Bildung gegen den Strich - eBook

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2 Babystrich – Kinderprostitution
Ein kleiner Platz im Zentrum der Stadt

Die Plazoleta Rojas Pinilla ist ein kleiner Platz im Zentrum der lateinamerikanischen Millionenmetropole Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens. In Form eines spitzen Dreiecks geschnitten, misst er an der Breitseite etwa vierzig, in der Länge wohl sechzig Meter. Man erfasst den Ort mit einem Blick: Um die ­Statue des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Rojas Pinilla herum findet eine wilde Jagd statt. Ein kleiner Junge hat einem Mädchen die Kleberflasche entrissen, und während er mit der einen Hand die empörte Verfolgerin abwehrt, versucht er mit der anderen, an der Flasche zu schnüffeln, vergebens. Unter einem der niedrigen Bäume mit ihren tellergroßen, schattenspendenden Blättern liegt eine Frau wie tot. Ein Junge wirft sich auf sie und küsst die Schlafende. Sie wacht auf, schreit und schlägt nach ihm. Vor einer Bar hält sich eine kleine Gruppe von Menschen auf, Erwachsene und Kinder. Zwei Polizisten, die ihr Motorrad am Straßenrand abgestellt haben, tasten jeden nach Waffen und Rauschgift ab, der wie ein Straßenbewohner aussieht. Ein junger Mann von dunkler Hautfarbe, dessen Beine bis auf zwei Stümpfe amputiert sind, ist, abgesehen von einer zerschlissenen Plastiktüte, die er wie eine Unterhose trägt, unbekleidet. So rutscht er erstaunlich schnell über den Platz, indem er sich mit den Armen voranrobbt. Dort, wo das Pflaster des Platzes aufgebrochen ist, verrichtet er seine Notdurft. Die Düfte des Marktes mischen sich mit denen von Kot, verfaultem Obst und Urin.


Der Rojas-Pinilla-Platz und seine Umgebung ist der Ort, wo sich Flor, Marina, María-Isabel und die anderen meistens aufhalten, wo sie arbeiten und wohnen. Es scheint so, als drängten sich dort auf wenigen Quadratmetern die grundlegenden Probleme, Widersprüche und Konflikte zusammen, die die Menschen dieses Landes und seiner Städte bedrängen – Vertreibung und Flucht, Armut und Obdachlosigkeit, Kampf um Lebensraum, aggressive Auseinandersetzung zwischen Paramilitarismus und Guerilla, Drogenkonsum, Prostitution und Kriminalität. Neben den fliegenden Händlern, Arbeitern, Verkäufern der umliegenden Geschäfte, Prostituierten, Polizisten, Ordnungskräften und Müllsammlern trifft man hier obdachlose Straßenbewohner, ältere Frauen und Männer, viele Jugendliche, Jungen wie Mädchen, und Kinder, von denen die kleinsten acht, zehn und zwölf Jahre alt sind.


Die Mädchen bekleiden sich meist nur spärlich, selbst bei kühlem Regen. Mehrere von ihnen sind schwanger. Die Zwölf- und Dreizehnjährigen sehen aus wie Achtjährige, klein, unterernährt und retardiert. Ein etwa fünfzigjähriger Mann erzählt, dass er hier auf dem Platz aufgewachsen sei, als Waisenkind. Seine Eltern hat er nie kennengelernt. Irgendwann setzten sie ihn aus, und mitleidige Leute haben das Kleinkind aufgepäppelt. Fast alle, Erwachsene wie Kinder, schnüffeln Kleber, einige konsumieren Alkohol, Marihuana oder Basuco, ein Zwischenprodukt aus der Kokainherstellung. Sie schwanken beim Gehen, Stehen und Sitzen, sprechen lallend und erwachen nur gelegentlich zu vollem Bewusstsein aus dem Rausch.


Flor, Marina und María-Isabel sind Mädchen, die früh aus dem Schutz ihrer Familien herausgefallen sind, wahrscheinlich haben sie auch sonst in ihrem Leben wenig Wärme, Verständnis und Zuwendung erfahren. Wie die meisten Mädchen auf dem Platz haben sie der Missachtung und Ausbeutung zu Hause die Ungewissheit der Straße vorgezogen. Die Freiheit habe sie gelockt, sagen sie. Auf der Suche nach Freundschaft, Orientierung und Halt haben sie sich mit anderen zusammengetan, sie sind schwanger geworden. Selbst noch im Kindesalter, haben sie Kinder bekommen. Flor und Marina reihen sich in die Gruppe der »Kindermütter« ein, die die Region um den Rojas-Pinilla-Platz bevölkern – in wachsender Zahl.

