Eine von den Vermissten

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Eine von den Vermissten
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Harry Peh

Eine von den Vermissten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Es verschwindet

1. Tag

2. Tag

3. Tag

4. Tag

5. Tag

6. Tag

7. Tag

Die 2. Woche

Die 3. Woche

Die 4. Woche

Der 2. Monat

Der 3. Monat

Der 4. Monat

Der 5. Monat

Der 7. Monat

Der 8. Monat

Der 9. Monat

Impressum neobooks

Es verschwindet

Als ich die beiden jungen Polizisten in der Eingangshalle der Wache nach der Zuständigkeit für vermisste Personen fragte, war mein Leben im Begriff zu enden während ihres vermutlich gerade erst richtig begann.

Sie brachten mich in einen ungefähr sechzehn Quadratmeter großen Raum. Für meinen Geschmack war er etwas zu dunkel, mit viel zu alten Möbeln eingerichtet, und roch außerdem muffig. Vielleicht wurde er ja auch nicht so häufig benutzt oder diente eigentlich als Abstellraum, den die Polizei bei Bedarf dann und wann als Gesprächszimmer reaktivierte. Wie dem auch sei, ich fühlte mich von Anfang an unwohl, verdrängte diese Nebensächlichkeit aber gleich, weil es um etwas viel Wichtigeres ging: Meine Tochter Maria.

Meine Tochter war seit etwa drei Stunden überfällig und ich machte mir große Sorgen. Nachdem ich mich versichert hatte, dass Maria weder bei meinem Mann oder meiner Schwester, meiner Mutter, in der Schule, oder bei einer ihrer Freundinnen war, beruhigte ich mich zunächst mit einer extra halben Stunde des Wartens, dann mit noch einer. Ich starrte pausenlos aus dem Küchenfenster den Weg hinauf bis die leichte Wegbiegung hinter dem Hügel verschwindet. An diesem Punkt, dachte ich, müsste sie eigentlich jeden Moment auftauchen. Wenn ich zurück auf die Terrasse ging, oder auf die Toilette, oder zum Kühlschrank, bei jedem Geräusch unterbrach ich das, was ich gerade tat oder tun wollte und eilte zum Fenster. Doch mein Kind kam nicht.

Ein fettleibiger, etwas ungepflegter Beamter deutete mir ohne Umschweife mich zu setzen. Es käme ja leider immer häufiger vor, dass hysterische Mütter sofort zur Polizei rannten, wenn ihre Gören sich mal verlaufen hätten, grunzte er in seine schwülstige Halspartie. Und außerdem hätten er und die Kollegen ja auch noch etwas anderes zu tun als Vermisstenanzeigen aufzunehmen, die sich hinterher sowieso in Luft auflösten. Mein Puls erhöhte sich merklich, doch entgegnete ich nichts. Durch meinen Beruf bin ich es gewohnt, mit Ignoranten umzugehen und sie trotz ihrer Borniertheit dort hin zu bringen, wo ich sie hinhaben wollte, machte einen Teil meines beruflichen Erfolges aus. Ich schlug ein Bein über das andere und lehnte mich so entspannt es ging an die harte Lehne des Holzstuhles. Er starrte einen Moment auf mein Knie und leckte sich über seine Lippen. Zwei weitere Beamte betraten den Raum, kramten irgendwelche Formulare aus einem Holzschrank hervor, der mich irgendwie an meine Schulzeit erinnerte. Auch sie schienen mich zu mustern. Als sie sich umdrehten, blieben sie noch einen Moment in der Tür stehen und tuschelten sich etwas zu, das ich nicht verstand. Mit dem Rücken zu ihnen gedreht, spürte ich aber, dass sie sich darüber unterhielten, wie es wohl mit mir im Bett sei.

