Bildung gegen den Strich - eBook

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3 Kindermütter:
Kinder, die Kinder bekommen
Immer mehr schwangere Mädchen

Seit einiger Zeit gibt es am Rojas-Pinilla-Platz und auf der Avenida El Prado immer mehr schwangere Mädchen. Dieselbe Beobachtung kann man auch in anderen Städten Kolumbiens machen, mehr noch, sie trifft offenbar für den ganzen Kontinent zu. Obgleich das Bevölkerungswachstum zurückgeht, steigt die Anzahl der Schwangerschaften Minderjähriger und der Kindermütter. Dasselbe Phänomen wird auch aus anderen Ländern und Kontinenten berichtet. Die Zunahme der Zahl schwangerer Minderjähriger und jugendlicher Mütter ist besonders in armen Bevölkerungsschichten zu beobachten. Die betroffenen Jugendlichen, die aus unterprivilegierten Familien stammen, haben oft eine geringere Schulbildung als ihre Altersgenossinnen, die erst später Nachwuchs bekommen.


Diese Zusammenhänge treffen bis zu einem gewissen Grad auch auf die Industriestaaten, selbst auf Deutschland zu. Überall ist das Bevölkerungswachstum rückläufig, aber die Abnahme der Geburten Minderjähriger fällt weniger stark aus.4 Bei den ganz jungen Müttern unter 17 Jahren steigt die Zahl der Schwangeren in letzter Zeit sogar an. Jährlich sind in Deutschland etwa 20 000 Jugendliche betroffen. Das sind drei Prozent aller Mädchen unter 18 Jahren. Der Anstieg der Geburten im Jugendalter, der der allgemeinen Tendenz der rückläufigen Geburtenzahlen entgegensteht, betrifft also hauptsächlich die Gruppe der minderjährigen Jugendlichen bis ins Alter von einschließlich 17 Jahren.

4 Vgl. Sabine Biel: Schwangerschaft im Jugendalter, o. O. (VDM Verlag), 2007.

Aus Europa und Lateinamerika liegen inzwischen Forschungsergebnisse vor, die diese Situation näher beleuchten: Offenbar erleben Minderjährige den ersten Geschlechtsverkehr häufig »völlig ungeplant und überraschend«. Das praktische Verhütungsverhalten hat sich demnach in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Bis zu 20 Prozent der 14- bis 15-Jährigen benutzen bei der ersten sexuellen Begegnung überhaupt keine Verhütungsmittel.


Mehr Informationen zum Thema Schwangerschaften Minderjähriger:

Literatur:

 Isabell Louis: Teenagerschwangerschaften – Ursachen, Problematik und Hilfe, München/Ravensburg 2008

 Sigrid Weiser u.a. (Hg.): Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Teilstudie I. Soziale Situation, Umstände der Konzeption, Schwangerschaftsausgang. Ergebnisse einer Erhebung an 1801 schwangeren Frauen unter 18 Jahren, Hamburg und Frankfurt a. M., November 2006

 Elka Thoss u. a.: Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch bei minderjährigen Frauen. Teilstudie I. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, ebenda

 Anke Spies: Frühe Mutterschaft. Die Bandbreite der Perspektiven und Aufgaben angesichts einer ungewöhnlichen Lebenssituation, Hohengehren 2010

 Carmen Elisa Flórez et al.: Fecunidad adolescente y desigualdad en Colombia y la Región de América Latina y el Caribe, Santiago de Chile 2006

 Organismo regional andino de salud (ed.): El embarazo en adolescentes en la subregión andina, 2008

 José Manuel Guzmán et al. (ed.): Diagnóstico sobre salud sexual y reproductiva de adolescentes en América Latina y el Caribe, México 2001

Links:

Mutterschaft Minderjähriger:

  http://de.wikipedia.org/wiki/Mutterschaft_Minderj%C3%A4hriger

  http://www.eundc.de/pdf/40008.pdf

Teenager-Schwangerschaften in Berlin und Brandenburg:

  http://www.sexualaufklaerung.de/cgi-sub/fetch.php?id=529

  http://www.isp-dortmund.de/downloadfiles/Doku_Vortrag_Teenagerschwangerschaften_-_M._Gnielka.pdf

Schwangerschaften Minderjähriger. Hintergründe:

  http://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=500

Je jünger die Schwangeren sind, umso häufiger kommt es zu Abtreibungen. Die Wahrscheinlichkeit einer Totgeburt ist bei Schwangeren in jungen Jahren größer als bei erwachsenen Frauen. Ihr Anteil beträgt bei Volljährigen durchschnittlich etwa 0,4 Prozent. Bei 17- bis 19-Jährigen nimmt die Rate leicht, bei noch jüngeren Müttern stark zu. Totgeburten machen bei Mädchen im Alter von 14 Jahren sogar bis zu 0,9 Prozent aus.