Auch Luis, vor ein, zwei Jahren noch einer der kleinsten Straßenjungen in der Gegend, treibt sich auf der Plazoleta herum. Fast immer ist er mit seinem älteren Bruder Felipe zusammen. Früher präsentierten sie sich gerne in liebevoller Eintracht: Felipe, am Boden sitzend, hielt den Kleinen behutsam im Arm wie die heilige Jungfrau das göttliche Kind. Das rührte die Passanten und brachte den beiden so manche milde Gabe ein.


Heute ist Luis kein Kind mehr, er musste sich andere Geldquellen erschließen. An Größe hat er kaum zugelegt; aber seine Züge sind die eines jungen Mannes, der kräftig, flink und zupackend das Leben meistert und auszuteilen weiß, wenn es denn sein muss. Jetzt wirkt er meist abweisend und mürrisch, und er ist jederzeit bereit, Hiebe auszuteilen, wenn ihm einer ungelegen kommt. Mit Flor, Marina, María-Isabel und mit Xiomara ist er befreundet. Die Besitzerin eines der Stundenhotels in der Nähe des Platzes hat ihn als Wächter engagiert. Nun steht er Tag und Nacht hinter dem Eisengitter, das den Eingang versperrt, und lässt die Mädchen und ihre Freier ein und aus.


Ausgegrenzte Zonen, unsichtbare Grenzen

Zwischen der Plazoleta und der Metrostation El Prado ist eine der bekanntesten Zonen der Prostitution in der Stadt. Es gibt viele Bars. Im grellen Licht der Deckenleuchten und vom Höllenlärm der obertönigen Lautsprecher zugedröhnt, sitzen dort die Prostituierten, stützen die Arme schwer auf die Tische und blicken in Erwartung der Kundschaft mit trübem Blick auf den Platz hinaus. Kleine Mädchen wie Flor und Margaretha haben dort nichts zu suchen. Sie laufen durch die Straßen und warten, bis sie angesprochen werden. Meist kommen sie erst abends aus ihrem Unterschlupf, spätestens gegen 18 Uhr, wenn die Dämmerung unvermittelt hereinbricht. Unter der Hochbahn finden sie Schutz, wenn es regnet. Bis zum Platz vor dem Museum von Antioquia mit den Plastiken des weltberühmten Künstlers Jaime Botero, dicken Frauen, dicken Männern, dicken Tieren, die die spärlichen Touristen der Stadt entzücken, trauen sie sich nicht, weil sie wissen, dass der espacio público (Ordnungskräfte) sie vertreiben würde. In den Gassen zwischen der Metrostation und der riesigen Kathedrale stehen Prostituierte an ihren angestammten Plätzen. Dazwischen behaupten herausgeputzte Transvestiten ihr eigenes Quadrat, sie machen das beste Geschäft. An einer Ecke der Kathedrale lungern die Straßenjungen herum, die, wie Luis und Felipe, mit sexuellen Diensten ihren Lebensunterhalt durchaus zufriedenstellend bestreiten.


»Sol y luna«

Vor einigen Jahren regte die Verwaltung der Stadt Medellín (Secretaría General, Dependencia pública adscrita a la Alcaldía) ein Projekt mit dem Titel »Sol y Luna« (»Sonne und Mond«) an, dessen Ziel es war, die Schwangerschaften jugendlicher Mütter in der Stadt zu reduzieren (prevención del embarazo adolescente), und zwar innerhalb von zwei Jahren um 25 Prozent. Gleichzeitig sollten die Gesundheitsfürsorge und die Informationspolitik zum Thema Aids verbessert werden (promoción de conductas de autocuidado para el control del VIH SIDA en adolescentes).

Zur Zeit des Bürgermeisters Fajardo um das Jahr 2004 war die Sozialpolitik der Stadt außer auf die Problemlage früher Schwangerschaften auch auf Verbesserung in anderen Bereichen ausgerichtet, die junge Menschen auf der Straße betreffen: Drogenkonsum, Geschlechtskrankheiten, Schulverweigerung, typische Jugendkrankheiten wie Bulimie und Anorexie.

