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Hartmut Zwahr

Leipzig · Studentenroman

Hartmut Zwahr

LEIPZIG

Studentenroman

Sax-Verlag

Alle Ähnlichkeiten in Ort und Zeit,

auch Namensgleichheit mit Lebenden und Toten sind zufällig

und dem Umstand geschuldet, dass Figuren und Strukturen

unter bestimmten Bedingungen einander entsprechen.

Umschlagbild:

Das am Augustusplatz durch Arwed Rossbach 1894 – 1897 umgebaute Augusteum, nach Bombardierung (Dezember 1943) und Enttrümmerung (1943 – 1953) teilweise wieder in Betrieb. Vom 5. Mai 1953 bis Februar 1991 Karl-Marx-Universität Leipzig. Im Bild neben dem Alten Augusteum die fast unversehrte Paulinerkirche, beide Gebäude am 30. Mai 1968 aus politischer Willkür gesprengt. Ansicht vor Mai 1968.

Fotografie: Gudrun Vogel, Leipzig

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86729-230-6

E-Book ISBN 978-3-86729-568-0 (epub)

E-Book ISBN 978-3-86729-569-7 (pdf)

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© Sax-Verlag, Beucha · Markkleeberg, 2019

Layout und Umschlaggestaltung: Sax-Verlag

www.sax-verlag.de

Weh denen, die Böses gut und Gutes böse heißen,

Die aus Finsternis Licht, und aus Licht Finsternis machen,

Die aus sauer süß, und aus süß sauer machen.

Jesaia 5.20.

(notiert in Leipzig am 9.10.1953)

ERSTER TEIL

IM JUNI KAMEN DIE PANZER

DAS ERSCHRECKEN BLEIBT

1

Wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister

Die Haltestelle der Straßenbahn im Rücken lief Johannes den Gitterzaun entlang, der die Villa und den Park umschloss. Flieder duftete. An der Tischtennishalle begegnete er dem Hausmeister. Die wollten dich wohl nicht?

Sie redeten über den Lehrlingskurs. Du hast gefragt, wie das war, wie der reinkam in heller Uniform, der Ami, ich dachte, der schießt, sagte der Hausmeister.

Na, geh erst mal zu ihr hoch.

Auf die Tür geklebt: Trautmann. Kommen Sie rein. Auf dem Schreibtisch ein Tresor, auf dem die Brotbüchse. Sie sind die Nachbewilligung? Im Fragebogen klebte sein Passbild. Sie lachte. Sind wir die Pionierorganisation? Sie bekommen Grundstipendium. Lohnbescheinigung genügt. Lützner 75. Kenne ich, die Eltern hatten einen Laden in Lindenau.

Fünfundzwanzig fürs Zimmer? Ist in Ordnung.

Johannes fragte nach der Lebensmittelkarte, sie, ob er Radio hätte. Zuerst kommt die Moral. Karte C. Vorzugsversorgung. Mittagessen ohne Fleisch, leider, wegen der Nachmeldung.

Sie zahlte das Stipendium aus.

Seine Wachstuchbrieftasche klebte zusammen. Bei meinem Jungen auch. Spielen Sie Pingpong? Überwiesen wird zum Sechzehnten. Am besten, Sie nehmen die Sparkasse. Beim ersten Schmetterball zuckte sie zusammen. Sie stempelte den Fahrantrag. Wie ich das Ballgeklapper liebe! Zuerst in die Meldestelle. Von der Polizei zur Kartenstelle gehn, nicht umgekehrt.

Die Straßenbahn fuhr an. An der Schule Gertraude Schubert, Strickjacke, Kleid.

Die Innocentia liegt mir! Am Tischtennis eine lange Blonde. »Ich werde seine Frau oder gehe ins Wasser!« Sie lachten über eine Pointe, die er nicht verstand. Die Abiturklasse spielte Theater.

Warum kommst du erst jetzt? Sie standen in der Diele. Der schwere Leuchter ohne Licht. Mit dem Renovieren hatten sie angefangen, als die Russen die Villa freigaben. Im Klubraum steckten in einem Gummibaumkübel die Papierfähnchen vom Achten Mai. Jemand rief: Die erste fällt aus.

Wieder Möhren! Gewöhnst dich dran. Reiche Leute, müssen das gewesen sein, denen die Villa gehört hat, sagte Gertraude.

Von der Galerie hingen die rote Fahne und die blaue des Jugendverbandes.

