Anhänger bekämpften überall auf der Welt Hexen, Dämonen und Vampire, da diese, nach ihrem Glauben, ein verfluchtes und unnatürliches Dasein fristeten und das Unheil in der Welt verbreiteten.



Als im 16. Jahrhundert die Organisation verboten wurde, gerieten die `Krieger des `Reinen Glaubens´ in Vergessenheit. Aber sie waren nicht inaktiv. Im Stillen und ohne den Schutz der christlich-orthodoxen Kirche Ägyptens jagte sie auf eigene Faust die Unseligen, wie sie sie nannten.



Heute mit modernster Technik und ausgefeilten Waffen.



Die Organisation war stark, hatte viele Mitglieder. Die Rekruten mussten sich erst beweisen und wenn sie mindestens einen Vampir, Hexer oder Dämon in die Falle gelockt oder sogar auf schmerzhaft langsame Art getötet hatten, wurden sie als Legionäre auf Lebenszeit verpflichtet. Als Zeichen der Zugehörigkeit wurde ihnen ein Koptenkreuz auf den linken Unterarm tätowiert.



Es gab nur ein Problem: es gibt keine Dämonen!



Dämonen sind nur Manifestationen in den verschiedenen Religionen und Kulturen der Erde. Sie symbolisieren das Böse als erdachte Personifizierung.



Hexen und Vampire hingegen gibt es.



Hexen und Hexer beziehen ihre Kräfte jedoch nicht aus dem Bösen und Dunklen, sondern aus den Energiefeldern, die überall in der Natur um einen herum existieren. Früher nannte man sie Schamanen und Druiden.



Vampire jedoch waren eine natürliche Erscheinungsform, sozusagen ein Missing Link der Menschheit.



Eine eigene Spezies.



Die um ihr Überleben kämpfte.



Tobias Kerner klickte auf eine E-Mail-Adresse und begann, das, was er geträumt hatte, niederzuschreiben. Oder besser gesagt, seine Vision, von der er wusste, dass sie der Wahrheit entsprach. Er hatte den gewaltsamen Tod eines Bruders gesehen.



Gut, er hatte den Vampir nicht gekannt, weswegen sein Empfinden nur das eines Zuschauers war. Doch seitdem Tobias vor drei Monaten einen Sinn in diese Visionen erkannt hatte konnte er endlich der Gemeinschaft nützlich sein. Etwas, was Tobias immer wollte, um von seiner eigenen Vergangenheit loszukommen.



Tobias beendete seinen Bericht, legte die Zeichnung in den Scanner und legte das Bild der Mail als Anhang bei. Da Tobias den Vampir nicht kannte war es vielleicht sinnvoll, wenn er ein Bild des Toten beilegte, damit man seine Identität und die letzten Aufenthalte ermitteln konnte.



Dann schickte Tobias die Mail ab, die über verschiedene verschleierte Accounts und Wege den eigentlichen Empfänger in wenigen Stunden erreichen würde.



Vorsicht war geboten, denn wenn die `Krieger des Reinen Glaubens´ mitbekämen, dass die Vampire gegen die Organisation vorgingen, war ein offener Krieg wahrscheinlich. Und dann würden auch unbeteiligte Menschen darunter zu leiden haben.



Und das war das letzte, was das Konzil und das Triumvirat wollte.



Deswegen hatte das Konzil eine eigene Einheit gebildet, die die Informationen aus der ganzen Welt empfingen, verarbeiteten und weiterleiteten. Man würde erst dann zuschlagen, wenn man genau wüsste, wer was und wo tat.



Und Tobias´ einzigartige Visionen waren eine große Hilfe.



Erschöpft schloss Tobias die Datei und öffnete nach kurzem Zögern seinen normalen E-Mail-Account.



>Eine Nachricht von Jan!<



Neugierig las Tobias die Mail, grinste dann.



>Kaffee am Sonntag um drei. Wie abgefahren ist das denn? Jetzt wird Jan doch noch ein Hausmann, wer hätte das gedacht.<



Seit drei Monaten lebten Jan und Helena zusammen in dem Loft. Jan hatte Helena nach ihrer Wandlung unter seine Fittiche genommen, ihr alles beigebracht, was sie erst mal wissen musste, um zu überleben und sich unauffällig unter Sterblichen zu bewegen. Und Helena stellte sich sehr geschickt an.

