Buch lesen: «Der schwarze Monsun»

Schriftart:

Harry Thürk

Der schwarze Monsun

Roman

mitteldeutscher verlag

Im Mitteldeutschen Verlag erhältlich:

Dien Bien Phu. Die Schlacht, die einen Kolonialkrieg beendete (Tatsachenroman)

Operation Mekong (Roman)

Sommer der toten Träume (Roman)

Die Stunde der toten Augen (Roman)

Harry Thürk (1927 – 2005), geb. in Zülz (heute Biala/Polen), Besuch der Real- und Handelsschule in Neustadt/Schlesien, 1944/45 Wehrdienst, nach dem Krieg Rückkehr nach Neustadt, Internierung in einem Durchgangsghetto für Deutsche, von dort Flucht nach Ostdeutschland. In der DDR Arbeit als Reporter (u. a. Auslandskorrespondent in Korea, China, Vietnam, Laos, Kambodscha), was sich in seiner literarischen Arbeit niederschlug, seit 1958 freier Autor in Weimar. Seine Bücher wurden in die polnische, tschechische, slowakische, ungarische, rumänische, russische, finnische, litauische, vietnamesische und spanische Sprache übersetzt.

Inhalt

Cover

Titel

Der Autor

1975, April

1977, Mai

1978, Mai

1979, Januar

Weitere Bücher

Impressum

1975, April

Eine Kokosnuß knallte auf das Regendach aus Wellblech, unter dem der Khmer-Soldat Posten stand. Der Mann erschrak tödlich, er warf sich sofort zu Boden, um Deckung bemüht, wobei seine Maschinenpistole aus Versehen losging. Die Geschosse surrten nicht weit von Hang Sons Beinen vorbei in die Nacht. Der Koch aus dem Restaurant des Hotels Mondial in der Monivong hatte dem Posten gerade den Zettel gezeigt, den ihm Keat Sambath vor ein paar Wochen für einen Notfall gegeben hatte. Jetzt war der Notfall eingetreten, früher als Hang Son, der junge Mann mit der verwegen hochgekämmten Haartolle, es für möglich gehalten hatte.

»Warum schießt du Idiot?« schrie er den Posten an, der vorsichtig den Kopf hob und sich nach versteckten Gegnern umsah, er murmelte etwas von den Roten, und daß man bei denen nie wissen könne. Mittlerweile war die Nuß vom Wellblechdach herabgerollt und am Boden liegengeblieben. Der Posten saugte sich mit seinen Augen an ihr fest, es war zu spüren, daß er sie für eine Höllenmaschine hielt, die jede Sekunde explodieren mußte.

Hang Son hatte keine Lust, noch lange vor dem Postenhaus der amerikanischen Botschaft zu stehen. Zwar war es Nacht, es gab keine Straßenbeleuchtung, aber die Armeestreife, die Hang Son zur Sammelstelle für Zwangsrekrutierte hatte mitnehmen wollen und der er entfliehen konnte, war noch hinter ihm her. Die Schüsse würden sie anlocken, es konnte sich nur um Minuten handeln. Erneut hielt Hang Son deshalb dem Posten den Zettel hin, als der kleine Soldat sich vom Boden erhob, nachdem er wohl eingesehen hatte, daß es sich tatsächlich um eine Kokosnuß handelte, nicht um eine Bombe.

»Es eilt!« drängte Hang Son. Er merkte, daß der Posten nicht lesen konnte, und um die Sache zu beschleunigen, forderte er ihn auf: »Ruf im Fahrzeugpool an, der Chef dort ist Keat Sambath. Er soll mich schnell hier abholen!«

»Keat Sambath, he?« fragte der Soldat zurück. Er wartete das Nicken Hang Sons nicht ab, trat in sein Häuschen, griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer. Mit erstaunlicher Sicherheit kombinierte er die Zahlen, er mußte sie im Kopf haben. Habe ich mich in ihm getäuscht, fragte sich Hang Son, kann er vielleicht doch lesen? Oder ist das mit dem Telefon nur Dressur? So ein Posten muß wahrscheinlich für jeden Botschaftsangehörigen, der das Gebäude verläßt, ein Auto aus dem Fahrzeugpool herbeordern, die Nummer wird sich ihm eingeprägt haben.