Hauptschülerinnen werden häufiger schwanger als Gymnasiastinnen. ­Letztere entscheiden sich allerdings öfter für einen Schwangerschaftsabbruch, während Haupt- und Realschülerinnen ihr Kind eher austragen. Möglicherweise erhoffen sich die jungen Frauen mit niedrigerem Schul- und Ausbildungsabschluss durch die Mutterschaft einen Zuwachs an gesellschaftlicher Anerkennung. Oft stammen minderjährige Mütter aus Familien, in denen sie Vernachlässigung, Scheidung der Eltern und Alkoholismus erfahren haben. Mädchen, deren eigene Mütter bei der Geburt noch sehr jung waren, neigen überproportional häufig dazu, selbst bereits als Jugendliche Kinder zu bekommen.

Der tendenzielle Rückgang des Bevölkerungswachstums ist ein weltweites Phänomen. Mit durchschnittlich 1,4 Kindern je Frau steht Deutschland mit an der Spitze dieser Entwicklung. In Asien ging die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau von 5,1 auf 2,6, in Lateinamerika von 5 auf 2,7 Kinder zurück. In den andinen Ländern Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela nahm das Bevölkerungswachstum zwischen 1975 und 2005 um ein Drittel ab. Gleichzeitig (insbesondere seit 1990) wächst die Anzahl der Schwangerschaften junger Mädchen, und zwar in städtischen wie in ländlichen Gebieten.

In den sechs genannten Andenländern leben zurzeit 28,8 Millionen Menschen im Kindes- und Jugendalter. Über 20 Prozent der Bevölkerung sind Kinder, weitere 20 Prozent Jugendliche. Von sieben Millionen weiblichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren sind über eine Million (18 bis 20 Prozent) schwanger oder bereits Mütter. Die meisten schwangeren Mädchen gibt es in Vene­zuela, Kolumbien und Ecuador. (In einigen Gebieten gehören junge Mutterschaften zur herrschenden Kultur, so unter der indianischen Bevölkerung in Bolivien und Ecua­dor. Diese Thematik bleibt hier unberücksichtigt.)

Die Fruchtbarkeit Jugendlicher betrifft stärker Mädchen als Jungen. Die meisten Kinder von minderjährigen Müttern haben erwachsene Väter. In Peru zum Beispiel ist eine von zehn Müttern minderjährig, aber auf 50 Vaterschaften kommt nur eine einzige eines Jugendlichen. In Bolivien, Kolumbien und Peru schätzt man, dass 70 Prozent der Schwangerschaften Minderjähriger ungeplant sind. Die Gründe dafür sind vor allem fehlendes Wissen um Sexualität und Fruchtbarkeit, mangelnde Information über Empfängnisverhütung und fehlender Zugang zu Verhütungsmitteln. Das Bewusstsein von den möglichen Folgen des Geschlechtsverkehrs ist bei Jugendlichen oft nur spärlich entwickelt, und die Kommunikation über dieses Thema scheint zwischen jungen Partnern extrem reduziert zu sein. Nicht selten gehen Schwangerschaften allerdings auch auf sexuellen Missbrauch und Inzest zurück.

In Kolumbien werden Jahr für Jahr durchschnittlich 6000 bis 7000 Kinder geboren, deren Mütter noch Kinder sind – die Tendenz ist ansteigend. Allein in der Hauptstadt Bogotá sind es jährlich zwischen 600 und 700. Die Zahl der Geburten junger Mütter hat sich während der letzten 15 Jahre um 60 Prozent, die der Schwangerschaften um 70 Prozent erhöht. Vor 30 Jahren machten die Geburten Minderjähriger kaum sieben Prozent aller Geburten aus. 1990 waren es zwölf Prozent, 2005 bereits 19 Prozent. Rechnet man Totgeburten und Abtreibungen hinzu, so kommt man leicht auf über 20 Prozent Minderjährigengeburten.5

5 Vgl. Carmen Elisa Flórez et al.: Fecunidad adolescente y desigualdad en Colombia y la Región de América Latina y el Caribe, Santiago de Chile 2006.

