Buch lesen: «Operation Mekong»
Harry Thürk
Operation Mekong
Roman
mitteldeutscher verlag
Harry Thürk (1927 – 2005), geb. in Zülz (heute Biała/Polen), Besuch der Real- und Handelsschule in Neustadt/Schlesien, 1944/45 Wehrdienst, nach dem Krieg Rückkehr nach Neustadt, Internierung in einem Durchgangslager für Deutsche, von dort Flucht nach Ostdeutschland. In der DDR zunächst Arbeit als Reporter (u. a. Auslandskorrespondent in Südostasien), seit 1958 freier Autor (Romane, Drehbücher) in Weimar. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt.
Im Mitteldeutschen Verlag sind von Harry Thürk weiterhin erhältlich: »Die Stunde der toten Augen«, »Midway«, »Sommer der toten Träume« und »Dien Bien Phu«.
Ich traf sie auf der Fähre über einen der Arme des Mekong, die durch das heiße, feuchte Delta dem Südchinesischen Meer zustreben. Von Vinh Long kommend, war ich nach der kleinen Kreisstadt Can Tho am jenseitigen Ufer unterwegs. Can Tho hatte schon den Franzosen als Militärstützpunkt gedient, bevor sich hier die Amerikaner eingenistet hatten, in den Anfangsjahren ihres Indochina-Abenteuers. Sie stationierten in der Gegend ihre erste sogenannte »Anti-Guerilla-Einheit«, die später unter der Bezeichnung »Special Forces« oder »Green Berets« berüchtigt wurde. In der Nähe von Can Tho, nicht weit von dem ehemaligen französischen Flugplatz Binh Thuy, drillten sie jahrelang einheimische »Green-Berets«-Truppen, und ich überlegte, an die Reling der überfüllten Fähre gelehnt, wie viele dieser ehemaligen südvietnamesischen Superkiller sich wohl heute in Europa oder anderen Weltgegenden herumtreiben mochten, »Boat-People« genannt, arme Verfolgte mimend, die vor nichts weiter geflohen waren als vor der Rechenschaft über die eigenen Untaten.
Da war plötzlich die Frau; nicht mehr ganz jung, aber von gutem Aussehen – bis auf ihr Gesicht. Auch das schien einmal schön gewesen zu sein. Jetzt aber war es von großflächigen Narben zu einer grausigen Maske verunstaltet. Die Frau sang mit müder Stimme ein Lied, in dem von einem müden Vogel am Abend die Rede war. Sie nahm Geld, das die Leute ihr zusteckten. Ihr nächstes Lied war eine Ballade von großer Liebe und noch größerem Leid: Duncan habe er geheißen, der stattliche Mann aus dem Lande jenseits des Meeres. Und geliebt hätten sie sich nahezu unbeschreiblich. Jahrelang. Bis dann das böse Schicksal kam, in Gestalt der – ihr verschwiegenen – Gattin des forschen Offiziers. Und die schüttete der unerwünschten Geliebten Säure ins Gesicht. Rache. Daher das für immer verunstaltete Antlitz einer ehemals schönen, angeblich sogar tugendhaften Frau. Der Zuhörer wurde um Verständnis in barer Münze gebeten.
Bei mir verweilte sie. Ihr Lied war zu Ende. Ich spendete ein paar Dong, und obwohl sie vermutlich Dollars erwartet hatte, zeigte sie mir das arg verschlissene Foto des ehemaligen Geliebten, der sich nach dem Unglück freiwillig zu einem selbstmörderischen Kommando meldete und umkam, wie man ihr berichtete. Rührend, ein modernes Märchen …
In Can Tho beantwortete ein Gesprächspartner meine Frage nach der Frau lachend: »Ach was, eine altgewordene Hure ist sie. Und die Narben stammen von den Pocken. Den Amerikaner auf dem Foto, den gab es tatsächlich. Bei den ›Green Berets‹ stationiert. Verschwand eines Tages. Bevor sie die Pocken kriegte. Verschwand einfach. Wie alle anderen.«
Freunde wissen, daß ich mir Namen nicht allzugut merke, Gesichter hingegen nie vergesse. Den so jammervoll besungenen Amerikaner sah ich nach Jahren wieder. Auf einem Foto in einem amerikanischen Herrenmagazin, das ich während eines langweiligen Fluges durchblätterte: Duncan Harvey, Ex-Major der berühmten »Green Berets«, soeben gefallen, bei einer geheimnisvollen Mission in Laos. Sie galt der Befreiung von Kameraden, die dort heute noch in verschwiegenen Lagern, fern jeder Siedlung, mitten im Regenwald, festgehalten werden. Unverkennbar sein Gesicht. Einer jener Fälle, in denen Gesichter geradewegs zu Geschichten führen, denen Erzähler nicht widerstehen können …
Bangkok
Der »Iroquis« schwebte von Süden heran.