Der Posten sagte ein paar Worte in die Sprechmuschel, legte dann auf und drehte sich wieder zu Hang Son um. »Sambath, he?«

»Keat Sambath, ja. Kommt er?«

»Ist er dein Freund?«

Hang Son bejahte das, ohne zu zögern. Es hatte keinen Sinn, diesem Hohlkopf, der vor der halbverlassenen Botschaft der Amerikaner in Phnom Penh Wache hielt, nachdem die Stadt fast völlig von den Rebellen eingeschlossen war, zu erklären, welcher Art seine Bekanntschaft mit dem Chauffeur des Botschafters Dean war, der jetzt mit seinem Wagen kaum noch herumfuhr, weil die Hauptstadt Kambodschas unter dem Feuer der Rebellen lag und es für Amerikaner auch aus anderen Gründen nicht mehr ratsam war, sich offen in den Straßen zu zeigen. Dabei war es noch nicht einmal ganze sechs Jahre her, daß die Amerikaner nach langem Hin und Her öffentlich zu erklären bereit gewesen waren, sie würden die Existenz des indochinesischen Königreiches respektieren. Es hatte sie Überwindung gekostet, zumal sie im Nachbarland Südvietnam in einen Krieg eingetreten waren, dessen Ende nicht abzusehen war, und der Prinz, damals Kambodschas Staatsoberhaupt, sie deswegen Aggressoren nannte. Sie hatten trotzdem einen Botschafter geschickt. Jetzt gab es den Prinzen Sihanouk von damals nicht mehr an der Spitze des Staates, das Königreich Kambodscha existierte nicht mehr, es gab die Republik Kambodscha und der Prinz lebte nach dem Putsch seines Generals Lon Nol, der diese Veränderungen bewirkt hatte, im Pekinger Exil. Entmachtet war er ein knappes Jahr nach dem Eintreffen des amerikanischen Botschafters worden. Die Republik Kambodscha hatte der General Lon Nol inzwischen unter Kriegsrecht gestellt. Lon Nol hatte sich für den Putsch mit einschlägig bewanderten Amerikanern verbündet, und nach dem Gelingen des Unternehmens hatte er die Amerikaner offiziell als Alliierte ins Land geholt. Aber dadurch hatte er die Gegenkräfte, die schon gegen den Prinzen und sein Regime aktiv gewesen waren, endgültig zur bewaffneten Aktion herausgefordert – heute, nach einem Schlaganfall am Stock gehend und mit Sprechschwierigkeiten kämpfend, befand sich, wie man Zeitungsmeldungen hatte entnehmen können, Lon Nol zur Erholung in Hawaii. Eingeweihte versicherten, der »Oberbürgermeister von Phnom Penh«, wie man ihn hinter der vorgehaltenen Hand nannte, weil seine Macht nie weit über die Grenzen der Hauptstadt hinausgereicht hatte, würde nicht zurückkehren. In der Tat, das Ende war nahe. Jeder spürte es. Die Stadt wimmelte von Flüchtlingen, immer wieder schlugen Raketen in Militärobjekte ein, manchmal krepierten sie auch auf Plätzen oder vor Hotels. Qualm von brennenden Gebäuden schlug sich in die Wohnviertel nieder. Der langsam anschwellende Mekong, der um diese Jahreszeit die Tauwässer der Gebirge im Norden aufnimmt, schwemmte jeden Tag aufgedunsene Leichen deltawärts. Früher waren von Saigon her die Kanonenboote bis in den Tonle Sap gefahren, den Seitenarm des Mekong, der zum Nordwesen hin verläuft und sich unweit der historischen Ruinen von Angkor zum See erweitert, wobei er eben nur zur Regenzeit Wasser führt, ein Naturphänomen, an das sich viele Legenden knüpfen. Heute war selbst der Fährbetrieb über den Tonle Sap zum Ostufer eingestellt, dort drüben, in Chrui Changvar, saßen bereits die Rebellen. Und die elegante Tonle-Sap-Brücke, ein Stück weiter nordwärts, die das Wasser im kühnen Bogen überspannt, war gesperrt. Noch hatten die Rebellen die Brücke nicht besetzt, aber von Lon Nols Truppen traute sich niemand mehr auch nur in ihre Nähe. Selbst in den Nächten war es jetzt nicht mehr still. Um die Stadt herum rollte immer wieder der Donner der Granatwerfereinschläge, und wer weit genug in den Außenbezirken lebte, der konnte das Geknatter der Maschinengewehre hören.

»Ich nehme ihn mit hinein«, sagte der Mann, der plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war, zu dem Posten. Der griff sich die Zigarettenpackung, die ihm hingehalten wurde, und zog sich wieder unter sein Wellblechdach zurück.