Der Beamte spannte drei identische Formularsätze, die er akribisch mit Blaupapier getrennt hatte, in eine alte, mechanische Schreibmaschine. Er stellte sich dabei sehr ungeschickt an, musste sein Unterfangen zweimal wiederholen und kam mir vor wie ein Kind, das versucht, eine Lokomotive auf eine Schiene zu setzen. Ich musste mein Lachen unterdrücken. Um mich abzulenken und zu sammeln, schloss ich einen Moment die Augen. Dann betrachtete ich das Zimmer. Die schäbigen Wände säumten verschiedene Motive von polizeilichen Aufklärungs- und Hinweispostern, die allesamt etwas abgewetzt, mit verblichenen Farben fast alles ihrer ohnehin nie dagewesenen Glaubwürdigkeit verloren hatten. Links von mir stand an der Wand ein mittelgroßer Holztisch, mit zerkratzter und abgenutzter Platte, den man zur Vermeidung des Kippelns unter zwei Beinen mit irgendwelchen zusammengefalteten Formularen abgestützt hatte. Zur Beleuchtung des Raumes hing eine nackte Glühbirne tief von der Decke. Die Armaturen und das Abflussrohr des Waschbeckens waren so weiß von Kalkrückständen und außerdem mit dunklen Rändern überzogen, dass ich daran zweifelte, ob überhaupt noch Wasser fließen würde.

Von ihm aus könne man jetzt beginnen. Der Beamte fragte zunächst wie es denn hieß, das Mädel. Dann Alter, Adresse und Größe. Und ob es ein Handy hätte. Sei doch heute Gang und gebe, dass die Alten Hunderte von Euro monatlich fürs Telefonieren der Gören ausgaben. Nur wenn man sie mal erreichen wollte, gingen sie nicht ran. Ja, ja, die Jugend von heute… Ich bestätigte, dass ich meiner Tochter bereits mehrfach auf die Mailbox gesprochen hatte. Ein sichtlich freundlicher, fast herzlicher Ausdruck legte sich jetzt auf sein Gesicht. Er meinte, ich hätte seine allgemeinen Ansichten bestätigt und wie zur Selbstbeweihräucherung streichelte er mit der rechten Hand seinen Bauch, so als habe ihm etwas gut geschmeckt. Er wollte wissen, ob ich denn schon alle Möglichkeiten seines eventuellen Verbleibens 'gecheckt' hätte, 'Omma, Oppa und die ganze Famille'. Ich sagte, dass niemand in der Familie von ihr etwas gehört hatte, dass ich bereits in der Schule mit den Lehrern gesprochen und außerdem die Eltern ihrer Freundinnen angerufen hatte. Sie hätte mir das sowieso gesagt, fügte ich nach einer Pause hinzu. Na, dass ich mir da mal nicht so sicher sein sollte. Heutzutage wüssten doch die meisten Eltern gar nicht, was die Gören so alles anstellten. Jedes Kind machte dieses und jenes, nur das eigene nie! Er kenne das. Was ich wohl meinte, wie viele Eltern aus allen Wolken fielen, wenn man ihre Gören beim Klauen, beim Schwänzen oder beim Haschen erwischt? Ich würde es ja gar nicht glauben! Doch in Mutmaßungen solle man sich hier nicht ergehen. Ob ich denn auch an die Möglichkeit eines Freundes gedacht hätte? Heutzutage - und hier unterbrach er, um das genaue Alter von Maria noch einmal nachzurechnen - fingen sie ja früh an, die Gören. Ich sagte ihm, dass meine Tochter gerade elf geworden ist und sich für Jungen noch nicht interessierte, dass sie den Nachmittag lieber mit den Pferden verbrachte. 'Pferde!' wiederholte er und lächelte ein wenig. Diesen Fall könne man geradezu als klassisch bezeichnen. Ja, ja, erzählen, sie sind bei den Pferden und in Wirklichkeit drücken sie sich mit einem Bengel auf 'ner Matratze rum. Er kenne das zur Genüge. Ob es denn mit mir schon über die Pille gesprochen hätte. Ich war für einen Moment sprachlos. Jetzt müsste ich wohl doch eine andere Form anmahnen. Der Beamte fuhr in seinen Betrachtungen fort. Vielleicht sei sie ja auch mit der Erziehung nicht einverstanden und wollte abhauen. Er fragte, ob mein Verhältnis zu dem Mädchen normal sei. Außerdem wollte er wissen, wie es in der Schule mitkomme. Ich sagte, dass es keine Probleme gibt, weder zu Hause, noch in der Schule. Da könne ich mal sehen, wie schnell man sich täuschen kann. Die meisten Leute berichteten von einer häuslichen Idylle, während sie vor ihm saßen. Aber ich bräuchte mir bestimmt keine Sorgen machen. Er wies darauf hin, dass ich ihn doch bitte kurz anrufen solle, damit er den Vorgang wegschmeißen könne, denn sicherlich wartete es bereits zu Hause auf mich.