Ein Dicker reckte den Kopf, hatte eine Kommandeurstasche umhängen, mit Schlaufen für Schreibzeug. Hieß Pockrandt. Ich brenne für die Literatur! Mir musst du das nicht sagen! Der antwortete, Rudi Gernitz, hatte die schwarzen Haare zur Bürste geschnitten.

Berliner, Pockrandt auch, sagte Gertraude. Sie mochte sie nicht, zog die Ringelsöckchen hoch. Böckler ist der mit dem Bein einknickt. Die Drei verschwanden im Treppenaufgang.

Jemand hielt ihm die Augen zu. Wer bin ich? Ein Hauch Parfüm. Irina. Du bist gesehn worden. Vieldeutig mit Augenaufschlag sagte sie das: Wo, wird nicht verraten.

Willkommen im Vorkurs. Bei den Werktätigen. Die Wimpern getuscht, sah sie ihn an. Die meisten, die da sind, kennst du, der Rest sind andere. Brigitta macht die FDJ, Regina ist oben. Die hatte ihn beim Abschiedsabend abgeklatscht, damals, in der Eingangshalle. Musst auf die Musik hören, hatte sie gesagt, Tanzen geht von alleine. Irina, in einer Bluse mit großen Blumen. Weil ihr Gestricktes nicht steht, du Dummer, hatte sie gesagt.

Haben sie dir Schwierigkeiten gemacht? Mir kannst du’s sagen.

Abgelehnt.

Hast du eine Vermutung?

Mein Vater ist Angestellter.

Die Unsichtbaren durchforschen die Fragebögen, sagte sie, das wird’s kaum sein.

Er stolperte ins Klassenzimmer, in den Dachraum. Den Balken hatten die Bauleute stehen lassen. Die schrägen Wände kannte er, das Kabuff dahinter auch.

Gernitz ist der mit den schwarzen Haaren, wenn er nicht an seiner Zigarette zieht, redet er.

Irina stellte Johannes vor. Willkommen bei der Arbeiterklasse, du Nachbewilligter, sagte Gernitz. Genosse bist du nicht. Eine Willensmaschine, das war ihm anzusehen. Wusste er was? Die Pelikan hat Vertretung, rief jemand. Klaus Grimm zeigte auf einen Stuhl. Für dich. Sie kannten sich aus dem Lehrlingskurs. Mich haben sie zum Sportverantwortlichen gemacht. Einen Posten hat fast jeder.

Außer mir, sagte Irina.

Brigitta Richter stieg über die Schwelle. Die Pelikan vertritt Heise. Kann einem leidtun mit seinen Prothesen. Den hatten die Engländer abgeschossen. Die Klasse nahm Platz. Der neben ihm nuschelte was, streckte die Hand hin. Er entdeckte in der ersten Reihe Regina, dachte an Ruth. Von ihr hatte er sich nicht verabschiedet. Wie auch? Die Mutter war am Telefon gewesen, er hatte aufgelegt. Auf der Fahrt war er das dumme Gefühl wegen Ruth nicht losgeworden. Im Zug hatte er stehen müssen in so einem Verbindungsstück zwischen den Waggons.

Einer im dunklen Jackett lachte ihn an.

Sie sind neu, hatte ihn Frau Pelikan begrüßt. Als es Pause klingelte, hüpfte sein Nachbar hoch und hielt sich mit einer Hand aufstützend an der Tischplatte fest. Ich bin der Wolfgang Böckler, ein Arm hing herunter.

Die zweite Stunde war Geschichte. Der im Jackett kam dran, kaum war der Dozent, Herr Arnold, hereingekommen. Wo sind wir stehn geblieben? Das möchte ich von Herrn Eichler wissen. Es gehörte zu ihrem Spiel, was Johannes nicht wissen konnte. Dass sie Barbara hieß, auch nicht. Dieser Dozent und Friedhelm Eichler standen wegen ihrer Liebesgeschichte in einem gewissen Verhältnis.

Barbara gehörte in die bibliothekarische Vollausbildung, sang im Schulchor, war Abiturklasse, Friedhelm dagegen war Vorkurs, Werktätigenklasse. Arnold, semmelblonder Mann mit lichtem Haar, der zwei Kinder hatte und verheiratet war, hatte sie Friedhelm ausgespannt. War auf einem Schnellboot gefahren, Maat, aus amerikanischer Gefangenschaft als Student nach Leipzig gekommen, inzwischen Lehrkraft. Mit dem Pagenkopf die hatte Friedhelm noch im Kopf, im Blut, sonstwo, und kam er früh manchmal an, grau im Gesicht, die Hosen zerknautscht, Zigarette im Mundwinkel und sah dann, wie Arnold die römische Kaiserzeit durcheilte und wieder mal fragte, wo sind wir stehen geblieben, schluckte er.