»Komm«, wandte sich der Mann an Hang Son, er winkte ihn auf das Botschaftsgelände. Keat Sambath. Er drückte kurz die Hand seines späten Besuchers und führte ihn dann über den Hof der Botschaft, am protzigen Hauptgebäude vorbei, in die Wirtschaftszone, wo sich Küche und Garagen befanden, ebenso die Unterkünfte der Marineinfanteristen, die zum Schutz der Amerikaner bereitstanden, und die Räume, in denen jene einheimischen Bediensteten untergebracht waren, die Tag und Nacht gebraucht wurden. Keat Sambath hatte sein Quartier in einem Nebenraum der großen Garage, in der außer dem Chevrolet des Botschafters noch verschiedene andere Fahrzeuge standen, darunter mehrere in Tarnfarben gespritzte Lastwagen und ein Jeep.

Erst hier, in der gemütlich eingerichteten, von einem Ventilator einigermaßen gekühlten Kammer, nahm sich Keat Sambath die Zeit für ein Gespräch mit Hang Son. »Hat lange gedauert, bis du gekommen bist! Ich hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet!«

Hang Son sagte: »Danke, daß du mich hier hereinnimmst. Ich hätte dich nicht belästigt, aber es ist unsicher geworden draußen für mich …«

»Sind sie hinter dir her?«

Hang Son zuckte die Schultern. »Sie sind hinter jedem her, der noch ein Gewehr tragen kann. Ich hatte mich bei Chanta versteckt. Aber heute kam die Patrouille …«

»Chanta – ist das die Tänzerin? Deine Freundin?«

Hang Son nahm die Zigarette, die der Ältere ihm hinhielt, er brannte sie an. Amerikanisch, wie alles hier, selbst Hemd und Hose Keat Sambaths waren amerikanisch. Ein reicher Mann!

»Sie hat die Tänzerinnen nur geschminkt«, sagte Hang Son.

»Tanzen konnte sie nicht mehr, nachdem sie sich den Fußknöchel gebrochen hatte.«

»Warum hast du sie nicht mitgebracht? Das Ballett ist aufgeflogen, habe ich gehört. Die meisten Mädchen sind schon in Thailand. Wen soll sie da noch schminken?«

»Sie will da warten, wo sie wohnt. Möglicherweise kommt eine ihrer Freundinnen zurück. Sie war nach Kompong Cham gereist …« Der für einen Khmer recht große, schlanke Keat Sambath lächelte. »Kompong Cham, das ist seit einer Ewigkeit in den Händen der Roten. Da kommt keiner mehr …« Er wollte eigentlich anfügen: es sei denn, er schwimmt als Leiche den Mekong abwärts, aber er unterließ die Bemerkung. Hang Son wußte auch so, daß seine Feststellung logisch war. Phnom Penh befand sich in der undurchdringlichen Umklammerung der Rebellen, es konnte nicht mehr lange dauern, bis die letzten Truppen des Putschgenerals Lon Nol zu den »Geistern im Nebel« verschwanden, wie die Leute die unaufhaltsame Selbstauflösung dieser Armee bezeichneten. Chanta hatte Hang Son versprochen, jeden Mittag in der Nähe der Botschaft zu erscheinen, damit sie sich verständigen konnten.

»Es wird kaum noch einen solchen Mittag geben«, belehrte ihn Keat Sambath. »Was meinst du, weshalb ich mitten in der Nacht hier herumsitze, statt zu schlafen? Drei Stunden nach Sonnenaufgang kommt der erste Hubschrauber.«

»Verstärkung?« Hang Son glaubte zwar nicht, daß mit amerikanischen Verstärkungen auf diesem Kriegsschauplatz noch etwas zu ändern wäre, aber er hielt es immerhin für möglich, daß es zu einer letzten Demonstration amerikanischer Militärmacht kam. Keat Sambath schüttelte den Kopf. »Ab neun läuft die Evakuierung. Da sich der Flugplatz Pochentong bereits in den Händen der Roten befindet, wird es von hier aus gemacht. Ich bin eben mit meinen eigenen Vorbereitungen fertig gewesen, als du am Tor ankamst …«