Harvey warf einen prüfenden Blick durch sein Fernglas, dann sprach er in das auf seiner Brust baumelnde Gerät: »Zieh noch eine Schleife, Joe. Gib was zu, in Richtung Meer. Du setzt sie zweihundert Meter vom Strand ab, klar?«
Eine blechern klingende Stimme kam zurück: »Frühstück für die Haie, wenn du mich fragst, Harvey. Höhe?«
»Achtzig, wie abgemacht.«
»Die brechen sich die Knochen, noch bevor die Haie sie kriegen, bei dem quirligen Wind …«
Duncan Harvey, noch für genau sechs Stunden Instrukteur einer in Ausbildung befindlichen Spezialtruppe, die hier, in der Nähe von Hualien auf Taiwan, für besondere Einsätze gedrillt wurde, rief unbeherrscht in das Mikrofon: »Spar dir deine Hebammenratschläge, Joe! Zweihundert Meter, Höhe achtzig, und alle in kürzester Folge, parallel zum Strand, oder ich jage sie eine halbe Stunde später noch einmal raus. Wir schulen hier keine Pfarrerstöchter, sondern Killer. Die müssen Salzwasser schlucken und Angst vor den Haien haben, und die müssen jeden einzelnen Knochen spüren, wenn sie am Strand ankommen. Los!«
Er sah, wie der altvertraute Bell-Hubschrauber die Schleife einleitete und dann für einen Augenblick nahezu bewegungslos in der Luft hing, bevor er auf achtzig Meter herabging, Anlauf nahm. Das Schott war offen. Nun, also!
Duncan Harvey war ein großer, kräftig wirkender Mann mit einem modisch kurz getrimmten Schnurrbart, der blond war wie sein unter der Schirmkappe hervorquellendes Haar. Er trug eine grüne Uniform von der Art, wie er sie vor zehn Jahren noch in Vietnam getragen hatte. Bewaffnet war er nicht. Dies hier war kein Kampfgebiet. Er würde auch nicht schießen, wenn die Fallschirmspringer sich ans Ufer heranarbeiteten – dafür sorgten die Soldaten der Armee Taiwans, die in den Löchern am Strand steckten. Dies war der letzte Tag seines Kontraktes. Ein Jahr mit gutem Verdienst und leidlicher Abendunterhaltung. Hualien war zwar eine große Stadt, die bedeutendste an Taiwans Ostküste, aber die Behörden hatten die Spezialtruppe in einem Lager untergebracht, das unmittelbar an den nördlich der Stadt gelegenen Flugplatz grenzte, und so vor den Augen der Bewohner verborgen. Und vor der Möglichkeit bewahrt, allzuviel Zeit in den Bars der Stadt zu vertändeln.
Auch das Ausbildungspersonal erhielt nur in Ausnahmefällen Ausgang nach Hualien. Geheimhaltung. Weiß der Teufel, was die Kerle in Taipeh da ausheckten, in einer Zeit, in der Washington bemüht war, sich mit den Pekingern nicht anzulegen. Der frühere Verbündete Taiwan war zwar auch heute noch ein Verbündeter, aber man trat leise auf, vermied Aufsehen. Unter der Hand hieß es, man wolle den Pekingern nicht fortwährend die Gelegenheit zu Protesten servieren. So verbrachten die hier arbeitenden Amerikaner ihre Freizeit meist in der Flugplatzkantine und vergnügten sich nachts mit ein paar Mädchen, die wegen der Dollars hinaus in die Bungalows um das Lager herum gezogen waren. Weniger gefährlich, als Vietnam gewesen war, in der Tat, gar nicht zu vergleichen, die ganze Sache. Aber auch langweiliger. Obwohl Harvey von dem, was er im vergangenen Jahr hier verdient hatte, einige Zeit sorglos in den Staaten würde leben können, war er doch insgeheim froh, daß es zu Ende ging. Unruhe plagte ihn. Es fügte sich gut, daß die Veteranen aus dem Indochina-Krieg sich in der kommenden Woche, wie alljährlich, in Las Vegas treffen würden, bei der traditionellen Zusammenkunft der Waffenfreunde. Man konnte gespannt sein, welche Art von Kontrakten da für arbeitssuchende Leute vom Kriegsfach angeboten würde. Die Gelegenheiten zur Anwendung erlernter Fertigkeiten schrumpften, das war nicht zu übersehen, aber es gab sie immer wieder einmal, hier und dort. Man mußte sich lediglich auf schlechtere Bedingungen einstellen. Besser, als ohne Job in New York zu sitzen, war das allemal.