Gründe und Folgen

Verschiedene Untersuchungen in lateinamerikanischen Ländern zeigen, dass das Phänomen der minderjährigen Mütter häufig mit drei Merkmalen einhergeht: Erstens leben die meisten Kindermütter auf dem Land. Sie sind – zweitens– nur wenige Jahre oder überhaupt nicht zur Schule gegangen. Und drittens: Ihr Dasein ist von Armut geprägt. Fallen alle drei Charakteristika zusammen, so potenziert sich das Risiko beträchtlich.

Am höchsten ist die Schwangerschaftsrate Minderjähriger in ländlichen Gebieten. Fern von der Stadt ist es besonders schwierig, an Verhütungsmittel zu kommen. Minderjährige Mädchen werden dort doppelt so häufig schwanger wie Gleichaltrige in den Städten.

 

Der Unterschied steigt auf das Siebenfache, wenn die Jugendlichen obendrein keine oder nur eine geringe Schulbildung genossen haben. Der Anteil der Schwangerschaften Minderjähriger ist unter Mädchen ohne oder mit nur geringer Schulbildung viermal so hoch wie unter Absolventinnen einer Sekundarschule. Die Schwangerschaft fällt gewöhnlich in die Zeit, in der die Jugendliche die Abschlussklasse einer weiterführenden Schule besucht. Kommt es zu einem Abbruch der Schullaufbahn, so bedeutet dies, dass die Betroffene den Ausbildungsgrad nicht erreicht, der sie für eine aussichtsreiche Berufslaufbahn qualifizieren könnte.

Auf das Fünfzehnfache wächst die statistische Wahrscheinlichkeit einer verfrühten Schwangerschaft, wenn zur ländlichen Lebenssituation und mangelnder Schulbildung Armut hinzukommt. Armut erhöht im Übrigen auch die Sterblichkeitsrate von Mutter und Kind.

Einige Beobachter neigen zu der Auffassung, dass Schulabbrüche oft Folge von Schwangerschaften seien. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: Vorzeitiger Schulabbruch führt häufig zu früher Schwangerschaft. Viele Mädchen, die bereits in jugendlichem Alter Mutter geworden sind, haben die Schule verlassen, ehe sie schwanger wurden. Schulabbruch ist demnach eher eine Bedingung, seltener die Konsequenz einer Schwangerschaft.

Schwangerschaften Minderjähriger haben Folgen, die die Mütter, ihre Familien, ihre Umgebung und auch den Staat belasten. Minderjährigen Schwangeren droht die soziale Isolation und Stigmatisierung. Ohne Schulabschluss gelingt es ihnen kaum, die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben zu schaffen. Eine ­frühe Schwangerschaft erhöht insbesondere in armen Ländern für die Mutter und ihre Familie das Risiko zu verelenden. Alleinstehende junge Mütter haben selten, und dann nur eingeschränkt, die Möglichkeit zu arbeiten und Geld für den ­eigenen Unterhalt wie für den ihrer Kinder zu verdienen. Da junge Mütter samt Nachwuchs häufig bei ihren Eltern Unterschlupf suchen, die ohnedies in beengten und ärmlichen Verhältnissen leben, werden wiederum deren Einkommen und die Überlebenschancen noch stärker belastet. Unter den negativen Folgen verfrühter Mutterschaft leiden besonders die betroffenen jungen Frauen, zumal die Väter häufig jegliche Verantwortung abstreiten und ihre Pflichten nicht wahrnehmen. Über sie, über ihre Einstellungen und Meinungen gibt es übrigens bis heute keine wissenschaftlichen Untersuchungen.