»Du fliegst mit aus?« Hang Son erschrak. Er hatte sich auf Keat Sambath verlassen, weil dieser ihm vor einiger Zeit gesagt hatte, mit ihm zusammen gäbe es einen Weg, das näherrückende Chaos zu überstehen. Nun winkte Keat Sambath ab, als er sah, wie betroffen Hang Son reagierte. »Ganz ruhig, ich bleibe hier. Und es verläuft alles so, wie ich es geplant hatte. Nur – morgen mittag, wenn deine Freundin kommt, sind wir leider nicht mehr hier!« – »Nicht mehr hier …«, wiederholte Hang Son abwesend, während er den Zigarettenrest ausdrückte. Keat Sambath kämmte sich vor einem Spiegel das ungewohnt kurz geschnittene Haar. Erst jetzt bemerkte Hang Son, daß er sich eine nahezu militärische Frisur zugelegt hatte. An der Tür der Kammer standen ein paar Taschen aus grünem Segeltuch, vollgepackt wohl mit dem, was Keat Sambath auf der Flucht zu brauchen glaubte. Er war ein erfahrener Mann, er würde sorgfältig ausgewählt haben. Ein Transistorradio von Handtellergröße lag auf dem Tisch, Keat Sambath stellte daran herum, bis er Radio Stars and Stripes eingefangen hatte, die amerikanische Militärstation, die jetzt schon nicht mehr von Saigon aus sendete, sondern von einem Schiff auf hoher See.

»Hör zu und rufe mich, wenn etwas Wichtiges kommt«, schärfte er Hang Son ein. »Ich muß noch etwas an den Lastwagen erledigen.« Er schob ihm Zigaretten und ein Pack Cola-Büchsen hin, ebenso eine Rolle amerikanischer Keks, dann ging er nach draußen, in die Halle. Hang Son konnte ihn noch durch die Scheibe beobachten, bis er zwischen den Fahrzeugen verschwand, dann griff er sich das kleine Radio. Musik ertönte, vietnamesisch gesungene Tanzschlager. Die Sprecherin, die sich zwischen den einzelnen Stücken meldete, war heiser. Sie sagte die Zeit an, von Nachrichten war nichts zu hören.

Hang Song, der noch Anfang des Jahres geplant hatte, mit seiner Freundin Chanta zusammen seinen zwanzigsten Geburtstag und zugleich ihre Verlobung im Restaurant des Mondial zu feiern, hatte diesen Plan vor einer Woche aufgeben müssen, wenige Tage, bevor er hatte realisiert werden sollen. Ein Bote war mit der gedruckten Aufforderung erschienen, sich im Olympiastadion zu melden, als Wehrpflichtiger, der bisher freigestellt gewesen war, weil der Besitzer des Mondial hohe Schmiergelder zahlte, um seinen Koch nicht zu verlieren. Der Mann, der die Schmiergelder bisher kassierte, war anscheinend inzwischen geflohen, und so genoß Hang Son plötzlich keinen Vorteil mehr. Aber er war von jeher fest entschlossen gewesen, nicht mit Lon Nols Armee in den Krieg zu ziehen. Das hatte weniger mit Lon Nol zu tun als mit dem Krieg selbst. Schon während der letzten Jahre des Prinzenregimes war Hang Son in einen gewissen Zwiespalt geraten. Einerseits spürte er, daß der vollmundige Propagandafeldzug Sihanouks gegen die einheimischen Kommunisten dem Land Schaden brachte. Abgesehen von vielen Leuten, die über Nacht in Gefängnissen verschwanden, verließen immer mehr Linke die Hauptstadt und versteckten sich in schwer zu kontrollierenden Gegenden im Norden und Nordosten, manche emigrierten sogar nach Nordvietnam.

Andrerseits schlossen sich Gruppen von Widerstandswilligen im Lande zusammen und bewaffneten sich, um gegen Sihanouks Verfolgungen geschützt zu sein. Die Nation spaltete sich zunehmend. Zwar konnte niemand übersehen, daß derselbe Sihanouk öffentlich immer schärfer die Amerikaner kritisierte, die im Nachbarland einen Kolonialkrieg führten, der Kambodschas Grenzen nicht schonte. Aber man hörte auch, Sihanouk weise seine Armee an, schonungslos Kommunisten zu verfolgen. Dieser Umstand verstärkte bei Hang Son die Abneigung, Soldat zu werden – nicht wenige seiner Schulfreunde tendierten zu den Linken, sie bezeichneten den Staatschef als einen Mann mit vielen Gesichtern, der sich mit den Amerikanern nur deshalb nicht arrangieren wollte, weil diese seine Eitelkeit verletzten. Studenten, die aus sozialistischen Ländern in Europa in die Heimat zurückkehrten, erzählten von den Vorteilen eines Gesellschaftssystems, in dem nicht mehr der einzelne mächtige »Monseigneur« alles zu bestimmen hatte, sondern die Bevölkerung sich selbst durch das Gewicht ihrer Organisationen das Leben einrichtete. Dies alles erzeugte bei Hang Son wie bei vielen jungen Leuten seiner Generation Unruhe, aber es gab kaum jemanden, der imstande war, ihre Verwirrung zu klären, und so blieben Mißtrauen, Gleichgültigkeit gegenüber allem, was von der Obrigkeit gesagt wurde.