Ich war ihr zu unsicher, Hannes, sagte Friedhelm, da kannten sie sich schon besser. Bis ich verdiene, vergehn drei Jahre; die sucht was Festes, er kann es außerdem unheimlich lange anhalten, und Johannes, der nicht begriff, was gemeint war, half er aus: Bis er kommt, ich meine, explodiert.

Friedhelm nannte sie Barbara, zärtlich Bärbel: Die genießt das. Den Anfang erzähl ich, weil du nicht quatschst: Die Wirtin, bei der sie wohnte, hatte immer mal Männerbesuch. Im Schaukelstuhl, in dem jetzt Arnold sitzt, hab ich gesessen, und wie die Bärbel aus der Küche kommt und mich sieht, ohne alles, zieht sie sich, wie in Zeitlupe, aus. Der Stuhl knarrte beim Schaukeln, bis nichts mehr zu hören war. Jetzt kniet der Arnold zwischen ihren Beinen.

In der Pause rauchte sich Friedhelm eine an, als er das erzählte. Mit dem Qualmen fang besser nicht erst an. Ich komm zurecht, solange das Stipendium reicht – fürs Essengeld, die Straßenbahn, Hefte, Briefmarken, Miete, Zigaretten. Übermorgen bin ich blank. Mit Klimpern komm ich über die Runden. Die Bärbel hatte er damit eingefangen. Wenn er im Klubraum spielte, lehnten die andern am Flügel oder hatten zum Sitzen was mitgebracht. Spiel was. Für Böckler wars Klimpern. Wat denn? Na, das, und Böckler klopfte mit seiner gesunden Hand den Takt. »Du, du, du, lass mein kleines Herz in Ruh.« Warum nicht gleich so, Pomuchelskopp?

2

Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür

Friedhelm liebte summer time über alles, und manchmal spielte er es nur für sich. Den Tobs-Pucki raste er herunter, Die Zwölfte Straße. Die lange Blonde, die in der Schule Theater spielte, hat gesungen. Manchmal kam das Mädchen aus der Sprechstunde. Mit der bin ich das erst Mal raus, das war hinten im Park, wir wollten beide. Du warst noch nicht reingeschneit in die Klasse. Manche guckten natürlich. Dass ich nicht der Mann fürs Leben bin, wissen die, bloß die große Liebe, die hat Arnold mir ausgespannt.

 

Die Barbara, wenns drauf ankommt, denke ich, lässt er Frau und Kinder sausen. Der kanns ungeheuer rauszögern, der Arnold, mit Kognak, auf Matrosenart, sie lässt sich schaukeln, wippt wie ein Engel auf der Himmelsschaukel. Ich bin eifersüchtig, gebs zu.

Er fingerte eine Zigarette aus der Packung. Über ihnen rauschte der Wind durchs Leutzscher Holz, als er das erzählte. Ich wette, Arnold ist auch eifersüchtig, der weiß, wen ich in den Händen hatte. Wenn Arnold in der Partei wäre, der SED, hätte die Familie vielleicht eine Chance, wenns diese Distanzierung aus Parteigewissen überhaupt gibt. Wenns im Blut rauscht, hilft am Ende auch die Partei nicht mehr. Er kniff die Augen zusammen: Ja, da muß man sich doch einfach hinlegen. Wenn er das zu später Stunde sang, lag er fast auf den Tasten, und manchmal sagte er, wenn sie nicht wussten, wie weiter: Das wird uns jetzt der Herr Eichler sagen. Damit brachte er jeden zum Lachen.

Das Abzeichen, von dem so viel Macht ausgeht, hab ich mir bei Rudi, wenn der die Zigarette hinhält zum Anrauchen, genauer beguckt. Die älter sind, reden nicht mehr drüber, dass sie Pimpfe waren. Ich war einer, du nicht, du warst zu jung dafür. Döring Walter, der von Halle zur Büchereischule gekommen ist, Chemiearbeiter, war Pimpf. War vom Alter her sicher auch HJ. Bloß Rudi will nicht drin gewesen sein, was ich ihm nicht glaube. Ich merks, wenn er sagt, der ist eine große Nummer. In der HJ waren die allermeisten. Anschließend gings zum Arbeitsdienst, danach zur Truppe. Wenn Rudi sagt, Brigitta wird das schon schaukeln, redet er so, die Sprache, die ich meine, oder wenn Müller, der Sport gibt, den Haufen rumgescheucht hat. So was hörst du bei Rudi ständig. In der Domholzschänke, als wir auf Wanderung waren, sagte er zu mir: Bist ohne Marschverpflegung, sieht dir ähnlich, musst den Affen eben ordentlich packen, nicht bloß den Kamm einstecken. Du weißt, was der Affe ist? Der Tornister.