 



Immer noch grinsend machte Tobias den Computer aus und öffnete den kleinen geheimen Kühlschrank unter dem Schreibtisch, der von außen einem Safe glich. Drinnen lagen Blutkonserven und Tobi griff einfach die oberste. Geschickt bohrte er seine verlängerten Eckzähne in das Plastik und saugte langsam und genüsslich, während er aufstand und zum Fenster ging.



>Ich lege mich lieber noch etwas aufs Ohr. Wird ein langer Tag im Studio. <







Kapitel 1: Die Einladung




„Stopp!“



Da war es schon geschehen. Alyssandra Martens hatte beim Zugießen der Milch auf ihre Cornflakes zu viel Schwung und die Milch schwappte über den Rand der Müslischale. Auch der Ruf ihrer Mutter Johanna, die das Malheur hatte kommen sehen, konnte das nicht verhindern.



„Entschuldige, Mama.“ Lyssas blaue Augen sahen ihre Mutter zerknirscht an.



„Schon gut, Schatz. Kann ja mal passieren.“



Hanna Martens stand auf und ging in die Küche. Sie holte ein feuchtes Schwammtuch und ein Küchenhandtuch und ging zur Essecke des Wohnzimmers zurück.



„Am besten, du gießt die Milch in die Schale, solange ich das Tuch in der Hand habe.“



Lyssa zog einen Flunsch. „Ha-ha!“ Dann griff sie erneut nach der Milchpackung. Vorsichtig kippte sie das Tetra-Pack und diesmal gelang es ihr ohne zu kleckern Milch über ihre Cornflakes zu gießen.



Lächelnd wischte Hanna die Milchflecken weg und legte die Tücher beiseite.



„Hast du eigentlich Hausaufgaben übers Wochenende auf?“



„Nicht direkt“, nuschelte Lyssa mit vollem Mund. Dann riss sie die Augen auf, legte den Löffel hin und schnippte sich selbst auf den Arm. Hanna hatte Lyssa damit abgewöhnt, ständig mit vollem Mund zu sprechen. Wenn es dann doch gelegentlich passierte, merkte es Lyssa und schnippte sich selbst. So wie gerade eben.



Lyssa schluckte ihr Essen herunter. „Wir sollen, wenn wir wollen, ein bisschen Lesen üben. Frau Müller hat gesagt, dass wir bald ein kleines Diktat schreiben und wir können uns den Text vorher durchlesen.“



„Das ist gut, dann machen wir das gleich nach dem Frühstück.“ Hanna legte sich eine Scheibe Käse auf ihr Vollkornbrot. „Du ließt mir laut vor und danach schreiben wir einen Satz als Probediktat.“



„Ach nö!“ Lyssa sah ihre Mutter genervt an.



„Ach ja! Die Geschäfte haben lange geöffnet, Lys. Aber deine Konzentration ist morgens nun mal am besten. Also erst üben, dann einkaufen.“



Lyssa löffelte grummelnd ihre Flakes, während Hanna genüsslich von ihrem Brot abbiss. Gedankenverloren hörte sie der Musik aus dem Radio zu. Es war ein Song aus den späten 1980er Jahren. Hanna fing an, den Rhythmus mit ihrem Fuß mit zu tippen.



„Mama!“



„Was?“ Hanna wurde aus ihren Tagträumen gerissen.



„Du bist völlig im Takt daneben. Hör lieber auf, sonst denken die Nachbarn noch, du hämmerst einen Nagel in die Wand.“



Hanna sah ihre siebenjährige Tochter erstaunt an. Lyssa hatte ihren eigenen Kopf und sagte des Öfteren, was sie gerade dachte. Und wie Kinder nun mal so sind, fehlte hier noch das Fingerspitzengefühl für den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Ton oder der richtigen Wortwahl.



„Sehr nett von dir, Alyssandra. Danke!“ Hanna mochte es nicht gerne hören, wenn sie von irgendjemanden auf ihr mangelndes musikalisches Talent hingewiesen wurde.



Schon gar nicht, wenn dieser jemand ihre eigene Tochter war.