Hang Son war das einzige Kind einer Tagelöhnerfamilie, die in einem Pfahlhaus am Rande der Wassersiedlung Beng Kak lebte. Der Vater starb am Fieber, die Mutter an einer inneren Krankheit, die zu spät erkannt worden war. Verwandte hatten den Jungen, der schon als Kind in einer Selbsthilfeküche am Beng Kak mitgearbeitet hatte, ins Mondial vermittelt, wo er schnell lernte und der chinesische Besitzer ihm nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Stelle eines Kochs gab, als sie frei wurde. Seitdem war Hang Son, was Essen und Unterkunft betraf, ohne Sorgen gewesen. Er hatte sich mit Chanta angefreundet, der Schwester eines Schulfreundes, der in Europa Musik studierte. Dann war der Putsch gekommen, vor fünf Jahren, während Sihanouk sich auf einer Erholungsreise in Frankreich befand. Aber diese Veränderung in der Regierung hatte alle Widersprüche im Lande der Khmer noch verstärkt. Lon Nol, der neue Staatschef, öffnete die Ostgrenzen für die Amerikaner und die Saigoner Truppen, die eigene Armee engagierte sich immer stärker in einem Bürgerkrieg gegen die Rebellen und die Linken. Doch die organisierten Rebellen waren nicht mehr zu besiegen. Sie kontrollierten in wachsendem Maße die ländlichen Gegenden Kambodschas, zuletzt verblieben Lon Nol nur noch die Hauptstadt und – tagsüber – ein Streifen Gelände entlang der Straße nach Battambang sowie ein unsicherer Verbindungsweg bis zum Hafen Sihanoukville, der nun wieder Kompong Som hieß. Es half nichts, daß Lon Nol immer mehr fremde Truppen in sein Reservat holte, immer mehr Munition und Waffen nach Phnom Penh schaffen ließ und daß die B-52 der Amerikaner in seinem Auftrag riesige Gebiete, in denen sich angeblich Rebellen herumtrieben, mit Flächenbombardements verwüsteten – jene Leute, die in der Hauptstadt vereinfachend »Khmer Rouges« genannt wurden, in Anlehnung an die lange gepflegte französische Sprachtradition, hatten den gegen sie gerichteten Bürgerkrieg für sich entschieden.

»Jetzt noch Soldat werden? Wozu? Und für wen?« hatte Hang Son Chanta gefragt, das zierliche, dunkeläugige Mädchen, das in der ehemals königlichen Ballettschule unweit des Tonle-Sap-Ufers im Südteil der Stadt arbeitete und in der Nähe auch eine Unterkunft besaß. Chanta hatte nur den Kopf geschüttelt, sie war Hang Sons Meinung gewesen, man wird nicht Soldat in einer Armee, nur weil andere Leute das wollen, man muß schon für das einzutreten bereit sein, was diese Armee schützt, und das war der junge Mann nicht. Chanta hatte ihn bei sich versteckt, in dem Wohnheim unweit ihrer Arbeitsstelle, aber dort blieb nicht verborgen, wer sich bei dem Mädchen aufhielt, und so war die Patrouille der Militärpolizei gekommen. Nun mußte sich erweisen, ob das Angebot Keat Sambaths etwas wert war. Damals hatte er angedeutet, mit ihm zusammen könne Hang Song die bevorstehenden neuen Umwälzungen überleben. Einzelheiten hatte er nicht verlauten lassen, nur daß Hang Son seinen Beruf als Koch würde ausüben können. Doch was immer er ihm anbot, Hang Son würde es heute akzeptieren, er war ein Gejagter. Griff man ihn auf, als Verweigerer des Militärdienstes, würde man ihn kurzerhand erschießen. Damit verglichen, war selbst eine schlechte Chance immer noch die Rettung!