Böckler hat das Pimpfalter auch, der könnte bloß nicht in Marsch gesetzt werden, das Hinkebein, kein Bett bauen, keine Kochstelle anlegen, nicht Wolf sein. Bei der Wolfsjagd waren drei die Wölfe, drei die Jäger. Oder Spähtrupp gehn. Ist ihm erspart geblieben, dem Böckler. Mit Halstüchern und Schulterriemen die Erwischten an Bäume fesseln. Allenfalls Zapfen sammeln hätte er gekonnt mit seiner Hand. Zum Faschinieren, Schanzen, Schippen taugt er nicht. Kann kein Schanzer sein, kein Schipper. Mich haben sie mal geknebelt, scheußlich, Luftspäher war ich, das hätte der Wolfgang mit seinem lahmen Arm machen können, ’ne »Rundschau« halten, was »Zeitungsschau« war, »Lagerwart« sein, einen »Bunten Abend« ausrichten. Sagt dir was? Natürlich sagt uns das was. Alles da, plötzlich, wieder da, ohne Jungenschaftsbluse, Hose, den Mantel. Jungvolkjungen sind hart, schweigsam, treu. Du wärst richtig gewesen, Hannes, verschwiegen wie du bist. Bin ich in Fahrt. Heilig Vaterland!

Dass sich Böckler an die Partei hängt, wer will ihm das verdenken? Ich machte das vielleicht auch in seiner Lage. Die Partei fängt ihn auf. Friedhelm drückte die Zigarettenkippe aus. Eine hab ich noch. Mit der Partei kommt er überall durch, das weiß der Wolfgang. Ich stelle in Rechnung, dass er’s weiß. Hoffentlich weiß es die Partei auch, dass sie so viel Schwachheit anführt. Ist acht Jahre her, dass sich der Mordsqualm verzogen hat, sich die Führernachwuchslager auflösten, die Morgenfeier nach dem Stubendurchgang aufhörte, dass Schluss war mit Schichtunterricht.

Jungen, die übrig blieben. Kennst du? Ich hätte der allerletzte sein können, dens erwischt. Er zeigte über den Gitterzaun, der den Park einfasste. Nichts zu sehn außer dicken Eichen, dahinter der Auwald, in dem diese Ungetüme stehn. Brigitta hat vorgeschlagen, dass wir ihn einladen, den jungen Schriftsteller. Mutti kennt ihn, sagt sie, und seitdem heißen wir so, Loest.

Warst nicht dabei, als die Klasse das festgelegt hat, die FDJ. Hand gehoben, fertig. Ist russisch. Das Kollektiv muss einen Namen haben. Ich geh erst mal schiffen.

Das Buch hab ich verschlungen, sagte Johannes, wenn in der Ausleihe Flaute war. Beim Bücherranholen war zum Lesen Zeit. Friedhelm fingerte die letzte Zigarette aus der Packung, rauchte, sagte dann ohne Überleitung: Wenn ich du wäre, ich würde Regina nehmen, solange sie noch zu haben ist. Die gefällt dir doch? Hast du’s schon mal gemacht mit einer? Am besten, er drückte die Kippe aus, wenn du meine Meinung hören willst, ist eine, die ihn dir reinsteckt.

An der Schule lief ihm Irina in die Arme. Warst sicher mit Friedhelm unterwegs. Lass dich bloß nicht verführen.

Sie saßen im Klubraum, bis der sich leerte. Er bewunderte den Auwald, und sie kam auf die Auwald-Wanderung zu sprechen. Warst nicht mit, leider. Ich weiß, du musst nachholen. Ich erzähls, damit du weißt, wie der Hase läuft. Inzwischen hat sich alles einsortiert. Hast was verpasst. Ein Sonnentag war das, ich dachte, Waltraud fliegt auf den Harry Matter, als wir durch die Schonung japsten. Plötzlich hörtest du sie nicht mehr. Brigitta und Rudi waren auch nicht aufzufinden. Klaus eifersüchtig auf Gitti. Die hat sich Pockrandt, denkt er, inzwischen untertan gemacht. Sie redete schnell, spitz, ohne Pause. Ich bemerkte nicht, dass Brigitta mit Rudi im Kraute lag, so hoch stand das Gras, wenige Schritte vom Rastplatz. Walter erwähnte sie nicht. Walter fuhr übers Wochenende zu seiner Frau. Böckler lag am Wiesenrand, pennte. Ich war allein mit Pockrandt, wartete auf sportliche Höchstleistungen. Radschlagen hat allerdings nicht stattgefunden, dafür Mittagsschlaf. Die Sonne spendete uns sieben Hanseln Wärme, es knackte im Gehölz. Ein Wildschwein, rief Waltraud. Ein Hund, korrigierte Harry. Die Waltraud ist in Ordnung. Sie sucht einen Mann, bloß nicht den, zwischen denen hats nicht gefunkt.