Um das Projektziel zu erreichen, wurde ein Netzwerk einschlägiger Institutionen ins Leben gerufen (Red de Prevención del Embarazo Adolescente), das Jugendlichen ein effektiveres Beratungsangebot (servicios de salud sexual y reproductiva) offerieren sollte. Die Liste der Beteiligungen zeigt, dass es in Medellín mehr als genug Einrichtungen gibt, die sich um schwangere Mädchen – auch unter denen, die der Prostitution nachgehen, sowie um Kindermütter auf der Straße – kümmern:

 Asociación Antioqueña para el Estudio y la Investigación de la Sexualidad (ASANSEX)

 Centro Pedagógico Integrado (C. E. P. I.)

 Centro Interdisciplinario de Estudios en Género

 Universidad de Antioquia

 Centro de Recursos Integrales para la Familia

 Universidad de Antioquia, Fundación para la Educación Especializada

 Fundación Universitaria Luis Amigó

 Instituto Colombiano de Bienestar Familiar

 Mujeres Unidas Zona NorOccidental

 Profamilia

 Red Colombiana de Mujeres por los Derechos Sexuales y Reproductivos.

Für das Projekt wurden viele Millionen Dollar investiert. Interessant sind die Daten, die von den Projektverantwortlichen zusammengetragen wurden:

 Im Jahr 2004 hatte die Stadt 2 071 500 Einwohner.

 Davon waren 17 Prozent, das heißt 353 000, Kinder und Jugendliche im Alter zwischen zehn und 19 Jahren.

 

 In Medellín waren 12,5 Prozent aller Mütter erst zwischen 15 und 19 Jahre alt, die meisten zwischen 15 und 24.

 Schwangerschaften Minderjähriger häufen sich in den Slums (insbesondere in den Comunas Aranjuez, Villa Hermosa, Popular usw.), die wenigsten gibt es in den wohlhabenden Vierteln (Laureles, El Poblado usw.).

 Die meisten minderjährigen Schwangeren sind arm und haben wenig schulische Bildung genossen.

 Meist gehen Jugendschwangerschaften mit folgenden Phänomenen einher: städtische und ländliche Marginalität, kriegsähnliche Konflikte auf dem Land, bewaffnete Auseinandersetzungen und Gewalt in den Städten, gewaltsame Vertreibungen, soziale Exklusion, Schulabbrüche, fehlender Zugang zum Gesundheitswesen, Arbeitslosigkeit, Kinder- und Jugendarbeit, Kinderprostitution, sexuelle Ausbeutung.

Was die Wirksamkeit des Projekts »Sol y luna« betrifft, so konnte es sein Ziel, die Anzahl der Minderjährigenschwangerschaften zu vermindern, nicht erreichen. Im Gegenteil: Von Jahr zu Jahr gibt es mehr schwangere Mädchen und Kindermütter in Medellín. Das Straßenbild im Umfeld des Rojas-Pinilla-Platzes unterstreicht diesen Befund. Einige Zahlen:

 Zwischen Januar und August 2004 bekamen in Medellín 4448 junge Mädchen Kinder. Das waren 22 Prozent aller Geburten.

 Im selben Zeitraum wurden in öffentlichen Einrichtungen 345 Abtreibungen registriert. Die Dunkelziffer lag gewiss viel höher.

 Von 2004 auf 2005 fiel die Anzahl der Schwangerschaften Jugendlicher im Alter zwischen zehn und 19 Jahren zwar von 7021 auf 5266. Aber dieser Trend hielt nicht an. Anschließend gab es wieder mehr Minder­jährigenschwangerschaften. Allein zwischen 2007 und 2008 kletterte die Zahl der jungen Mütter unter 19 Jahren erneut um fünf Prozent auf 8556.