»Fertig?« kam es aus dem Gerät auf seiner Brust.
Harvey kommandierte knapp: »Absetzen!«
Immer wieder faszinierte ihn das Schauspiel, zu beobachten, wie Männer aus der Luke eines Hubschraubers purzelten, wie sich knapp über der Erde – oder jetzt über der Wasseroberfläche – die Schirme öffneten und wie die Männer dann ihre Beine anzogen, den Aufprall erwartend. Es war wie in Vietam, damals.
Überhaupt, wenn Harvey sich erinnerte, war da Vietnam eines der farbigsten Bilder. Vorher war nicht viel gewesen. Die Kinderzeit mit nutzlosen Spielen zwischen abgewrackten Autos, auf dem Schrottplatz des Vaters. Die Schule mit ihren Zwängen. Die ersten Mädchen, scheue Gestalten. Die Arbeit auf dem Abschleppwagen der väterlichen Firma, bis dann John F. Kennedy, der Präsident mit der Vorliebe für militärische Experimente, von den neuen Grenzen sprach, die junge Amerikaner sich zu erobern hätten. Zu seinen Schöpfungen gehörten jene sogenannten Elitesoldaten mit den grünen Baretten, die nur dort eingesetzt werden sollten, wo die Vereinigten Staaten sich nicht mit der Armee engagieren, nichtsdestotrotz aber ihren Fuß auf den Boden zu stellen wünschten.
Harveys Wunsch, Berufssoldat zu werden, wurde übermächtig. Bisher hatte das Marinekorps als die unangefochtene Elitetruppe der Vereinigten Staaten gegolten. Harvey liebte den Werbespruch des Korps: Komm zu den Marines, sieh ferne Länder, lerne interessante Menschen kennen und – töte sie. Aber bald lockte ihn die Aura des Gesetzlosen, die um die »Green Berets« verbreitet wurde, noch mehr. Da galten keine soldatischen Regeln mehr, selbst nicht die wenigen, die angeblich für die Marines Gültigkeit hatten. Bei den »Green Berets« sang man: »Plündern, rauben, vergewaltigen – laßt uns das Wort Hundesohn zum Ehrentitel machen!«
»Und wir haben es dazu gemacht!« knurrte Harvey grimmig.
»Ist was faul?« erkundigte sich prompt der mithörende Pilot des »Iroquis«. Harvey antwortete scharf: »Quatsch mich nicht an! Halt dein Maul und besorg es deiner Mutter!«
»Wird gemacht, mit einem Gruß von dir«, kam es krächzend zurück. »Und vergiß nicht, wir fliegen um achtzehn Uhr ab!«
Harvey antwortete nicht mehr. Er sah den Hubschrauber abdrehen und südwärts verschwinden. Durch das Fernglas konnte er erkennen, daß alle zwölf abgesetzten Soldaten sich im Wasser bewegten. Also war keinem das Genick gebrochen worden beim Aufprall. Wasser war hart. Sie schienen es überlebt zu haben. Jetzt hatten sie damit zu tun, ihre Schirme zusammenzuraffen, keine leichte Sache, denn das Wasser verlieh dem dünnen Gewebe Gewicht.
Joe, der Pilot, hatte sie wie befohlen in einer Reihe abgesetzt, parallel zum Strand, aber nach und nach löste sich diese Reihe auf. Zwei oder drei der Springer schienen angeschlagen. Harvey vermutete Beinprellungen, vielleicht waren es auch Brüche, denn die Leute wateten nicht im seichten Wasser wie die anderen, sie versuchten zu schwimmen. Das taten sie, ohne die Beine zu bewegen. Wennschon – es genügte, daß vier oder fünf von ihnen die Ausbildung heil hinter sich brachten, das würde eine Quote sein, über die die Auftraggeber Freude zeigten. Harvey hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was die Absolventen später tun wollten. Manche erklärten ein wenig großspurig, sie wollten China befreien. Was er davon hielt, darüber schwieg Harvey lieber. Aber er kam schon bald nach dem ersten Lehrgang dahinter, daß hierher, in das Lager nördlich des Flugplatzes von Hualien, nicht etwa ausgesucht vorbildliche Soldaten der Taiwaner Armee kamen. Es begann damit, daß der Pilot des Absetzhubschraubers seinen Ehering vermißte, von dem er genau wußte, daß er ihn zu Beginn des Fluges getragen hatte. Erst später erinnerte er sich, einige der Soldaten mit Handschlag begrüßt zu haben. Pistolen und Feuerlöscher verschwanden, Kartons voller Bourbonflaschen aus dem Fliegercasino und für die Nacht abgestellte Zivilautos. Einiges davon tauchte auf den Diebesmärkten von Hualien wieder auf, aus nicht feststellbaren Quellen kommend, anderes, etwa die Autos, fand sich nie wieder. Sie wurden, so war hinter vorgehaltener Hand zu hören, noch in der Nacht des Diebstahls umgespritzt, mit neuen Kennzeichen versehen und waren am nächsten Tag bereits verkauft.