Etwas später, als Hanna gerade die Lebensmittel wieder in den Kühlschrank verstaut hatte, klingelte das Telefon. Sie klemmte sich das Mobilteil zwischen Schulter und Ohr und wischte dabei den Esstisch ab.



„Martens!“



„Hallo Nana!“



Hanna wäre fast der Hörer runter gefallen. „Lena?“



„Ich dachte, ich melde mich mal wieder bei dir.“



Helena `Lena´ Kapodistrias war Hannas älteste und beste Freundin. Sie lernten sich im Kindergarten kennen, gingen zusammen zur Schule bis zum Abitur und hatten in vielen Dingen den gleichen Geschmack.



Außer wenn es um Männer ging.



Helena war der Inbegriff der klassischen Schönheit: hochgewachsen, gertenschlank, hohe Wangenknochen in einem schmalen Gesicht, dunkler Teint, ebenmäßige Zähne, dunkle Augen und langes, glattes, nachtschwarzes Haar.



Hanna hingegen war nur 1,62 Meter groß, normal weiblich gebaut mit höchstens fünf Kilo zu viel. Sie hatte ein eher herzförmiges Gesicht, eine eher blasse Hautfarbe, die im Sommer aber schnell Farbe bekam. Braune, leicht gewellte Haare und braune Augen, die hinter einer modischen Brille neugierig die Welt erforschten.



Aber Hanna war nie neidisch oder eifersüchtig auf ihre Freundin. Im Gegenteil, sie war gleichermaßen froh und stolz, dass die zwei Jahre jüngere Helena ihre Freundin war.



„Ich habe in den letzten drei Monaten kaum was von dir gehört, Lena. Wie geht es dir?“



„Einfach nur gut, Nana. Táwo hat mir erzählt, dass du ein paar Mal bei ihm angerufen und nach mir gefragt hast?“



„Natürlich! Du hast dich nicht gemeldet und ich erreiche dich nicht.“ Hanna warf das Küchenhandtuch auf den Tisch und stemmte ihre Faust in die Hüfte. Lyssa kam gerade mit dem Lesebuch und einem Übungsheft in das Wohnzimmer und sah ihre Mutter fragend an. „Táwo hat mir gesagt, dass du ziemlich schwer krank warst. Warum durfte ich nicht zu dir? Lyssa hat ihre Patentante auf ihrem Geburtstag vermisst.“



Das Mädchen winkte hektisch in Richtung Telefon und grinste breit mit funkelnden Augen. Hanna machte eine beruhigende Handbewegung zu ihrer Tochter.



„Ach, Nana. Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte eine … Immunschwäche. Aber Jan hat sich aufmerksam um mich gekümmert.“



„Jan? Jannik Cerný? Den du mir damals in der Disco vorgestellt hast?“ Hanna setzte sich hin. Das konnte ein längeres Gespräch werden.



„Genau der. Wir wohnen jetzt zusammen.“



Hanna fiel die Kinnlade herunter. „Wow!“, würgte sie hervor.



Das ging schnell. Viel zu schnell. Sie und Helena hatte sich immer alles erzählt, keine Geheimnisse voreinander gehabt. Zumindest hatte Hanna das bisher geglaubt.



Doch plötzlich verschwand Helena, war drei Monate quasi wie vom Erdboden verschluckt und tauchte dann mit enormen Neuigkeiten wieder auf.



„Nana?“ Helenas Stimme klang beinahe ängstlich. „Bist du noch dran?“



Hanna fasste sich schnell wieder. „Natürlich. Ich bin nur ein bisschen überrascht.“



“Was hältst du davon, wenn du und Lyssa uns morgen besuchen. So gegen 15.00 Uhr. Ich vermisse dich so sehr!“



Hanna war immer noch ein wenig sauer, vermisste ihre Freundin aber auch. „Okay. Wo?“



Sie stand auf, griff sich einen Zettel und einen Stift, schrieb die Adresse von Jannik Cerný auf. „Gibst du mir auch gleich bitte deine neuen Telefonnummern?“ Auch diese schrieb Hanna auf.