Und die neuesten Zahlen? Im Jahr 2011 wurden über 19 000 Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren Mutter. In den ersten vier Monaten des Jahres 2012 wurden bereits 9365 Geburten in dieser Altersgruppe registriert. »Das Problem der Minderjährigenschwangerschaften hat sich in Kolumbien zu einem gravierenden sozialen Problem entwickelt«, schreibt die Tageszeitung El Espectador. Es betrifft 19 Prozent der unter 19-Jährigen, aber 35 Prozent der Mädchen in den ärmsten Wohngegenden (estrato 1 y 2) (vgl. http://www.elespectador.com/noticias/bogota/articulo-367968-9365-nacimientos-jovenes-entre-los-15-y-19-anos). Nach Angaben von Dane (Departamento Administrativo Nacional Estadistica) wurden in der Hauptstadt Bogotá im Jahr 2011 456 Geburten von Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren gezählt, im ersten Semester 2012 waren es bereits 250. Frühzeitige Schwangerschaften, so El Espectador, sind meist mit anderen Problemen verbunden – mit Misshandlung, sexuellem Missbrauch, Geschlechtskrankheiten, Abtreibung und Kindestod.

Eine konsequente Fortsetzung des Programms »Sol y luna« gibt es in Medellín nicht. Die Stadt hat sich das Vorhaben des Projekts nicht zu eigen gemacht und verfolgt die formulierten Ziele keineswegs mit Nachdruck. Die Mädchen, die zwischen El Prado und der Kathedrale der Prostitution nachgehen und schwanger werden, kennen weder ihre Rechte noch irgendwelche Institutionen, deren Aufgabe es ist, ihnen in ihrer Not zur Seite zu stehen. Die Mädchen finden den Weg dorthin nicht, und die Institutionen und Projekte denken offenbar nicht daran, sie dort aufzusuchen, wo sie sich aufhalten – auf der Straße.

Weitere Informationen über »Sol y luna«:

 http://www.medellin.gov.co/irj/portal/ciudadanos?NavigationTarget= navurl://8d3b03c0e1c61a17a4c49c6c6254e4cd

  http://www.medellin.gov.co/irj/go/km/docs/ wpccontent/Sites/Subportal%20del%20Ciudadano/Salud/Secciones/Plantillas%20Gen%C3%A9ricas/Documentos/2012/Revista%20Salud/Revista%20Vol.%205,%20suplemento%201/3.%20PROYECTO%20SOL%20Y%20LUNA.pdf

Die Gegend zwischen der Plazoleta Rojas Pinilla, El Prado und der großen Kirche ist ein quirliges Viertel. Unzählige gelbe Taxis, bunte Busse, klapprige Kleinlastwagen verstopfen die Straßen. Menschen hasten durch die engen Gassen, und auf der Avenida entlang der Metro stehen gegen Abend die fliegenden Händler mit Obst, Fisch, Fleisch und allen cachivaches (Kleinkram) der Welt dicht an dicht. Der Verkehrslärm bricht nie ab. Dieser Teil des Stadtzentrums scheint sich, äußerlich betrachtet, von den benachbarten Vierteln nicht zu unterscheiden. Und dennoch liegt zwischen der Plaza Botero und der Zone der Prostitution eine unsichtbare Grenze. Man sieht keinen Schlagbaum, keine Wächter, aber man fühlt den Übergang von einer in die andere Welt, von der Normalität in die Verwerflichkeit. Man spürt es auf der Haut.


Das Gebiet gilt als gefährlich, besonders nach Einbruch der Dunkelheit. Wer von der Metrostation zur Fußgängerzone, zur Plaza Cisneros oder zum Junín gehen muss, beschleunigt den Schritt. Die Menschen, die im Süden wohnen, in El Poblado mit den grünen Hängen, Parks und Schwimmbädern, werden – wenn irgend möglich – das Zentrum meiden. Hier schlendert man nicht, es locken keine Schaufenster mit Auslagen. Auf der Avenida rasen die Busse, als hätten sie es auf die Passanten abgesehen, die ängstlich versuchen, die Straßenseite zu wechseln.

Was die Gegend abstoßend macht, ist ihre Armut, das erbärmliche Aussehen der Menschen, die hier wohnen, ihre Verkommenheit. Auf den Bürgersteigen sammelt sich Schmutz, die Gebäude überbieten einander an Hässlichkeit. Der Gestank nach Urin und Menschenkot, aufgeweicht von tropischen Regengüssen, verschlägt einem den Atem.

Das wachsende Unbehagen beim Überqueren der unsichtbaren Grenze speist sich jedoch weniger aus der sichtbaren Realität als aus den Vorstellungen, die man sich davon macht, was hier vor sich gehen mag. Alle Stadtbewohner haben Geschichten parat von Diebstählen, gewaltsamen Überfällen und Morden in diesem Viertel, obgleich nur wenige etwas Derartiges persönlich erlebt haben. Phantasien steigern die reale Gefahr ins Unermessliche. Das ist wohl typisch für alle Gegenden der Welt, in denen die Gesellschaften ihre Prostituierten angesiedelt haben.