»Ich bilde Taschendiebe, Einbrecher und andere Straftäter aus, die sich, um ihre Haftzeit zu verkürzen, zu dieser Spezialtruppe gemeldet haben«, sagte Harvey einmal in einem Interview mit einem Reporter der in den Staaten erscheinenden Zeitschrift »Soldier of Fortune«. »Die Leute sind willig, aber sie haben die Lebensgewohnheiten von Straßenräubern. Mich stört das nicht. Im Gegenteil, wenn einer richtig angeknackst ist, wenn er sozusagen zur Ratte geworden ist, dann stellt er für uns bestes Material dar. Man braucht ihm nicht mehr mühsam die Allüren eines Gentleman abzutrainieren …« Seit dem Erscheinen des Interviews hatten sich bereits mehrere Interessenten bei Harvey erkundigt, wann sein Kontrakt auf Taiwan zu Ende gehe.
»Achtung!« rief er jetzt nach links hinüber, wo zwanzig Soldaten in Löchern hockten und mit Automatgewehren, Maschinenpistolen und M-60-MGs über die Köpfe der dem Strand zustrebenden Springer zielten. Echtes Feuer, das war Harveys Prinzip. Nach seiner Meinung mußte ein Soldat, um zu spüren, worauf er stoßen würde, einfach schon in der Ausbildung Geschosse pfeifen gehört haben.
Er hob den Arm. Die Soldaten entsicherten ihre Waffen. Draußen im Wasser wateten die Springer heran. Einige lagen weit zurück, schleppten sich vorwärts. Pech beim Aufkommen gehabt, konstatierte Harvey. Nun ja, sie kannten das Risiko.
»Feuer!« Sein Arm zuckte herab. Sofort setzte das Gebell der Waffen ein. Belustigt sah Harvey, daß einige Schützen ziemlich tief hielten, die Geschosse fegten noch vor dem Wasser Sandfontänen auf. Er schrie den Schützen zu, sie sollten höher zielen, aber im Grunde interessierte ihn die ganze Abschlußvorstellung nicht mehr so recht. Mochten sie sich doch gegenseitig Löcher ins Fell brennen, was ging es ihn noch an.
Zwei der Springer mußten am Schluß von den anderen aus dem Wasser geschleppt werden, sie schafften es allein nicht bis zum Strand. Knochenbrüche. Harvey beobachtete einen Dritten, der mit verdreht abgespreiztem Bein bis auf den nassen Sand kroch. Den beiden anderen versicherte er, ihre Ausbildung sei völlig unnütz gewesen, wenn sie schon wegen eines simplen Knochenbruches in Gefahr gerieten, zu ertrinken. Wahrscheinlich, dachte er, werden sie die rotchinesische Küste ohnehin nie sehen. Wer kann schon im Ernst erwarten, daß eine Handvoll solcher zusammengelesener Gestalten eine Aktion ausführt, die selbst Männer von meinem Format kaum angehen würden! Man wird sie hinter Wasserwerfern gegen aufsässige Demonstranten marschieren lassen, mit Plexiglasschilden und Motorradhelmen. Wie dem auch sei, für mich ist heute Schluß.