»Rote Truppen haben den wichtigen Straßenknotenpunkt Xuan Loc, etwa fünfzig Meilen östlich von Saigon eingeschlossen und beschießen die Stadt mit Artillerie und Raketen. Annähernd fünfundzwanzigtausend Soldaten der Republik Vietnam leisten ihnen erbitterten Widerstand, darunter Saigoner Elitetruppen. Wenn Xuan Loc fällt, können die roten Verbände innerhalb weniger Stunden vor Saigon stehen …« Hang Son drehte am Lautstärkeregler, bis er den Sprecher deutlich hören konnte. Aber es kam nur noch einiges über die hoffnungslos werdende Situation der Saigoner Truppen, nichts über Kambodscha. Keat Sambath hatte behauptet, am Morgen werde die Evakuierung der US-Botschaft in Phnom Penh beginnen. Er mußte es wissen. Außerdem klang es wahrscheinlich, gemessen an dem Fiasko, das sich in Saigon anbahnte. Warum nur hatte Keat Sambath immer noch nicht gesagt, auf welche Weise er sich aus dem allgemeinen Zusammenbruch retten wollte? Es hieß, die Rebellen wären erbarmungslos, besonders gegen die Bevölkerung in den Städten. Wer auch nur ein Radio besaß, galt für sie als Kapitalist und würde bestraft werden. Viele Leute glaubten das nicht, sie hofften auf ein Ende der Kämpfe und die damit verbundene Befreiung von den Amerikanern und Saigonern. Und sie behaupteten, die Rebellen seien die einzige Hoffnung, die es für Kambodscha noch gäbe, sie würden endlich Freiheit und Gerechtigkeit bringen, mit der Korruption Schluß machen, jeder würde Arbeit haben, und der Hunger, der die Städter seit Monaten plagte, sollte vergehen …

Draußen kroch Keat Sambath unter die Plane eines Lastwagens. Er hängte eine Handlampe an eine Strebe und vergewisserte sich, daß die Ladung aus Kisten und Blechbehältern noch Platz für ein halbes Dutzend Männer ließ. Alles schien in Ordnung zu sein. Zuletzt erinnerte sich der trotz seiner Khakikleidung und obwohl er verschwitzt war, immer noch geradezu elegant wirkende Mann an den jungen Koch aus dem Mondial, der in der Kammer wartete. Ein Koch! Man würde ihn brauchen. Gut, daß er in letzter Minute noch gekommen war. Dieser Hang Son war aus dem Holz geschnitzt, aus dem sich gute, folgsame Soldaten machen ließen, vorausgesetzt, man konnte ihnen beibringen, daß sie sich auf der richtigen Seite befanden. Aber das würde gelingen. Keat Sambath dachte noch daran, wie er ihn das erste Mal gesehen hatte. Das war damals gewesen, als er nach einem langen und entscheidenden Gespräch mit Mister Barber, der dafür eigens aus Saigon herübergekommen war, gegen Abend im Mondial landete, um mit dem Amerikaner etwas zu essen. Die beiden wollten noch ins Etablissement der Madame Hu, wo man sich garantiert hygienisch einwandfrei mit ungewöhnlich jungen Mädchen vergnügen konnte, die, eben erst aus entlegenen Provinzen kommend, in diesem französisch aufgemachten Bordell in der Nähe der Kais das gefunden hatten, was Madame Hu Arbeit nannte. Keat Sambath hatte das Haus empfohlen, er kannte den Arzt, der dort die Tests vornahm, und der teilte ihm vor solchen Besuchen stets mit, welche der Mädchen er am Vormittag in seinem Labor gehabt hatte, mit negativem Befund des Abstrichs. Nie im Leben wäre Mister Barber, der sein Büro inzwischen nach Thailand verlegt hatte, ausgerechnet nach Phnom Penh gereist, nur um sich mit Mädchen zu vergnügen, selbst unter dem Aspekt garantierter Keimfreiheit – nein, er hatte mit Keat Sambath wichtige Einzelheiten über dessen Tätigkeit in der ferneren Zukunft zu besprechen gehabt, und der Besuch eines Bordells machte sich immer gut als krönender Abschluß solcher Besprechungen.