Prostitution, stigmatisierter Raum

Prostitution ist heikel. Umstritten kann man sie indes nicht nennen, denn es wird darüber ja nicht gesprochen. Jedes Kind in der Stadt weiß, dass man dorthin nicht geht, aber keiner fragt, warum nicht. Blicke ins unbekannte Terrain erlaubt man sich bestenfalls verstohlen und im Vorübergehen, aus dem Bus oder der Metro heraus, gesenkte Blicke. Jeder Anflug von Interesse wird durch Scham unterdrückt. Man meidet das Risiko, durch das, was man zu sehen bekommen könnte, angesteckt, infiziert, verunreinigt zu werden.


Die vermeintliche Kenntnis über das tatsächlich Unbekannte ist der sprachlosen Haltung abgerungen, die die Allgemeinheit diesem Thema gegenüber einnimmt. Ohne Worte zu machen, hat die Gesellschaft die ganze Zone zum Tabu erklärt. Die Angst vor dem Ort und das Unbehagen, darüber zu sprechen, lassen tatsächlich nur eine vage, pauschale Vorstellung zu, ein stigmatisiertes Wissen davon, wie es dort aussieht und was hinter den Fassaden der tristen Gebäude geschieht. Es ist das Verborgene, was die Phantasie reizt, die den Akteuren des verfemten Geschehens durch enge, dunkle Hausflure und über steile Treppen in hohe Stockwerke, Hinterhäuser und Holzverschläge folgt, wo das Unsagbare stattfindet. Das Unsichtbare und Geheime ist abstoßend, schmutzig, verwerflich und gerade deshalb aufreizend.

Es ist der greifbare Erfolg der Stigmatisierung, dass man von den Menschen, die ihr Leben in diesen Straßen und Häusern zubringen, nichts weiß und wohl auch in Zukunft nichts erfahren wird. Man kennt sie nicht, und man darf und will sie auch nicht kennenlernen. Wer hat jemals mit einer Prostituierten, mit einem Bordellbetreiber, mit dem Besitzer eines Stundenhotels über ihr Leben gesprochen, wer würde das tun wollen? Die unsichtbare Grenze überschreiten nur die Freier. Inkognito dringen sie in die fremde Gegend vor, sie schleichen gleichsam hinein und verlassen so bald wie möglich raschen Schrittes und mit eingezogenen Schultern das anrüchige Terrain. Dann sind ihre Gedanken über das Jenseits der Grenze mindestens so abschätzig wie die Vorstellungen jener, die höchstens in der Phantasie dort verkehren.

Die Straßen zwischen der Avenida Prado und der Kathedrale sind von allen Seiten offen und zugänglich. In Wirklichkeit jedoch hat sie die Öffentlichkeit längst ausgegrenzt und in sich abgeschlossen. Es ist ein emotional aufgeladener Raum, geschützt von einer aus Gefühlen der Angst, Scheu, Abscheu, Unsicherheit und Gefahr hochgezogenen Mauer. Als Bewohner eines fremden anormalen Landes sind die Menschen, die dort leben, stigmatisiert. So weit wie möglich werden sie Außenstehenden gegenüber verbergen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen.

Straßenverhältnisse

Die Mädchen, die hübsch sind und gepflegt aussehen, können von ihren Freiern mehr verlangen als andere. Luisa und Valentina gehören zu den besonders ansehnlichen Mädchen an der Avenida Prado. Sie sind immer sauber, haben rot geschminkte Lippen und gefärbte Augenlider. Man könnte daran zweifeln, dass sie richtige Straßenmädchen sind. Tagsüber halten sie sich mit den andern auf der Straße auf, scherzen viel, lachen, schnüffeln hin und wieder an Kleberflaschen und versorgen, wenn sie nicht gerade arbeiten, liebevoll ihre Kinder.

Valentina und Luisa sind Cousinen. Beide haben feste Partner. Sie wohnen im selben Hotel wie die anderen Straßenmädchen, haben aber auch die Möglichkeit, bei ihren Familien unterzukommen, die weit oben über Santo Domingo ihr Häuschen haben.