Er flog zusammen mit dem Hubschrauberpiloten, dessen Kontrakt ebenfalls endete, am Abend nach Taipeh, aber die beiden blieben die zwei Stunden, bis die Linienmaschine nach Honolulu abflog, im Flughafenrestaurant, es zog sie nichts mehr in die Stadt. Leute wie sie wurden weder offiziell empfangen, noch verabschiedete man sie mit einem Zeremoniell, sie erwarteten das auch nicht. Sie waren es gewohnt, möglichst unauffällig irgendwo aufzutauchen, das zu tun, was sie ihren Job nannten, und danach, ebenfalls unauffällig, wieder zu verschwinden. Harvey pflegte im Kreis von Gleichgesinnten, nach einigen Lagen Bourbon, zu sagen, es sei mit den Mietsoldaten wie mit Spionen. Jeder brauche sie, man zahle ihnen gutes Geld, aber man möchte um keinen Preis mit ihnen zusammen gesehen werden.
Joe Preston, der Hubschrauberpilot, der in seinem Zivilanzug aussah wie ein College-Student, der noch am Wachsen war und seine Hosen nicht so schnell neu kaufen konnte, wie seine Beine länger wurden, murrte über seinem Whisky: »Sie hätten uns wenigstens ein paar Weiber zum Abschied herschicken können, mit Blumenkränzen …« Es war sein erstes Engagement nach Vietnam und einer nicht erfolgreich verlaufenen Karriere als Garagenpächter in Miami. Harvey beruhigte ihn: »Weiber werden uns in Honolulu begrüßen. Mit Blumenkränzen, ganz wie du es möchtest. Die begrüßen dort jeden so, Rechtsanwälte der Mafia oder Senatoren, egal.«
Es kam genau so, als sie am nächsten Tag Honolulu erreichten. Harvey grinste nur, als Preston der Wahine, die ihm den Jasminblütenkranz umhängte, vorschlug, mit ihm zu essen. Das Mädchen lachte. »Noch vier Stunden Dienst, Mister! Immer eine Maschine nach der anderen. Aloha, Kranz, der nächste! Und … ich habe schon alle Briefmarkensammlungen Amerikas gezeigt bekommen!«
Sie ließen sich ins »Laguna« fahren, eines der weniger luxuriösen Hotels, und hier legten sie zwei Tage Pause ein. Der Zimmerboy blätterte ihnen sein Mädchenalbum vor und gab die üblichen Erläuterungen über besondere Fertigkeiten der Abgebildeten.
»Himmel«, knurrte Preston schließlich, »habt ihr denn nichts mit heller Haut und ohne Schlitzaugen? Ich kann diese Gesichter nicht mehr sehen!«
Er empfing am ersten Abend eine Blondine aus Los Angeles, die außer einer ungewöhnlichen Oberweite kaum etwas zu bieten hatte, das Preston nicht schon kannte. Harvey trieb sich in der Stadt herum, wo er alte Bekannte besuchte. Als sie schließlich nebeneinander in der Maschine nach Los Angeles saßen, vertraute er dem Piloten an: »Wenn alles klappt, können wir in Kürze einen neuen Job haben, Joe. Ich habe erfahren, daß in Vegas Leute gesucht werden. Interessiert?«
»Wo?«
»Asien jedenfalls. Sonst weiß ich auch noch nichts.«
Preston grunzte unwillig. Er hätte gern Afrika gesehen, aber da waren die Chancen dünn. So beschied er Harvey: »Ich höre mir den Vorschlag erst an. Und die Bezahlung …«
Harvey blickte erwartungsvoll aus dem Kabinenfenster, als unter der Maschine plötzlich das nächtliche Las Vegas auftauchte. Nach der Eintönigkeit der Mojave-Wüste, die, von blassem Mondlicht erhellt, wie ein Zinnteller angemutet hatte, gab es nun mit einemmal eine Ansammlung blinkender Lichterketten da unten. Las Vegas, das Harvey nicht zum erstenmal sah, faszinierte ihn immer wieder am meisten aus der Luft betrachtet und nachts. Man sah nicht, daß dies eigentlich keine organisch gewachsene Stadt war, sondern eine mehr oder weniger willkürlich aneinandergebaute Kette von Hotels, Spielhallen, Restaurants, Wohnblocks und Hamburgerbuden– ein blitzender Strom schien aus der Wüste aufzubrechen, bunt, verlockend.