„Ach, und bring´ doch auch Monika mit.“



Hanna stutzte. „Meine Mutter?“



„Ja. Du weißt, deine Mutter war für mich immer eine Art Ersatzmutter. Ich möchte sie einfach wiedersehen.“



“Okay. Ich frage sie. Bis morgen dann!“



Grübelnd kappte Hanna die Verbindung, legte das Mobiltelefon zur Seite.



„Übst du jetzt mit mir, Mama?“



Lyssas Stimme riss Hanna aus ihren Gedanken. „Klar doch. Dann mal los.“




Hanna studierte die Namen auf dem Klingeltableau, drückte dann auf `Cerný´.



Sie, Lyssa und Hannas Mutter Monika waren bis U-Bahnhof Mehringdamm gefahren und den Rest des Weges gelaufen. Nun standen sie vor einem ehemaligen Fabrikgebäude, das vor noch gar nicht allzu langer Zeit zu einem modernen Wohnhaus mit mehreren Wohnungen, so genannten Lofts, umgebaut worden war. Die Fassade bestand aus roten Klinkersteinen, die Eingangstür aus dunklem Holz mit Schnitzereien im Jugendstil und Glaseinlagen. Von außen waren drei Stockwerke zu erkennen und auf dem Klingelbrett standen sechs Namen. Offensichtlich waren die Wohnungen extrem großzügig geschnitten, so dass in dem riesigen, über einhundert Jahre alten Gebäude nur sechs Wohnungen waren.



„Wer ist da?“ Helenas Stimme krächzte verfremdet aus dem Klingeltableau.



Einen Moment hatte Hanna das Gefühl, dass sie beobachtet würde. Irritiert sah sie sich um und entdeckte eine kleine Kamera über dem Tableau.



„Hanna, Lyssa und Monika!“



„Kommt rein! Nehmt den Aufzug. Dritte Etage.“



Der Türsummer ging an und Hanna drückte die Haustür auf.



Der Hausflur war eine riesige und hohe Halle aus Marmor, Stuck und dunklem Holz. Eine breite Marmortreppe mit einem gewundenen Holzgeländer war der Mittelpunkt des Foyers. An den Wänden und der hohen Decke befanden sich zwischen den Stuckarbeiten Fresken im Jugendstil.



Hanna drehte sich um. Von außen war es nicht zu erkennen gewesen, aber die Glaseinlagen der Haustür schimmerten im Sonnenlicht in den schönsten Farben und zeigten die einzigartigen Motive aus dem Jugendstil.



„Verflucht, das ist teuer hier!“, murmelte sie.



„Mama, du trödelst!“



„Naseweis!“ Hanna ließ sich von ihrer Tochter zu dem Aufzug ziehen. Der Aufzug muss schon von Beginn an hier im Haus gewesen sein, denn der äußere Teil wies schmiedeeiserne Handwerkskunst auf. Im Ziehharmonika-Prinzip gingen die Türen auf und die drei Frauen gingen in den Fahrstuhl hinein.



Der Fahrstuhl war ziemlich groß und geräumig, von innen kernsaniert und entsprach mit TÜV-Siegel und Wartungsdaten den modernsten Anforderungen und Sicherheitsbe­stimmungen.



„Das ist wunderschön!“, sagte Monika und deutete auf das Tableau mit den Zahlenangaben für die Stockwerke. Passend zu dem Gesamtstil waren die Zahlen und Buchstaben verschnörkelt.



„Hhm!“, bestätigte Hanna und drückte auf den Knopf mit der Zahl drei. Als die Türen zugingen, fiel ihr plötzlich ein, dass sie schnell Beklemmungen in Aufzügen bekam. Kurz krampfte sie ihre freie Hand zur Faust. Monika legte ihre Hand auf den Arm der Tochter, lächelte ihr aufmunternd zu.



Als der Aufzug hielt, stieß Hanna ein stilles Dankesgebet aus. Die Aufzugtür öffnete sich und Helena Kapodistrias stand breit grinsend vor ihr.



„Nana!“ Helena zog Hanna in ihre Arme, drückte sie an sich.



„Umpf!“ Hanna bekam fast keine Luft und sie glaubte eine Rippe knacken zu hören.