Keat Sambath war eine der Schlüsselfiguren für manches, was der amerikanische Geheimdienst für die Zukunft in Kambodscha vorhatte. Nach langem Auslandsaufenthalt hatte man ihn unauffällig hierher zurückschleusen können. Ursprünglich war Mister Barber skeptisch gewesen, was diesen Mann betraf. Es war etwas mehr als zehn Jahre her, da war er eines Tages in Saigon aufgetaucht, ein junger Student der Pädagogik, den man von seiner Hochschule in Phnom Penh geworfen hatte, wegen angeblich »imperialistischer Neigungen«. Er hatte Verwandte in Saigon, die standen dort bei einer Exilorganisation von Kambodschanern, die sich »Khmer Serai« nannte. Da diese Exilorganisation ebenso unauffällig wie verläßlich die nach Kambodscha hineinreichenden Interessen der Amerikaner vertrat, pries ein Verbindungsmann eines Tages Mister Barber, der in der US-Botschaft einen Posten als Tarnung für seine operative Tätigkeit bei der CIA bekleidete, die hervorragenden Eigenschaften Keat Sambaths an. Er sei verläßlich, fähig, und man könne so gut wie alles von ihm verlangen, bei angemessener Bezahlung. Das waren Voraussetzungen, um einen CIA-Mitarbeiter zu formen.

»Was ist das für einer?« wollte Mister Barber zunächst wissen. »Jeans-Fan mit Vorliebe für Cola?«

Mister Barber verlor bald sein Mißtrauen gegen einen Mann, den er nicht selbst ausfindig gemacht hatte, sondern der von Bekannten offeriert wurde. Der junge Mann war nämlich der Neffe eines Exilanten, den Son Ngoc Thanh, der Anführer der »Khmer Serai«, angeworben hatte, und zwar zu jener Zeit, als er noch Außenminister einer vom Prinzen Sihanouk geführten Regierung in Phnom Penh war. Diese Regierung hatte von Japans Gnaden gelebt, und das einige Monate vor dem Ende des zweiten Weltkrieges, der Japans Rolle als Gendarm Asiens beendete. Eigentlich war Son Ngoc Thanh damals Rivale des Prinzen Sihanouk gewesen, er hatte in der Mitte der dreißiger Jahre, als Kambodscha noch französische Kolonie war, Rebellen um sich geschart, die von der Kolonialmacht Frankreich die Unabhängigkeit verlangten. Zur Unterstützung seiner Sache gründete er eine Zeitung, die erste, die es in der Sprache der Khmer gab, und die Bewegung breitete sich aus. Mit dem Eintritt Japans in den zweiten Weltkrieg veränderte sich die Lage in Indochina. Japan setzte die französische Kolonialverwaltungen – obwohl diese zum profaschistischen Vichy-Regime tendierten – unter Druck und verschaffte sich damit strategische Vorteile. Den Kolonialfranzosen war daran gelegen, das Verhältnis zu den Japanern möglichst in der Schwebe zu halten, um nicht völlig aus Indochina hinausgeworfen zu werden. So traten sie Teile ihrer Kolonie Kambodscha an das mit Japan befreundete Thailand ab, und sie mußten erleben, daß dies der nationalistischen Bewegung, in der auch Son Ngoc Thanh operierte, Auftrieb gab. Sie dachten sich einen Schachzug aus. Als der alte Khmer-König Monivong, der völlig kaltgestellt war, starb, setzten sie Prinz Sihanouk, der in Saigon ein Gymnasium absolvierte, als Nachfolger ein. Von Sihanouk war bekannt, daß er frankophil war und, was nicht weniger zählte, bereits in jungen Jahren erstaunliche Fähigkeiten zur politischen Intrige offenbarte. Er ließ sich auf den Handel mit den Franzosen ein, aber es zeigte sich bald, daß die Franzosen ihn unterschätzt hatten. Er respektierte die Kolonialherren nach außen, während er über eine Menge geheimer Kanäle den Aufstand gegen sie unterstützte, um sie schließlich wissen zu lassen, er allein, Prinz Sihanouk, dem sein Volk aufs Wort gehorche, könne sich für ihren unbehinderten Abzug verbürgen. Falls sie jedoch blieben, könne auch er den Zorn des Volkes nicht mehr aufhalten.