Junge Schwangere und Kinder in prekären Lebenslagen laufen Gefahr, krank zu werden oder bei der Geburt zu sterben. Die Sterblichkeitsrate, die bei Müttern mit steigendem Alter (bis zu 34 Jahren) abfällt, ist bei den Jüngsten am höchsten. Bei Mädchen, die im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ein Kind bekommen, ist die Gefährdung doppelt so hoch wie bei Müttern zwischen 20 und 30 Jahren. Mit der frühen Mutterschaft ist auch für das Neugeborene ein großes Mortalitätsrisiko verbunden. Häufiger als Kinder älterer Mütter sterben Kinder von Minderjährigen, ehe sie ein Jahr alt werden. Naturgemäß ist die Gefahr dann am größten, wenn ein schwangeres Mädchen in Armut lebt. Kinder jugendlicher Mütter werden häufig mit Untergewicht, d.h. mit weniger als 2500 Gramm, geboren, und dieses Manko können sie im weiteren Wachstumsprozess kaum ausgleichen.

Da frühzeitige Schwangerschaften meist ungeplant sind, ist das erwartete Kind oft nicht erwünscht – entsprechend unfreundlich wird es empfangen und nur nachlässig versorgt. Selten lebt die minderjährige Mutter in einer festen Beziehung. Die ungesicherte Lebenslage birgt die Gefahr, dass sich die in der Familie ohnehin herrschende Armut verschlimmert und es deshalb zu Konflikten kommt. Die schwangeren Mädchen werden von ihren Verwandten nicht selten zurückgewiesen oder verstoßen. Schnell geraten sie in emotionale Bedrängnis und eine finanziell aussichtslose Lage.

Oft sind Schwangerschaften Minderjähriger eine Folge kritischer Lebensereignisse. Sie hängen bisweilen mit der Scheidung oder Trennung der Eltern, mit Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Tod naher Verwandter oder mit wirtschaftlichen Schicksalsschlägen zusammen. Der Alltag der Betroffenen ist mitunter von Gewalt, Alkoholmissbrauch und Vernachlässigung geprägt. In solchen Krisen regt sich bei Jugendlichen der Wunsch, selbst ein Kind zu haben, das die eigene Befindlichkeit aufbessert. Schwangerschaft und Mutterschaft erscheinen dann als Ausweg aus Konflikten und Notlagen, ungeachtet der Tatsache, dass sie in verschärfte Problemsituationen hineinführen. Jugendliche haben mitunter die Hoffnung, dass sie als Schwangere ihr Leben besser bewältigen können. Sie glauben, dass sie auf diesem Weg einen unterstützenden Partner oder fürsorgenden Ehemann finden. Gleichzeitig wollen sie mehr Akzeptanz und Ansehen erreichen. Die Gründung einer »richtigen Familie«, so glauben manche, werde ihren emotio­nalen, ökonomischen und sozialen Status aufbessern.

Überall dort, wo die Zahl der minderjährigen Schwangeren und der Kindermütter ansteigt, nehmen auch die Schwangerschaftsabbrüche zu. Allein in den oben genannten sechs andinen Ländern soll es Jahr für Jahr 70 000 Abtreibungen geben. Gegen Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Kolumbien weit über 80 Prozent der ungewollten Schwangerschaften Minderjähriger abgetrieben – und zwar zu einem großen Teil von unqualifiziertem Personal, mit beträchtlichen gesundheitlichen Risiken.

Auf die Mädchen, die sich im Zentrum Medellíns herumtreiben, treffen sämt­liche Merkmale zu, die das Risiko und die Gefahr einer frühen und problematischen Schwangerschaft erhöhen – Armut, Gewalt, mangelnde Schulbildung, Lebenskrisen, Missbrauch, fehlende Aufklärung und unzureichende Gesundheitsfürsorge. Für Flor, María-Isabel und Azucena gilt, was für alle Straßenmädchen zutrifft: Sie leiden permanent unter Mangel an Zuwendung. Kaum jemals hatten sie die Möglichkeit, sich zu behaupten und ihr Leben selbst zu bestimmen. Schwangere Mädchen und Kindermütter, die zusammen mit ihrem Nachwuchs auf den Straßen in Medellín wie auch in den anderen Metropolen der Entwicklungsländer leben, stellen eine extreme Risikogruppe dar. Sie, die so gut wie immer aus unterprivilegierten Familien stammen, sind meist selbst in misslichen Situa­tionen gezeugt und unter erschwerten Bedingungen von mangelernährten Müttern mit Bangen erwartet und ausgetragen worden. So setzt sich das Elend von Generation zu Generation fort.


Chor der jungen Straßenmütter1

1 Quelle: Carlos Fuentes, Chor der jungen Straßenmütter, aus: ders., Alle glücklichen Familien. © 2006 Carlos Fuentes. © 2006 bei Santillana Ediciones Generales, S. A. de C. V., México. Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M. 2008.