Das war spät abends, als Johannes nicht einschlafen konnte. Ihm fiel ein, wie Irina redete.

Die Genossen führte Rudi an, ein begnadeter Agitator, mit einer zum Daumen hin kippenden Schrift.

Manchmal sah Irina ihn aus ihren Mandelaugen an, wie gestern, als sie sagte: Wie komme ich dazu, mit Leuten, die ich nicht leiden kann, ins Kino zu gehen oder ins Theater, nur weil sich die Klasse, das Kollektiv, verpflichtet hat? Bin dann gegangen, um meine Ruhe zu haben. Dieser Dresdner Schnappe war Rudi Gernitz nicht gewachsen, auch Pockrandt nicht, bei dem die Lippen, wenn er Papier beschrieb, mitschrieben. Anfangs bestimmte er über die Wandzeitung. Du, Hannes, legte er fest, schreibst über den »Waffenstillstand in Korea. Die Welt atmet auf. Einigung über alle Punkte des Waffenstillstandes in Korea.« Schreibgier zeichnete Pockrandt aus.

Wenn Johannes an diesen Menschen dachte, war es, als hätte der heiße Juni, der auf sie zukam, schon angefangen, ein Juni, in dem sie sich an den Augen erkennen werden, am Widerwort, dem Schweigen.

Alles Mögliche war ihm durch den Kopf gegangen. Im Traum hatte er mit Irina den Park umrundet. Am Schießstand der GST waren sie stehn geblieben. Noch nie in meinem Leben habe ich geschossen, du, als Mann, bestimmt. Ich auch nicht, was sie wunderte. Bloß einen Dolch haben sie mir geschenkt, den ein Junge anbrachte, aber das sagte er nicht. Das musste Irina nicht wissen, wie das war, als die Jungs aus dem Sägewerk, die Rüger kommandierte, den Bahndamm stürmten.

Pockrandt, sagte Irina, das ist ein Gedankensprung von mir, hab ich auf der Wanderung erkannt, keine Kraft, der spritzt mit dem Füller. Nichts Doppeldeutiges war in ihren Mandelaugen, als sie das sagte. Gernitz lästerte, Pockrandt solle nicht so faul sein, bist schon schlapp, ehe der Wald anfängt, aus dir wird nie ein Sportler. Pockrandt, schweißüberrieselt, wehrte sich. Klaus ist ein Schreibekünstler, was Brigitta imponiert. Sie denkt vielleicht, als Gruppensekretär hat sie die Partei hinter sich und wird in Ruhe gelassen.

Die Sprungfedermatratze knarrte. Kein Laut war von der Lützner Straße zu hören. Wird kalt werden, wenn der Winter kommt. Das Zimmer lag überm Durchgang zum Innenhof.

Reden können die, sagt Irina. Rudi redet dich besoffen. Wie er von Italien erzählte, von den Kämpfen dort, schlief ich ein. Regina hat zugehört. »Und da kracht aus dem Dunkel eine Eisenstange in die Wand, die Kanone. Nie wieder!« So redete der. Wie ich mir erleichtert die Augen reibe, ich unter meiner Decke, zündet sich Rudi eine Zigarette an.

Die qualmten was zusammen in der schönen Natur, Friedhelm mit, der am Mönch Hugo, das waren solche Geschichten, strickte. Dem Friedhelm fällt dazu immer Neues ein. Zum Beispiel. »Junge, werde Bergmann, die Kohle ist das Brot der Industrie, sagt Petrus zu Hugo, der will aber nicht zur »Wismut«, sondern Bibliothekar werden. Weise dich aus, sagt Petrus, und wie Hugo vom Vorbereitungslehrgang das Zwischenzeugnis vorzeigt, das wir noch gar nicht haben, sagt Petrus, nein, das genügt nicht.« Hat der eine Phantasie, der Friedhelm. Fressen dich auf, die Biester, ruft er dazwischen und springt auf, vertreibt die Mücken mit Rauchen.