Erst bei Tageslicht würde man hinter den Gebäuden noch die Schwimmbäder sehen, die Tennisplätze und künstlich bewässerten Golfwiesen. Es gab Leute, die von einem Paradies sprachen, das Menschenhand in einer der unwirtlichsten Gegenden des großen Landes geschaffen hatte. Wenn mit Vergnügen das Glücksspiel in jeglicher erdenkbaren Variante gemeint war, das Revuetheater mit tausend beineschwingenden Mädchen, mikrofonbewaffneten Sängern und schwitzenden Tänzern, Jongleuren, Akrobaten, Dompteuren und Magiern – dann stimmte der Vergleich in der Tat. Man reiste hierher, wenn man Geld hatte und daraus mehr Geld machen wollte. Oder wenn man keins hatte und auf eine Chance aus war, welches zu machen. Aber man reiste auch an, um sich mit jemandem zu treffen, für ein paar turbulente Tage, vielleicht mit einer Dame, die man in der hochnäsigen Direktorenumgebung daheim nicht vorzuzeigen wagte. Und man veranstaltete Treffen aller Art. Hier kamen Aufsichtsräte zusammen, Rechtsanwälte und Hundezüchter, Pfeifenraucher und Schnellstricker, Krebsforscher und Barfußgeher – oder, wie in dieser Woche, die Freunde der Zeitschrift »Soldier of Fortune«, im Luxushotel »Sahara«, dessen Eingangshalle zu diesem Zweck nicht nur mit verschiedenen Sternenbannern geschmückt war, sondern auch mit allen möglichen Waffen, vom malaiischen Kris über den uralten Peacemaker-Colt bis zur israelischen Uzi-Maschinenpistole. »Soldier of Fortune« war vor etwa zehn Jahren gegründet worden, von Colonel Iirown, einem Veteranen der Spezialtruppe »Green Berets«. Eine Zeitschrift, die sich mit allem befaßte, was zum Kriegshandwerk gehörte und zur Tötung von Menschen. Sie berichtete über Waffen und Kriegsschauplätze, Kampfmethoden und Taktiken, sie zielte auf die unter den Bürgern der Vereinigten Staaten verbreitete Vorliebe für den Besitz und die Benutzung von Schußwaffen, aber sie nahm sich auch der unzähligen abgemusterten Soldaten an, die nicht mehr so recht ins zivile Leben zurückfanden, sie veranstaltete Wettbewerbe von Schützen und Messerwerfern, Kanonieren und Fallschirmspringern, Vietnam-Veteranen und ehemaligen Korea-Kämpfern, und, vor allem, sie vermittelte einschlägige Jobs. Da wurden Scharfschützen gesucht für nicht näher definierte Zwecke, Bewacher von Privatpersonen oder Berater und Ausbilder für Armeen in fernen Ländern – »Soldier of Fortune« war ein Zentrum militanten Denkens und Handelns in der ehrwürdigen Tradition der USA, die von der Ausrottung der Indianer bis zur Tötung vietnamesischer Dorfbewohner reichte, eine Börse, an der tödliche Fertigkeiten gehandelt wurden, zum Tageskurs. Der Feinde, so fand die Zeitschrift, gab es viele. Die Abenteuer der Männlichkeit waren ohne Zahl in dieser zur Verweichlichung neigenden Welt. Gott segne Amerika, und – Tod den Roten. Ein Evangelium auf Glanzpapier, blendend gedruckt, Geheimtip für alle jene, die das Töten für rechtens, notwendig und nobel hielten, wenn es sich mit einem entsprechenden Verdienst verbinden ließ.
Joe Preston, der Hubschrauberpilot, sagte: »See you later …« Damit verschwand er. Neben Harvey tauchte ein junger Mann auf, nahm ihm seinen Koffer ab und begleitete ihn zu einem Schreibtisch, hinter dem ein Redakteur der »Soldier of Fortune« saß, dessen Name ihm nicht einfiel. Aber der Redakteur begrüßte ihn sogleich respektvoll: »Hallo, Major, schön, daß Sie es einrichten konnten, zu kommen, Sir!«
Er hielt ihm ein Teilnahmeformular hin, unter das Harvey seinen Namen zu setzen hatte, dann übergab er ihm einen Zimmerschlüssel und bemerkte: »Wir haben das ganze Hotel gemietet, Sir. Ich hoffe, das Zimmer gefällt Ihnen. Die verschiedenen Programme finden Sie in einer Mappe auf Ihrem Zimmer. Und – ehe ich es vergesse – ein alter Kamerad erwartet Sie. Er befindet sich auf Ihrer Etage, an der Bar, …«
Es war Leo Bellinger, der da oben, gegenüber dem Fahrstuhl, auf einem Hocker saß und gelangweilt zwei angeschmolzene Eiswürfel in seinem Whiskyglas kreisen ließ. Der unauffällig aussehende dunkelhaarige Mann mit dem runden, gemütlich wirkenden Gesicht war einer der letzten gewesen, die Saigon verlassen hatten, bevor es die Volksarmee der Vietnamesen besetzte. Bellinger hatte in der CIA-Station Saigon gearbeitet, als Verbindungsmann zu den noch im Lande selbst, in Laos und Kambodscha operierenden Kommandos. Auch die letzte Aktion, an der Harvey damals teilnahm, hatte er geplant, doch das war schon einige Zeit vor dem Fall Saigons gewesen, als trotz der offiziell in Paris vertraglich besiegelten Einstellung des amerikanischen Engagements in Vietnam dort noch verdeckte Hilfe geleistet wurde. Harvey war schon in Guam gewesen, als Bellinger immer noch in der Saigoner CIA-Station Akten vernichtete, bis er dann endlich ausgeflogen wurde. Seitdem hatte Harvey ihn nicht mehr gesehen. Daß er jetzt hier auf ihn wartete, war ihm schon in Honolulu signalisiert worden. Ein Zeichen dafür, daß Bellinger ein Anliegen hatte. Vielleicht einen neuen Job. »Oder?« erkundigte Harvey sich, nachdem er Bellinger begrüßt und sich selbst einen Whisky bestellt hatte.