Equisita gebar auf der Straße

Die Hälfte der Mädchen auf der Straße ist schwanger

Sie sind zwischen zwölf und fünfzehn

Ihre Babys sind zwischen null und sechs

Viele haben das Glück einer Fehlgeburt weil sie geprügelt werden

Bis der Fötus vor Angst schreiend herauskommt

Ist es besser drinnen oder draußen zu sein?

Ich will hier nicht sein Mamacita

Wirf mich lieber in den Müll Mutter

Ich will nicht geboren werden und jeden Tag mehr verdummen

Ohne Bad Madrecita ohne Essen Mutter

Ohne andere Nahrung als den Alkohol Mutter Marihuana Mutter

Lösungsmittel Mutter Resistol Mutter Toluol Mutter Kokain Mutter

Benzin Mutter

Deine Brüste prall gefüllt mit Benzin Mutter

Ich spucke Feuer Mutter

Für ein paar Centavos Mutter

An den Straßenecken Mutter

Den Mund voller Benzin das ich aufsog Mutter

Der brennende Mund versengt

Die Lippen mit zehn Jahren zu Asche verkohlt

Wie soll ich mich lieben Mutter?

Ich hasse dich nicht

Ich hasse mich

Ich bin keinen Dreck wert

Ich bin nur wert was meine Fäuste hergeben

Prügelnde Fäuste raubende Fäuste messerscharfe Fäuste Mutter

Falls du noch lebst Mutter

Falls du mich noch ein kleines bißchen liebst

Befiehl mir bitte daß ich mich selbst ein kleines bißchen liebe

Ich hasse mich wirklich

Ich bin weniger wert als Hundekotze Eselscheiße

ein Haar am Arsch ein verlorener

Schuh ein verfaulter Pfirsich eine schwarze Bananenschale

Weniger als der Rülps eines Säufers

Weniger als ein Polizistenfurz

Weniger als ein kopfloses Huhn

Weniger als der welke Schwanz eines Greises

Weniger als die schlaffen Arschbacken einer kleinen Schlampe

weniger als der Auswurf eines Dealers

weniger als der nackte Arsch eines Pavians

weniger als wenig Mamacita

laß nicht zu daß ich mich selbst umbringe

sag etwas damit ich mich großartig fühle

supergroßartig superbombastisch Mutter

reich mir nur eine Hand um hier rauszukommen

bin ich für immer zu dem hier verdammt Mutter?

sieh nur meine tiefschwarzen Fingernägel

sieh nur meine verklebten triefenden Augen

sieh nur meine aufgesprungenen Lippen

sieh den schwarzen Schaum auf meiner Zunge

sieh das gelbe Schmalz in meinen Ohren

sieh meinen grünen aufgequollenen Bauchnabel

Mutter hol mich hier raus

was hab ich verbrochen um hier zu enden?

Grabend nagend kratzend weinend

was habe ich verbrochen um hier zu enden?

Xxxxxquisita

Flor, Azucena und Marina haben in ihrem kurzen Leben eine Katastrophe nach der anderen erlebt. Sie haben ihre Familien verloren, haben freiwillig oder unter Zwang ihr Zuhause verlassen. Nun schlagen sie sich notdürftig durch und mühen sich täglich ab, um nur irgendwie zu überleben. Sie sind körperlich und psychisch retardiert, fühlen sich einsam, verlassen und haben bedrängende Minderwertigkeitsgefühle.

Kein Straßenbewohner in Medellín kommt ohne Drogen aus. Wenn ein Mädchen feststellt, dass es schwanger ist, spürt es zwar eine starke Motivation, sein ­Leben zu ändern – um des Kindes willen. Aber es gelingt selten, dauerhaft abstinent zu bleiben und sich der Prostitution zu entziehen. Das Kleinkind, das schon als Embryo am Rauschgiftkonsum seiner Mutter teilhat, ist von Geburt an drogenabhängig. Es ist fortwährend unruhig, schreit Tag und Nacht und ist für Krank­heiten besonders anfällig. Seine körperlichen und psychischen Entwicklungschancen sind eingeschränkt. Nicht wenige Kinder kommen behindert zur Welt.