Im Waldgasthaus hat er sich ans Klavier gesetzt. Lady Be Good. Oh, himmlisch! Anfangs wollte die Wirtin nicht, danach stellte sie ihm sogar ein Bier hin. Hast wirklich was verpasst, du unbeschriebnes Blatt, ich habe mir ein Bild gemacht über jeden, der mit war, von dir konnte ich mir leider keins machen.

3

Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten? Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.Wenn es die Ausnahme nicht gibt, ist die Regel falsch

Johannes und Böckler hatten ihren Platz im Seitengiebel vom Dachraum, ein bisschen versteckt. Wenn Gernitz zu spät kam, fast regelmäßig, was ihn nicht störte, sah er sie von der Seite. Hochkonzentriert zählte er Gründe für sein Zuspätkommen auf, benannte Hindernisse, Unvorhersehbares, strich übers schwarze Haar und nahm dann Platz. Über Eck Walter, neben ihm Harry Matter und so weiter.

In der Schule stellten die Mädchen die Mehrheit. Langweilige Stunden gabs auch. Wenn die Wolken trieben, der Wind die Äste zum Dachfenster herüberbog und die an der Villa kratzten, die keine mehr war, hingen sie ihren Gedanken nach. Solche Unterrichtsstunden hatten das Gesicht wie Herr Boden oder Frau Pelikan. Manche Stunden bestanden nur aus Stoff, mit Deutsch, Chemie, Physik, Mathematik, Biologie, Gesellschaftskunde, Methoden des Lernens, einmal die Woche sechs Stunden.

Die Bücherei hatte geschrieben. Wenn du Lust hast, könntest du auf dem Dorf Büchereileiter werden, schrieben sie. »Wollen in Deiner Klasse alle im Büchereifach bleiben? Daß wir im Wettbewerb stehen, kannst Du nicht wissen. Bei uns ist morgen FDJ-Überprüfung, der feierliche Dokumentenumtausch, da sind alle Jugendlichen eingespannt, kannst Dir denken, wie es bei uns zugeht. Die ersten Leser strömen in die Ausleihe. Du fehlst eben an allen Ecken und Kanten.«

In die Bücherei zurück wollte er nicht. Was ich verpasst habe, schreibe ich nach, berichtete er Ruth.

Über die Philipp-Müller-Gedenkfeier schrieb er: »Alle hauen tüchtig auf die Pauke. In meiner Klasse guckten sie, als hätten sie Fischgräten verschluckt.« Johannes strich den Namen. Ruth fragte zurück: Was für eine Gedenkfeier? In Trauerbalken der Erschossene. Habt Ihr zu Hause keine Zeitung? fragte er Ruth.

Vater mahnte: »Daß Du zum Monatsende die Lebensmittelkarten nicht verfallen läßt, hole, was Du zu bekommen hast. Fett!!« Max Schneiders Zettel lag bei. »Schmierpapier kaufe Dir ja keins, das hebe ich auf, denn das wär ja Wasser in die Pleiße getragen. Ich hoffe, daß wir uns hier mal paar vergnügte Stunden machen können. Dein Arbeitskamerad Max Schneider.«

Mutter mahnend: »Laß es nicht am Essen fehlen, ist falsche Sparsamkeit, es gibt auch Buttermilch auf die Karte. Laß keine Marke verfallen. Kann Deine Wirtin nicht mal was Grünes zubereiten? Denk dran, den Tee kochen, Salbeitee ist überall zu haben. Nimm viel Zucker. Sollst viel an die Luft gehen.« Vater fragte: »Bekommst Du die bessere Lebensmittelkarte oder nur die Grundkarte? Hier las ich, die Fischkarte a.) und Fischkarte b.) verfällt am 5. Juni. Achte drauf, daß Du nichts einbüßt. Die Milchkarte muß in einem Milchgeschäft angemeldet werden. Vielleicht die Milch dort gleich trinken.«

»Meine Wirtsleute sind in Ordnung«, schrieb er zurück, »mit der Verpflegung komme ich aus. Wenn Ihr wollt, schickt Gemüse und die Trainingshose. Stipendium gibt es am Sechzehnten. Ob ich Pfingsten kommen kann, weiß ich noch nicht. Verschiedenes wäre zu besprechen, mir fehlt die Zeit. Natürlich gehe ich an die Luft.«

 