Bellinger schüttelte leicht lächelnd den Kopf. »Kein oder.« Seine Stimme war leise. Nicht zum Kommandieren auf Exerzierplätzen geeignet. Leo Bellinger war ein Mann, der überhaupt recht leise operierte. »Du hast da unten abgemustert?«
»Taiwan? Ende der Vorstellung, ja.«
»Was Neues in Aussicht?«
Harvey forderte ihn auf: »Leo, komm zur Sache. Ich bin um die halbe Welt geflogen und habe ein Bedürfnis nach Schlaf. Also – sag, weswegen du hier mit mir sprechen willst. Ich bin frei. Habe vorläufig nichts laufen. Was bietest du an?«
»Morgen«, gab Bellinger zurück. »Schlaf dich aus. Und nimm nichts anderes an, bis wir gesprochen haben. Was von Mitchell gehört?«
»Lester Mitchell? Nichts. Gilt als vermißt.«
Bellinger grinste. »Ich sehe, du kannst schweigen. Gute Eigenschaft. Habe ich schon immer an dir geschätzt.«
»Wie meinst du das mit dem Schweigen?«
»Mitchell«, sagte Bellinger, »hat ein gutes Nest gefunden.«
»Ist mir neu. Wo?«
»Morgen«, sagte Bellinger wieder. »Es soll nichts in Eile gemacht werden. Geh schlafen. Und überleg dir, mit wem du gern arbeiten würdest. Zwei, drei Mann.«
»Übersee?«
Bellinger nickte. »Vertraute Gegend. Bist der richtige Mann dafür. Wo ißt du zu Mittag?«
»Vielleicht unten im Restaurant. Warum?«
Bellinger steckte ihm eine Karte zu. Da stand der Name eines chinesischen Restaurants, ziemlich am Ende der Bond Road. »Dort können wir ungestört reden. Und – tu mir den Gefallen, komm in Zivil. Nicht in einer von den Tarnjacken, die sie alle hier anziehen, die großen Soldaten …«
Vor dem Zimmer wartete der Boy mit dem Koffer. Harvey gab ihm seinen Dollar, dann verbrachte er zehn Minuten unter der Dusche, worauf er sich ins Bett legte und sofort einschlief.