Luisas Tochter heißt Valeria und ist vier, Valentinas Tochter Lina ist sieben Jahre alt. Die beiden Kinder spielen auf dem Bürgersteig vor dem Hotel­eingang, auf der Straße und an der Metrostation. Meist sind sie mit Fernanda zusammen, die etwa so alt ist wie sie. Fernanda ist die Tochter von Luisas Mutter Katherine, die im selben Hotel wie ihre Tochter, ihre Enkelin und ihre Nichte wohnt, nur in einem anderen Zimmer.

Luisa hat ihren Vater nie kennengelernt. Sie sagt, ihre Mutter habe außer ihr und Fernanda zehn weitere Kinder, also mindestens zwölf, Fernanda ist das jüngste von ihnen. Für die Kinder hat das Gewerbe ihrer Mutter, Tante und Großmutter, in das sie nach und nach hineinwachsen, nichts Außer­gewöhnliches an sich.


Die Stigmatisierung des Raums und seiner Bewohner, der erwachsenen und der minderjährigen Prostituierten, ist der Grund für den unüberwindbaren Graben, der das Andere, Unordentliche und Verwerfliche von der eigenen Welt trennt – man weiß darüber tatsächlich so gut wie nichts und füllt das Vakuum mit Phantastischem auf. Der Frauen-, Kinder- und Transvestitenstrich im Zentrum Medellíns ist nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für das wissenschaftliche Interesse bis heute eine Grauzone geblieben, ein unbekanntes, fremdes Terrain. Wer die Nebel lichten, die Schleier beiseiteschieben wollte, weckte Erstaunen, machte sich selbst verdächtig. Prostitution ist in der Forschung ein anrüchiges Unter­suchungsgebiet. Kein junger Soziologe an einer der Universitäten der Stadt, der Karriere machen will, könnte es sich leisten, die Gegend zwischen El Prado und der Kathedrale als Forschungsgebiet zu wählen. Wer es dennoch wagte, würde wahrscheinlich im Handumdrehen auf akademische Hindernisse, administrative Widerstände und kollegiale Abwehr stoßen. Bei der vorbereitenden Datenanalyse könnte er auf nur wenige Texte und Außenbetrachtungen zurückgreifen. Da ethnographische Beobachtung Zugang und persönliche Anwesenheit im »Feld« voraussetzt, würde er sich selbst in Gefahr bringen.

 

Der Zugang zum Forschungsgebiet ist aber nicht nur durch gesellschaftliches Unverständnis und eigene Hemmnisse, sondern vor allem durch die Abwehr der Objekte der Beobachtung verstellt, zumindest erschwert. Die Personen und das Geschehen entziehen sich mit Bedacht. Der Wunsch, mit Betroffenen zu sprechen, stößt in der Regel und zumindest anfangs auf Skepsis. Wer auf Anonymität Wert legen muss, hat kein Interesse, sich zu offenbaren. Forschung aber ist ihrem Wesen nach Offenlegung. Sie muss in einem Feld, in dem Diskretion unabdingbar ist, auf entschiedenen Widerstand und an fast unüberwindbare Grenzen stoßen.

Das abgegrenzte Gebiet der Prostitution verbirgt, was zu wissen Voraussetzung wäre, um die betroffenen Menschen zu verstehen. Welches Schicksal hat sie in dieses Gewerbe, an diesen Ort und in dieses Leben verschlagen? Wie sieht ihr Alltag aus? Wie geht es ihnen? Wie steht es um ihre Gefühle angesichts der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Verfemung? Was bedeuten ihnen Sexualität und Liebe? Welche Beziehungen haben sie zu Familie, Freunden, Nachbarn und Klienten? Wie bewältigen sie ihren Alltag? Welches Leben führen sie außerhalb ihrer Arbeit? Wie ertragen sie ihre Existenz in gesellschaftlicher Ausgrenzung? Welches sind ihre Lebensperspektiven? Unbeantwortete Fragen.


Die Welt der Prostituierten gibt Einzelheiten über die dort lebenden Personen nur schwer preis. Selbst grundlegende Daten fehlen. Niemand kennt die Zahl der Frauen, der Minderjährigen, der Jungen in der Prostitution an der Avenida El ­Prado, geschweige denn in der ganzen Stadt. Nicht die Zahl der Freier, die hier bedient werden, nicht einmal die Anzahl der zur Verfügung stehenden Stundenhotels ist bekannt.