Die Eltern warteten auf Post, nicht nur auf die schmutzige Wäsche. Vater warnte vor Überanstrengung, kannte jemand, der Straßengräben ausräumte und lateinische Wörter schrie. Diese Zeit war untergegangen, eine neue hatte begonnen, Zukunft, die noch nicht angefangen hatte, als er am Elsterflutbecken wartete und Möwen über flaches träges Wasser segelten. Regina suchte den Mann zum Heiraten und Kinderkriegen, wie sich herausstellte, und fand ihn. Die ist ein tiefes Wasser, Hannes, meinte Friedhelm, ich wäre ihr zu unsolide. Beim Ausflug zur Domholzschänke hatte sie den hell­blauen Pullover an. Die sucht was Festes, die solltest du dir nehmen. Küsse, später am Flutbecken, waren alles. Sie sagte nicht, ich liebe dich, höchstens, ich denke, dass du nicht plauderst.

Friedhelm hatte schmale Lippen, der Mund war bissel breit geraten, hatte das Haar angefettet, damit die Locken anliegen, die Hosen waren durchgesessen, das Jackett ramponiert. Du flunkerst, Friedhelm, sagte Regina mal, als sie am Flügel stand, dir glaub ich nur die Hälfte. Die reicht mir, sagte er und zog mit dem Daumen einen Strich über die Tasten. Dein Pullover gefällt mir, sagte er, um sie zu ärgern.

Johannes hatte Versäumtes aufgeholt, und Böckler fragte: Bist kein Genosse, hätt ja sein können. Willst eintreten?

Bei Wolfgang Böckler hatte die Zangengeburt einen Sprachfehler zurückgelassen, er kam damit zurecht, nuschelte zwar, aber im Unterricht war es manchmal einfacher, beim Nuscheln eine halb­richtige noch brauchbare Antwort zu geben. Im Stillen nannte Friedhelm den Böckler Pomuchelskopp, weil der bei Fritz Reuter vorkam. Böckler werde ich nicht vergessen, dachte Johannes, ausgeschlossen.

Vater suchte manchmal verzweifelt nach Namen, weil er dachte, er könnte wegen Altersschwachheit Namen vergessen haben, wie den Namen des Kameraden, mit dem er in Gefangenschaft auf einundderselben Pritsche gelegen hatte und der so fürchterlich schnarchte. Beim Hauptmann Ostermann passiert mir das Namensvergessen nicht, niemals, unmöglich, was der Ostermann mich gepeinigt hat, erzähl ich dir mal später, für den Fall, dass du die Geschichte brauchst, wenn du drüber schreiben willst. Der Ostermann war in Schriftsachen vollkommen hilflos, zum Glück, die hätten mich vielleicht sonst an die Front geschickt.

Im Kabuff hatte Rudi Gernitz von einem Schriftsteller erzählt, den er glühend bewunderte, und jetzt ging es ihm genauso, er vergaß den Namen, und fragen wollte Johannes nicht, die Unterrichtsstunde schleppte sich hin, bis ihm der Name einfiel, Curzio Malaparte, vielleicht war der auch Panzerfahrer gewesen. Langweilige Stunden vergingen so.

Beim Skaten nuschelte Wolfgang nicht. »Denn man tau!« Mit links hob er ab. Die rechte Hand fürs Kartenhalten legte er als Hilfe auf den Tisch. Dass seine Knöchel das aushielten, wenn er auftrumpfte? Friedhelm am Bierdeckel strich an. Am Flügel mussten sie ohne ihn auskommen, die Zigarette im Mundwinkel, Ascher in Reichweite, in dem fand sich die verlorene Zeit auch. Die Schultern eingesunken, Kragen offen, selbstvergessen saß er so im Klub­raum, spielte, fand immer eine, die mitging.

Zerknautscht kam er früh an. Natürlich bemerkten die Mädchen das. Er wehrte sich. Dein Seidentuch, Irina! Wo denn? Da war was am Hals, den sie kunstvoll umschlungen hatte. Am liebsten hätte sie die Zunge gezeigt. Die Woche über gehört Walter ihr. War deiner, Walter? Was? Der Fleck? Verschämt hat er gelacht, als Friedhelm das sagte. Die machen es ganz heimlich, behauptete er.

Die Sorte Männer mag ich nicht, sagte Regina über ihn. Manches übersah sie. Ausgetretene Halbschuhe hatten alle, Friedhelm schiefe Absätze. Dem Unterricht folgte er mühelos. Vater Offizier, gefallen, Mutter jetzt Arbeiterin, seit dem Krieg geschieden.