Das chinesische Restaurant lag im Schatten hoher Bauten, ein einstöckiges Etablissement mit dem nicht unüblichen Namen »Lotos«. Kein Luxus, außer ein paar nachgemachten Ming-Vasen und der Deckentäfelung, die eine Hongkonger Firma aus Plast herstellte und in die ganze Welt verschickte, goldene Drachen, verschlungen, auf falschem Ebenholz. Auch der Besitzer des »Lotos« folgte offenbar dem bewährten Prinzip chinesischer Wirte, möglichst wenig zu investieren und viel an Speisen zu verdienen, die mit chinesischer Küche so viel gemeinsam hatten wie eine Yangtse-Dschunke mit einem Tragflächenboot. Es erwies sich, daß Bellinger sein Spesenkonto nicht schonte, er bestellte Frühlingsrollen, mehrere Varianten Schweinefleisch, Rindfleisch mit Morcheln, Bambus, Löwenköpfe, dazu Lotoskerne und Krabbengebäck, süße Walnußsuppe und Zuckerfadenäpfel – eine Zusammenstellung, die, wie Harvey ihn aufmerksam machte, in Hongkong mit Lokalverbot geahndet worden wäre. Doch das rührte Bellinger nicht weiter, er meinte: »Ich esse immer das, worauf ich gerade Appetit verspüre. Und, du siehst ja, der Kellner verzieht nicht einmal das Gesicht …«
»Er ist vermutlich hier aufgewachsen«, gab Harvey zurück, »gestillt mit Coca-Cola und gespeist mit Hamburgern. Was verlangst du von ihm – chinesisches Traditionsbewußtsein? Wo steckst du jetzt? Washington?«
Bellinger widmete sich einer Frühlingsrolle. Dabei murmelte er: »Gutes Lokal. Wir haben es überprüft. Keine Abhöranlage. Schlechte Akustik. Wir können unbesorgt reden. Im Hotel stecken in jedem Zimmer Wanzen. Wir wissen gern, wohin sich Leute mit Schießeisen engagieren lassen, und von wem. Ja, es ist Washington, wo ich bin. Erzähl mir was von deinem letzten Job …«
Harvey berichtete ihm knapp, was er im vergangenen Jahr getan hatte, wozu Bellinger nachdenklich nickte und meinte, das sei zwar nichts, wovon einem das Blut koche, aber es ernähre seinen Mann. Unvermittelt fragte er dann: »Erinnerst du dich einigermaßen gut an Lester Mitchell?«
Harvey brauchte nicht lange nachzudenken. »Du meinst den Master Sergeant, der bei uns in Can Tho stand und seit einem Einsatz in Kambodscha vermißt wird, oder reden wir über verschiedene Personen?«
»Ich meine den Master Sergeanten. Klein, etwas Bauch, wie sich das für einen Master Sergeanten gehört, ausgeschlafen, mit guten Verbindungen. War das nicht ein ziemlich risikoloser Einsatz damals?«
Der Kellner brachte Reis und Fleischgerichte, stellte Bier auf den Tisch, ließ nach einer diskreten Nachfrage die Eßstäbchen da und nahm die vorsichtshalber mitgebrachten Gabeln wieder mit. Bellinger mäkelte an der Qualität der Frühlingsrollen herum, sie seien mit gefrostetem Spinat zubereitet, der dazu nicht tauge. Schließlich sagte Harvey: »Es war ein ausgesprochen lächerlicher Einsatz, damals. Die Air Force hatte aus Versehen Neak Luong bombardiert. Irgendein Idiot hatte den Kongreß wild gemacht, und die schickten eine Kommission zur Untersuchung, ob das Bombardement angemessen gewesen war oder nicht. Mitchell flog mit zwei Hubschraubern nach Neak Luong. Übliche Sache, sie trugen schwarze Bauernkleidung, Kalaschnikows und russische PR-7-Geschosse, außerdem hatten sie ein Dutzend Leichen in Vietcong-Aufmachung mit. Waren Kerle aus Saigoner Gefängnissen, von Thieu geliefert. Aber es gab ein unvorhergesehenes Gefecht, bevor sie die Szene für die Kongreßkerle vorbereiten konnten. Die Hubschrauber retteten sich. Les Mitchell verschwand bei dem Durcheinander. Die anderen wurden später ausgeflogen, er tauchte nicht mehr auf. Gefangener, vermutlich …«
»Er wurde nie gefangengenommen«, warf Bellinger ein.
Harvey blickte auf. »So? Was war?«
»Interessante Sache«, erzählte Bellinger grinsend, während er sich Fleisch auf den Reis in seiner Schale häufte. »Mitchell hatte überall seine Beziehungen. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, daß er für einen thailändischen Gauner, der zeitweise in Phnom Penh residierte, Heroin umschlug. Marke ›Phönix‹.«
»Es gab Leute, die vermuteten so was«, bemerkte Harvey vorsichtig.
»Nun ja, jedenfalls haben wir herausgefunden, daß Mitchell sich mit Hilfe dieses Gauners aus Neak Luong verkrümelte. Nach Bangkok. Dort war er ja auch nicht gerade unbekannt. Hatte während einiger Erholungsaufenthalte Kontakte angebahnt. Besitzt heute zwei Bordelle mit Kneipen in der Patpong. Wohnt etwas außerhalb. Bungalow mit Komfort. Wiegt etwas mehr als eine Million Dollar.«
»Das nenne ich eine Karriere«, gestand Harvey und entschloß sich, es bei einer von den Frühlingsrollen zu belassen. Das panierte Schweinefleisch sah gut aus. Er füllte etwas Reis in seine Schale und häufte Fleisch darauf. »Wie seid ihr auf ihn gekommen?«