„Entschuldige. Ich freue mich nur so, dich wieder zu sehen.“



„Kein Problem, Lena. Ich habe ja noch ein paar Rippen übrig.“



Helena kicherte und umarmte Monika Martens herzlich, aber vorsichtiger und auch respektvoll.



„Meine Güte, Kind! Du siehst wundervoll aus!“ Monika machte große Augen und maß Helena vom Scheitel bis zur Sohle.



Hanna blinzelte und sah sich ihre Freundin genauer an.



Es stimmte. Helena Kapodistrias war schöner, als sie es je zuvor war. Ihre Haut war ebenmäßig und ohne jeden Makel. Die Augen glänzten in verschiedenen Schattierungen und sie lächelte. Sie lächelte offen und ehrlich, strahlte eine innere Zufriedenheit und tiefes Glück aus. Ihre Zähne, schon immer ebenmäßig und weiß, schienen noch ebenmäßiger und weißer geworden zu sein.



„Verdammt, die Liebe bekommt dir!“, ächzte Hanna. Sie empfand plötzlich Neid. Etwas, was sie in Helenas Gegenwart noch nie empfunden hatte.



Helena hob Lyssa hoch und drückte sie an sich. „Hallo, mein Patenkind!“



„Hallo, Tante Lena! Du riechst toll!“



Die schöne Frau strahlte Lyssa an. „Du bist schon wieder gewachsen.“



„Kommt doch in die Wohnung, oder wollen wir im Hausflur Kaffee trinken?“



Die warme, männliche Stimme hinter Helena lenkte die Aufmerksamkeit erfolgreich von ihr ab. Ein großer, blonder Mann mit Engelsgesicht stand lässig in Bluejeans und Poloshirt im Türrahmen der Wohnung.



„Hallo, Hanna. Wir sind uns schon einmal begegnet.“



Hanna musste jetzt doch Grinsen. „Ich weiß. In der Disco. Damals hattest du noch ´ne Matte im Gesicht.“



Jannik Cerný grinste breit zurück und ging auf die drei Gäste zu. Sein Gang war leicht, fast federnd. Immer noch lächelnd nahm er Hannas Hand, drückte sie sanft. „Freut mich, dich noch mal kennen zu lernen. Und Sie müssen Hannas höchstens ein Jahr ältere Schwester sein.“ Er nahm Monika Martens Hand in seine, verbeugte sich leicht darüber und deutete einen Handkuss an. Monika wurde knallrot.



Hanna blickte ihre Mutter erstaunt an. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter jemals wegen einem Mann einen roten Kopf bekommen hätte.



„Himmel, Sie sind ein Charmeur!“ Monika war hin und weg. „Helena, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, wären wir zwei jetzt Konkurrentinnen!“

 



Helena lachte und Janniks Grinsen wurde noch breiter. „Frau Martens, Sie

sind

 jung und absolut anbetungswürdig.“



Monika kicherte albern wie ein junges Mädchen und Hanna verdrehte die Augen. Zugegeben, Janniks Charme war überwältigend, aber Hanna fand, dass er zu dick auftrug.



Helena ließ Lyssa runter und sie gingen alle in die Wohnung. Galant half Jannik seinen Gästen aus den Jacken und hängte sie in die Garderobe.



Hanna war beeindruckt. Der Eingangsbereich der Wohnung hatte dunkles Parkett, die Wände waren in rot, schwarz und creme gehalten. Moderne Grafiken in dunklen Rahmen hingen als Blickfang an den Wänden.



Helena öffnete eine dunkellackierte Schiebetür und führte die Gäste in den Wohnbereich. Auch hier war der Boden aus dunklem Parkett. Die Wände waren nur roh verputzt worden, an manchen Stellen blitzten Klinkersteine im Originalfarbton hervor. Dunkle Regale standen sparsam verteilt an den Wänden, gefüllt mit Büchern, CDs und Accessoires. Ein Fernseher mit Flachbildschirm stand auf einem dunklen, kleinen Sideboard. Der dunkle Couchtisch stand auf einem cremefarbenen Kamelhaarteppich, drapiert von einer cremefarbenen Dreisitzer-Couch und zwei Sesseln in derselben Farbe. Auf dem Couchtisch stand ein einzelner Kerzenhalter, der eine dicke rote Kerze hatte.