Die Oberschule hatte Friedhelm abgebrochen. Über Gründe redete er nicht. In einer Stadtbücherei hinter Torgau auf der anderen Seite der Elbe, in dieser Kieferngegend dort, hatten ihn die Kollegen zum Vorbereitungslehrgang delegiert. Bei mir kams vermutlich auf die Mutter an, sagte er. Bist vielleicht auch so ein Arbeiterkind, Hannes? – Mein Vater ist Angestellter. Aus dem Steuerbeamten war in der Genossenschaft des Bäcker-, Müller- und Konditorenhandwerks inzwischen ein Buchhalter geworden.

Waren die meisten in der Werktätigenklasse unecht? Katzengold? Wie Siegfried, Siggi? Der Unternehmersohn schleppte die Büchertasche als Arbeiterkind zur Oberschule. Böckler ist Arbeiterkind. Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.

Mittagspause. Wolfgang hüpfte die Treppenstufen zur Terrasse herunter. Im Sonnenschein die Unternehmervilla, die das nicht mehr war. Wat seggt denn min Meckelnbörger? meinte Friedhelm. Der dritte Mann fehlte. Klimperst? Wenn du borgst? Pimperst, reimte Friedhelm. Wolfgang strahlte. Denn man tau.

Den Rasen schnitt der Hausmeister, der erzählt hatte, wie das war mit den Käppis und den Mützen, als die Russen ankamen. Die Offiziere hatten runde Mützen auf und dem Hausmeister Papyrossi angeboten.

Wenn Wolfgang auf der Siegerstraße marschierte, war das zu hören. Immer. Denn helpt dat nich und zog ihnen die Hosen runter, spielte sie blank. Beim Mitschreiben verließ er sich auf Johannes.

Das Sortieren im Kopf war das Schwierige, im Unterricht die Hauptpunkte erfassen, Mitdenken, Leerlauf unbeachtet lassen, über Phrasen drüberspringen, entwässern, kondensieren, Übertreibungen ausscheiden, den Superlativ streichen, nicht im Redebrei versinken, die Phrasen aber auch nicht ganz vergessen. Man musste sie parat haben, wenn sie gebraucht wurden. Friedhelm sprach vom Aufschwemmen, Aufblasen.

Frau Dr. Darge vermied das. Sie fing den Unterricht mit einer These an, womit sie die Richtung angab, oder stellte eine Frage. Deutsche Literatur und Weltliteratur gabs, viel Goethezeit, etwas davor, die Zeit danach und die jüngste Zeit. Johannes hatte Arnold Zweigs Junge Frau von 1914 regelrecht verschlungen, Erziehung vor Verdun, Döblins Alexanderplatz. Was solche Schriftsteller zustande brachten, bewunderte er. Literatur kann das, Sprache, wenn sie eindringt. Es muss weh tun, sagte Friedhelm.

Was die Struktur war, was Frau Dr. Darge als das Skelett bezeichnete, erklärte sie. Ging die Stunde zu Ende, fasste sie zusammen. Sie warf dem Nachbewilligten hin und wieder einen winzigen Blick zu, als freue sie sich, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.

Als die ersten Schultage angefangen hatten, schwirrte ihm noch der Kopf. Das legte sich. Fremdwörter schrieb er auf, schlug nach, büffelte Physik und Chemie, mehr als Grundlagenwissen wars nicht, was geboten wurde.

Bald reihte sich ein Schultag an den nächsten.

4

Früh am Lindenauer Markt an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an

Unbegreiflicherweise verpasste er diesen Junitag. Brot? Er konnte das Gesicht der Bäckersfrau in der Bäckerei Ecke Lützner Straße nicht deuten, der Laden leer. Bei Wolframs ein Zettel. Sind im Garten. Er hatte im Schwejk gelesen. Du lachst dich krank, Hannes, den gib mir schnell zurück, am besten morgen, sagte Eichler.

Auf der Georg-Schwarz-Straße Lastwagen, er hatte gewartet, bis sie vorbei waren. Und du willst nichts bemerkt haben!? Das war am Tag danach. Nichts gesehn haben, geht nicht.

Vielleicht Fahnen, aber wer guckt auf Fahnen?

Am Lindenauer Markt früh an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an, deutsch, russisch. Du willst vom Ausnahmezustand nichts gemerkt haben?! Du lügst! Ist Fahnenflucht, was du dir geleistet hast, war Pockrandt auf ihn zugestürzt. Dir da geleistet hast, nuschelte Böckler.

Wir liegen in Alarmbereitschaft, selbst die Mädchen, sagte Rudi Gernitz eher vorwurfsvoll, und du zeigst dich nicht.