Doch wartete zu Hause niemand auf mich, am allerwenigsten mein Kind. Den Rest des Tages wartete ich am Fenster der Küche auf Maria oder telefonierte alle zehn Minuten mit den Menschen, die ich bereits fünfzig Mal angerufen hatte. Die ganze Nacht saß ich in der Küche und betete, meine Tochter möge doch kommen. Doch sie kam nicht. Kein Zeichen, kein Anruf, keine Spur. Als der neue Tag anbrach, hockte ich noch immer vor dem Fenster. Alles war so wie immer. Die Nachbarn gingen wie gewöhnlich vorüber und grüßten. Aus der Ferne konnte man wie immer das Geräusch der großen Stadt vernehmen. Die Bäume und Blumen wiegten sich in den Wind wie immer. Nur Maria fehlte.

1. Tag

Mein Kind ist entführt worden. Auch wenn sich noch niemand bei uns gemeldet hat und irgendwelche Forderungen stellte, weiß ich, dass jemand mein Kind entführt hat. Soviel ist immerhin gewiss. Die Menschen sagen immer, das Schlimmste sei die Ungewissheit. Für mich gilt das nicht. Für mich war diese Gewissheit das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Zu wissen, definitiv zu wissen, dass irgendjemand da draußen, meine Tochter, mein Mädchen, mein Baby entführt hat, treibt einen in den Wahnsinn. Warum passiert das nur mir? Oder ich müsste besser sagen: Uns. Denn mein Mann ist genauso verzweifelt wie ich, obwohl sich diese Verzweiflung bei ihm anders darstellt. Ich glaube, das liegt an der völlig unterschiedlichen emotionalen und intellektuellen Wahrnehmung von Männern und Frauen. Er versucht mich zu trösten, mir Mut zuzusprechen, mich aufzubauen. Natürlich kann er das nicht. Ich kann es ja selbst nicht. Dabei gelingt es ihm zumindest nach außen, sein normal geregeltes Leben weiterzuführen. Das unterscheidet uns. Ich kann das nicht. Und ich will es auch nicht. Ich will nur, dass meine Tochter zurückkommt.

 

Ich frage mich erneut: Warum passiert das gerade uns? Ich habe niemandem etwas getan, jedenfalls nicht bewusst oder bösartig. Meines Erachtens gilt das auch für meinen Mann. Und für Maria sowieso. Was sollte meine Tochter überhaupt irgendjemandem antun können? Jetzt - vielleicht sogar exakt in diesem Moment - tut irgendjemand meiner Tochter etwas an. Vielleicht friert sie, hat Hunger oder Durst oder alles zusammen. Wahrscheinlich alles zusammen. Und sie muss Angst haben, furchtbare Angst. Ich fühle, dass sie Angst hat. Hoffentlich wird ihr nichts angetan. Der Gedanke, jemand würde meiner Tochter wehtun, tut mir weh. Er tut mir so weh, dass er mich tötet. Er ist überall, im Kopf, im Herzen, in den Augen, der Nase, den Ohren, meinen Fingerspitzen, überall an der Haut. Er sitzt in den Gelenken, auf den Knochen, in jeder Ritze und in jeder Körperöffnung. Und man kann ihn nicht beseitigen. Ich habe das auch nicht geglaubt und nicht gehofft. Aber ich habe gedacht, bei dem lausigen Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde, also bei dem Wind und endlosem Regen, dass man ein wenig klarer und schmerzbefreiter die Dinge betrachten könnte. Doch das stimmt nicht. Der Schmerz ist immer dabei und selbst der Wind wiegt ihn in den Haaren, wenn man durchnässt in das Haus zurückkehrt.

Warum passiert das gerade uns? Je länger sich diese Frage in meinem Hirn festnagelt, desto mehr hasse ich mich und die Beschäftigung mit ihr und schließlich hasse ich die Frage selbst, die Frage an sich. Sie ist absurd, und zwar in doppeltem Sinne. Erstens, weil uns ja eigentlich gar nichts passiert. Es passiert Maria, meiner Tochter, meinem Kind. Sie ist irgendwo da draußen, allein und niemand ist bei ihr. Warum bin ich nicht bei ihr? Warum habe ich genau in diesem Moment versagt, versagt als sie jemand gewaltsam verschleppte? In wie vielen Momenten vorher habe ich in meinem Leben versagt, wo man sie gewaltsam hätte verschleppen können? Was hatte ich nur Wichtigeres zu tun als sie vor diesem oder diesen Irren zu schützen? Ich denke zu viel an mich.