»Du fühlst dich wie im Himmel«

Der Kleber (sacol) in dieser Flasche – das ist eine Droge, die konsumieren wir, um zu entspannen. Du fühlst dich dann wie im Himmel. Eigentlich kann man niemandem raten, daran zu schnüffeln. Der Kleber macht die Lunge kaputt.

Die Jugendlichen auf der Straße schnüffeln Kleber, weil er ihnen zusagt. Diese Droge zu nehmen, das ist kein Verbrechen. Mit dem Kleber werden Schuhe repariert.

Wir konsumieren Drogen, um über die Runden zu kommen. Pepa (Amphetamin) ist für außen, Kleber für innen. Er trocknet den Körper aus. Auf einmal kannst du nicht einmal mehr husten. Du spürst keinen Hunger mehr: Du wirst schwindelig wie ein Verrückter.

Was ich zum Thema Drogen noch sagen wollte: Marihuana raucht man wie eine Zigarette. Du bekommst davon rote Augen. Es ist so, als würdest du rennen und plötzlich hinfallen, ein starker Effekt.

Perico, durch die Nase geraucht, beruhigt dich, und du fühlst dich glücklich. Wenn dir einer dumm kommt, hast du Lust, zuzuschlagen und ihn umzubringen. Du willst keinen mehr sehen.

Man versteckt die Flasche in einer Plastiktüte, damit sie die Leute nicht sehen. Auf der Straße herumzutorkeln, das gefällt den Leuten nicht.

Hier im Zentrum werden sacol, basuco und perico konsumiert. Man sieht hier auch Heroin.

Drogen zu konsumieren, kann man niemandem empfehlen. Wir nehmen sie, weil sie uns beruhigen. Sie helfen uns über den Stress hinweg.

Wir denken nicht mehr an die schlimmen Dinge. Zum Beispiel, wie wir in der Familie behandelt und geschlagen wurden. Wir hauen von zu Hause ab, um an Drogen zu kommen. Wir probieren alle aus, um die verschiedenen Wirkungen kennenzulernen.

 

Marihuana zum Beispiel schmeckt süßlich. Die Lippen werden weich, so, wie wenn man einen Lollipop lutscht.

Perico ist bitter wie ein saures Bonbon. In basuco verliebt man sich sofort, weil es so schön süß schmeckt.

Jede Droge hat ihren besonderen Geschmack, der dich begeistert und nicht mehr loslässt.

Wir sammeln Müll, um Geld für Drogen zu verdienen. Wenn man Geld fürs Essen ausgibt, fehlt es fürs Übernachten. Gibt man es für ein Zimmer aus, bleibt nichts fürs Essen übrig.

Wichtig sind drei Dinge: Zimmer, Essen, Drogen. Schlafen ist am wichtigsten.

Wenn du mal nicht zum Schlafen kommst, fühlst du dich gleich, als hättest du drei oder vier Nächte durchgemacht.

Schlimmer als Drogen ist die Hitze hier in Medellín. Sie macht einen fertig, man magert ab, und schließlich stirbt man.

Elkin, ca. 18 Jahre


Die Mädchen konsumieren Drogen vor, während und nach der Schwangerschaft. Die jungen Mütter, selbst noch bedürftige Kinder, sind durch die Geburt und ihre Folgen ganz und gar überfordert, zumal sich die Väter meist aus dem Staub gemacht haben. Die bei den Schwangeren in der Vorfreude auf das Kind vorherrschende Euphorie kippt spätestens nach der Geburt in Enttäuschung, Gefühllosigkeit und Depression um. Häufig sind die jungen Mütter ihrem Nachwuchs gegenüber zu Zuwendung und liebevoller Sorge überhaupt nicht fähig. Sie reagieren wechselweise überschwänglich, gleichgültig, abwehrend oder aggressiv. Sind die Kleinen erst einmal bei den Großmüttern untergebracht, so kehren die Mütter auf die Straße zurück, nehmen Prostitution und Drogenkonsum wieder auf und versuchen zur Beschwichtigung ihrer Schuldgefühle so viel Geld zu verdienen, dass sie wenigstens einen gewissen Beitrag zum Lebensunterhalt ihres Kindes beisteuern können. Wenn der Großmutter das Geld ausgeht, erscheint sie mit dem Kleinen auf der Straße und kassiert einen Teil des Verdienstes der zurückliegenden Tage ab.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?