Die Japaner, auf ungestörte Verbindungslinien zu ihrer Front in Burma bedacht, beobachteten die Vorgänge äußerst mißtrauisch. Einen Monat bevor der zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging, machten sie einen verzweifelten Versuch, sich selbst als Befreier Kambodschas aufzuspielen und ihre Position im Lande dadurch aufzubessern, daß sie in einer Nacht- und Nebelaktion die Reste der französischen Truppen entwaffneten und die Kolonialverwaltung absetzten. Vichy gab es ohnehin nicht mehr. Prinz Sihanouk sah sich plötzlich in der peinlichen Situation, die von ihm angestrebte Unabhängigkeit ausgerechnet aus den Händen der japanischen Eroberer zu erhalten, und das gegen Ende ihrer Herrschaft. Aber er nahm sie und blieb gegenüber den Tenno-Truppen zurückhaltend. Um diese Zeit kehrte der ehemalige Rebellenführer Son Ngoc Thanh von einem zweijährigen Studium in Japan zurück, einer Bildungsexkursion, wie Japan sie für künftig projapanische Politiker organisierte. Sihanouk, der diesem Rebellen nicht traute, machte ihn, weil er damit den Japanern Dankbarkeit demonstrieren konnte, zum Außenminister, später sogar zum Premier, er wollte wohl auch den Einfluß des Rebellenführers für sich nutzen. Die Kapitulation der Japaner aber und die Rückkehr der Franzosen als Protektoratsmacht, mit der sich Sihanouk in der Folge arrangierte und von der er schließlich die Unabhängigkeit erreichte, beendeten die Karriere Son Ngoc Thanhs als Staatsmann. Er wurde für zwei Jahre von den Franzosen als Kollaborateur in Haft gehalten, dann verlor sich seine Spur zunächst in Thailand, bis er nach dem endgültigen Abzug der Franzosen eines Tages in Saigon auftauchte, wo sich inzwischen die Amerikaner etablierten. Sie konnten Son Ngoc Thanh und die von ihm wieder aktivierte Rebellenorganisation »Khmer Serai«, die streng antikommunistisch war, vorzüglich verwenden, allerdings veränderten sie ihre Tätigkeitsmerkmale stark. Es war nun nicht mehr eine politische Vereinigung, die für ihre Ideen demonstrativ eintrat, sondern es handelte sich nach amerikanischer Einflußnahme um eine Geheimorganisation, deren Mitglieder intensiv in den Methoden des verdeckten Kampfes ausgebildet wurden und deren Tätigkeit weit in die Zukunft zielte. Son Ngoc Thanh wurde zum Vertrauten des amerikanischen Geheimdienstes CIA, der fortan die Tätigkeit der »Khmer Serai« leitete und auch finanzierte.

»Neffe eines persönlichen Freundes von Son Ngoc Thanh?« erkundigte sich Mister Barber, dem die Anleitung der »Khmer Serai« in Saigon oblag und dem ein weiteres Kontingent unterstand, das in Thailand untergebracht war. Als ihm bestätigt wurde, daß der junge Pädagogikstudent in der Tat die besten Referenzen besaß, leitete Barber trotzdem noch eine Ermittlung in Phnom Penh ein, von wo er erfuhr, daß Keat Sambath als »offener Freund der amerikanischen Imperialisten und ihrer Lebensweise« von der Hochschule geworfen worden war. Wegen des Tragens verschiedener US-Attribute an seiner Kleidung kritisiert, hatte er dem Dekan zur Antwort gegeben, er solle, wenn er Lust habe, seinen Hintern küssen. Das genügte. Barber beorderte ihn zu sich. Schließlich kannte der Bursche Phnom Penh wie seine Westentasche.

Nach Lon Nols Putsch war der Weg von Saigon nach Kambodscha offen. Nicht nur Waffen, Munition und Ausrüstung für Lon Nol, nicht nur Offizielle, die als Berater in Lon Nols Streitkräften arbeiteten, auch Gruppen bewaffneter, blendend trainierter Khmer-Serai-Leute wurden nach Kambodscha verfrachtet, mehr als tausend Mann. Und Son Ngoc Thanh kehrte zurück. Ohne Ovationen. Es war eine eigenartige Situation entstanden. Ein reichliches halbes Jahr nach seinem geglückten Putsch erlitt General Lon Nol einen Schlaganfall, ein weiteres halbes Jahr danach war er als hinkender, vor sich hin brabbelnder Krüppel zwar wieder einigermaßen vorzeigbar, aber unfähig zu komplizierten Entscheidungen. Zudem steigerte er sich weiter in schon gepflegte abergläubische Vorstellungen und verlor den Sinn für Realitäten. Zuerst veranlaßten die Amerikaner deshalb, daß er zum Marshall ernannt wurde, was ihn von der praktischen Politik distanzierte. Danach wurde er Präsident der Republik. Die Politik machte, als Premier, nun Son Ngoc Thanh.

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