>Die Couch sieht irgendwie neu aus! <, dachte Hanna.



Große Fenster, die auf eine Dachterrasse führten, fluteten den Raum mit hellem Licht.



„Lena, das ist wundervoll!“



„Oh, ich habe gar nicht so viel verändert, als ich eingezogen bin.“



„Häh?“



„Jan wohnte schon hier. Wir haben einfach den gleichen Geschmack. Lediglich die Couchgarnitur und die Essecke sind neu. Kommt mit, ich zeige euch den Rest des Lofts.“



Helena und Jannik führten ihre Gäste umher. Die Küche war ein moderner und stilistisch geschmackvoller Raum. Marmor und gebürsteter Edelstahl, die modernsten Geräte, die das Kochen erleichterten.



Das Schlafzimmer der beiden war ein Traum in Blau und Weiß ohne viel Schnörkel. Der Kleiderschrank war in der Wand eingelassen und störte somit das Gesamtbild des Zimmers nicht.



Das angrenzende Badezimmer war aus dunklem Marmor mit goldfarbenen Armaturen. Eine riesige Badewanne bildete den Mittelpunkt und die ebenerdige Dusche in der einen Ecke bot Platz für zwei.



Hanna hatte plötzlich einen Anfall von lebhafter Fantasie, als sie sich ihre Freundin und deren Freund bei zärtlichen Spielen in diesem Raum vorstellte. Schnell und mit hochrotem Kopf schüttelte sie ihre Gedanken ab.



„Das Bad ist ja größer als mein Kinderzimmer!“, stöhnte Lyssa.



„Wir haben auch zwei Gästezimmer und ein Gästebad.“ Jan hatte seine Gäste den Korridor entlang geführt und öffnete eine weitere Tür. Das Gästezimmer, das er zeigte, war ebenfalls modern eingerichtet und wies eine klare Linie auf. Hier standen ein kleiner Kleiderschrank und ein Sideboard gegenüber dem Bett. Auf dem Sideboard stand ein kleiner Fernseher. Alles war hell und freundlich. Auch das Gästebadezimmer war eine Augenweide in cremeweiß und blau.



„Ich bin schwer beeindruckt“, gab Hanna zu, als sie sich an den Esstisch gesetzt hatten, der ausgezogen worden war und zwischen Küche und Wohnzimmer stand. Duftender Kaffee und ein luftig leichter Käsekuchen standen bereit. Sechs Stühle standen an dem Tisch, wobei zwei Stühle anders aussahen als die anderen vier.



„Lyssa, möchtest du Kakao oder Saft?“ Helena stand mit einem Glas an der Küchentür.



„Saft bitte, Lena!“



„Orange oder Apfel?“



„Orange bitte!“



Jannik beugte sich zu Hanna hinüber. „Kompliment, du hast eine sehr höfliche Tochter.“



„Danke, Jannik.“



„Nur Jan.“



Hanna fiel auf, dass ein weiteres Gedeck auf dem Tisch stand. „Erwartet ihr noch jemanden?“



„Tobi. Er müsste auch gleich kommen.“



In dem Moment klingelte es und Helena flitzte zur Tür, nachdem sie den Orangensaft vor Lyssa hingestellt hatte.



Hanna grübelte. >Tobi? Irgendwoher kenne ich den Namen!<



„Du erinnerst dich bestimmt an ihn.“ Jannik goss erst Monika, dann Hanna Kaffee ein. „Du hast ihn damals ebenfalls im `Everage´ kennen gelernt.“



Hanna erinnerte sich und bekam schlagartig schmale Augen. Ein dunkelblonder Mann mit grünbraunen Augen. Sehr von sich und seinem Charme überzeugt. Er wollte ständig mit Hanna tanzen und sie hatte abgelehnt. Dann bekam er einen anaphylaktischen Schock, klappte zusammen und reagierte äußerst unwirsch, als Hanna ihm helfen wollte.



>

Dieser

 Arsch!<



„Ich erinnere mich. Ich hoffe, es geht ihm heute besser als damals.“ Sie konnte nicht verhindern, dass der Sarkasmus aus ihr heraus tropfte.



Jannik schmunzelte tatsächlich. „Es war ihm wahnsinnig peinlich, glaub mir.“



„Hhm.“ Mehr wollte Hanna dazu nicht sagen. Schließlich war dieser Tobi der Freund von Jannik, also ziemte es sich nicht ihrer Meinung nach, ihn schlecht zu machen. Was sie jedoch über den Mann dachte, war ihre eigene Sache.



Hanna sah, wie Helena den neuen Gast herzlich umarmte und auf die Wangen küsste. Jannik stand auf und ging ebenfalls in Richtung Eingang.



„Wer ist dieser Freund?“, fragte Monika leise.



„Niemand, über den ich reden will oder über den es sich lohnt, Gedanken zu machen, Mutter!“, zischte Hanna leise und setzte ihr charmantestes Verkäufer-Kunden-Lächeln auf.



Die beiden Männer umarmten sich freundschaftlich, aber die Augen des Neuankömmlings blickten unsicher zu Hanna hinüber. Diese Unsicherheit besänftigte Hanna augenblicklich, obwohl sie nicht sagen konnte, warum es so war.



Janniks Freund war etwa 1,75 groß, mit dunkelblonden Haaren, die er zu einem streng nach hinten gekämmten Zopf im Nacken zusammengebunden hatte. Die hohe Stirn kam besonders durch die hoch angesetzten Geheimratsecken zur Geltung, ließen das feingeschnittene junge Gesicht reifer wirken. Die grünbraunen Augen standen etwas schräg und weit auseinander, die Lippen waren sinnlich gewölbt, der Unterkieferknochen klar definiert.



>Himmel, das war mir in der Disse gar nicht aufgefallen! <



Jannik schien dem Mann etwas zugeflüstert zu haben, denn er nickte kurz und sah Helena in die Augen. Auch bei ihr musste er den Kopf etwas anheben, da die schöne Frau ebenfalls größer war als er selbst.



>Na ja. Ich bin halt ein Erdnuckel! <, dachte Hanna und zuckte kurz mit der Augenbraue.



Helena nahm Janniks Freund bei der Hand und führte ihn zu dem Esstisch. „Nana, du erinnerst dich an Tobias Kerner?“



Hanna wollte eigentlich sagen: >Klar! Das war doch der undankbare Idiot, der mit seinem Kopf in meinem Schoß lag und mir ´ne Heidenangst eingejagt hatte. Und dann besaß er auch noch die Frechheit, mich anzufahren!<



Stattdessen streckte Hanna ihre Hand aus. „Hallo! Nett dich wieder zu sehen.“



Tobias streckte seine Hand aus und ergriff Hannas mit zusammengekniffenen Lippen. „Ich … freue mich auch, Hanna.“ Seine Stimme klang merkwürdig belegt.



>Oh je! Er kriegt doch nicht wieder so einen Anfall!<



„Das ist Monika Martens, Hannas Mutter.“ Helena stellte rasch die andere Frau vor, weil sie merkte, wie befangen Tobias plötzlich war. So kannte sie Jans Freund gar nicht. Normalerweise war er jemand, der mit Frauen sehr charmant und locker umging, aber bei Hanna verhielt er sich zurückhaltend.



Tobias ergriff die Hand der älteren Frau. „Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Frau Martens“, sagte er und lächelte Hannas Mutter freundlich an. Dabei wirkte er schon deutlich entspannter als zuvor.



„Und ich bin Alyssandra. Meine Mama sagt aber immer Lyssa oder Lys zu mir. Außer wenn ich etwas angestellt habe.“ Lyssa stand auf, streckte ihre Hand dem fremden Mann entgegen und grinste ihn keck an. Ihr hellblonder Pferdeschwanz wippte leicht.



Als ob ein Schalter umgelegt worden war löste sich Tobias´ verkrampfte Haltung. „Hallo, Lyssa. Ich bin Tobi.“



„Du bist nett. Du kannst neben mir sitzen!“



Hannas Kinnlade klappte hinunter. Normalerweise erteilte Lyssa nicht so schnell den Ritterschlag der Freundschaft. Da mussten wenigstens mehrere Stunden, wenn nicht sogar Tage vergehen, bis Lyssa sich zu einer positiven Äußerung hinreißen lie