Der zweite Grund, weshalb die Frage absurd ist, ist folgender: Wem außer uns soll denn so etwas passieren? Als würde ich irgendjemandem derartige Schmerzen wünschen! Das ist nicht der Fall. Und doch hofft man wie immer in einer solchen Situation, es möge nicht einen selbst, sondern den anderen treffen, obwohl man das nicht wirklich möchte. Wie oft denke ich, wenn ich von all den alltäglichen Katastrophen in den Zeitungen lese, wie oft denke ich bei all den Flugzeugkatastrophen, Überfällen, Gasexplosionen, Häuserbränden, Selbstmordattentaten, tödlichen Autounfällen und ähnlichem: Wie gut, dass Du und Deine Familie nicht betroffen sind oder dass ich froh bin, nicht zum Zeitpunkt der Tat vor Ort gewesen zu sein. Für den Moment beruhigt mich das. Es beruhigt mich, wenn die Toten oder die abtransportierten Leichenteile nicht das Antlitz meiner Lieben tragen. Es beruhigt mich, wenn das mit 200 Km/h unter den Laster geraste Auto nicht das meines Mannes ist. Wenn ich im Fernsehen das Auffinden eines vergewaltigten und erdrosselten Kindes verfolge, bin ich erschüttert und froh, dass es nicht mein eigenes ist. Ich habe mich noch nie gefragt, ob dieser Gedanke normal ist.

Die richtige Frage müsste also lauten: Warum passiert so etwas meinem Kind? Warum hat man nicht mich entführt? Wahrscheinlich ist das schwieriger. Ja, es ist schwieriger, eine erwachsene Frau zu entführen, weil sie sich wahrscheinlich wehren würde. Sie könnte treten, schlagen, kratzen und schreien. Vor allem schreien. Maria kann das auch. Aber nicht so laut und nachhaltig wie ich. Sie ist alles in allem wehrlos. Irgendwo habe ich einmal gelesen, es treibt geistesgestörte Triebtäter in eine Art prä-koitalen Zustand, wenn sein Opfer wehrlos ist. Dieses Gefühl der sicheren Überlegenheit der eigenen Macht paare sich mit einer Form der sexuellen Erregung. Man habe festgestellt - so hieß es in dem Artikel weiter - dass sich diese Art der Erregung nicht einstellt, wenn sich das Opfer wehrt oder vom potentiellen Täter als nicht oder nicht genügend wehrlos eingeschätzt wird. Wieder glaube ich, versagt zu haben. Ich hätte ihr von den ersten Kindestagen an beibringen müssen, zurückzuschlagen. Und zwar präventiv.

Ich erschrecke, als ich bemerke, dass meine Gedanken um einen Triebtäter kreisen. Nüchtern betrachtet, habe ich dafür keinen Anhaltspunkt. Vielleicht handelt es sich gar nicht um einen Triebtäter. Vielleicht sind es ja Entführer und wollen Geld. Wir sind nicht reich. Aber mein Mann und ich sind - jeder für sich - in unseren Berufen sehr erfolgreich und was andere Menschen als Reichtum betrachten würden, zähle ich dem gehobenen Mittelstand zu. Wir wohnen in einem schönen Haus, in einer guten Gegend. Wir fahren mehrere Autos. Wir besitzen außerdem ein Ferienhaus in der Toskana und mir gehört eine kleine Wohnung in Marbella. Ist als Altersvorsorge gedacht. Uns und unserer Tochter mangelt es an nichts. Wir machen einmal im Jahr gemeinsam Urlaub, soweit die Zeit es erlaubt. Alles in allem sind wir eine normale Familie wie jede andere auch. Sicherlich könnte man von uns eine bescheidene Menge Geld erpressen. Aber längst nicht so viel, um für den Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. Und für diesen Zweck begeht man doch Entführungen, nicht wahr? Man holt sich irgendwo einige Millionen und verschwindet dann im Ausland. Ich glaube nicht an eine Lösegelderpressung. Mein Gefühl sagt mir, dass ein gestörter Mensch meine Tochter in seiner Gewalt hat. Ich glaube, dass er ihr schrecklich wehtut. Und das tötet mich.

Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel und weine. Ich glaube, er wird mein Kind vergewaltigen oder tut es gerade oder hat es schon getan. Mein kleines Mädchen! Sie ist doch noch ein Kind und noch nicht im Ansatz als Frau ausgebildet. Ihre Brust formt sich erst und auch sonst ist sie von der Figur und Körpergröße her noch ein Kind. Ich versuche mir exakt den Moment in Erinnerung zu rufen, wann ich Maria das letzte Mal nackt gesehen habe. Es gelingt mir nicht. Irgendwann in der letzten Woche. Aber wann genau? An welchem Tag? Um welche Uhrzeit? Mir wird schlecht. Ich muss mich übergeben und würge fünfzehn oder zwanzig Mal, vielleicht an die dreißig Mal bis nur noch eine kleines grün-weißes Schaumhäufchen der Galle im Waschbecken als kleines Rinnsal im Ausguss verschwindet.

Ich muss mich anbieten. Als Austauschgeisel sozusagen. Ich lasse über die Polizei und das Radio und das Fernsehen und über Zeitungen verbreiten, dass ich mich gegen mein Kind eintausche. Wenn der Täter ein sexuelles Interesse an meinem Kind hat, ist er eigentlich mit mir besser bedient. Ich bin 1,78 Meter groß, habe eine sehr gute Figur (das sagt jedenfalls jeder unserer Freunde und alle in der Firma) und sehe auch sonst gut aus. Meine Beine sind lang und attraktiv geformt. Das ist es doch, worauf Männer achten, oder? Einige meiner solventen Kunden haben mir traumhafte Angebote in Aussicht gestellt, ginge ich privat einmal mit ihnen aus. Und manche von ihnen sind sogar zudringlich geworden. Ich habe sie abgewehrt. Sanft aber bestimmt. Sie taten dann so, als sei alles nur ein Scherz gewesen. Ein Scherz in Champagnerlaune. Sie sind eben Gentlemen. Sie alle sagten, ich strahle das gewisse 'Etwas' aus. Schöne Oberweite, lange Beine und so weiter, und so weiter. Aber ich bin nicht auf Sex mit meinen Kunden aus und war es nie. Ich weiß gar nicht warum nicht. Alle in der Firma haben Verhältnisse hier und da, klagen mir in den kurzen Pausen ihren Kummer und ihr Leid, ständig mit Versprechungen hingehalten oder mit der Ehefrau verglichen zu werden. Mir ist das zu kompliziert. Wahrscheinlich bin ich nicht eitel oder selbstverliebt genug, um mich derart zu erniedrigen. Mit der Liebe zu meinem Mann hat das wenig zu tun. Auch wir haben bessere Zeiten erlebt, in jeder Hinsicht. Wir schlafen ein, zweimal pro Monat miteinander und obwohl mir das nicht ausreicht, habe ich mich damit arrangiert. Er ist ein anständiger Kerl, charakterlich okay und kümmert sich um die Familie. Mehr kann man heute nicht erwarten. Wenn der Triebtäter also Sex will, könnte er mich gegen mein Kind eintauschen. Wenn ich dafür von dem Triebtäter meine Tochter wiederbekomme, dann bitte sehr. Soll er mich doch benutzen, missbrauchen und vergewaltigen. Meinen persönlichen Schmerz kann ich ertragen, den meiner Tochter nicht. Mein Leben wäre zerstört, das meiner Tochter nicht. Sie ist doch noch ein Kind. Ich bin vierzig Jahre alt.

2. Tag

Ich wache auf und kann es kaum glauben: Es ist 4.12 Uhr und ich wache auf. Tatsächlich habe ich geschlafen, etwa zwei Stunden lang. Das kann nicht wahr sein. Wie kann eine Mutter in einer derartigen Situation schlafen? Alles hätte passieren können in diesen zwei Stunden, die Erpresser hätten sich melden, oder die Polizei hätte mir die Nachricht von Marias Tod überbringen können, ich hätte am Fenster wachen oder selbst nach ihr suchen können, oder Maria wäre gekommen und hätte mich geweckt, mich umarmt und mit Küssen geweckt. All das hätte passieren können und noch viel mehr. Und was mache ich? Ich schlafe. Aber das passt zu mir, denke ich plötzlich. Als würde sich mir mein eigenes Wesen nach vierzig Jahren innerhalb von nur eineinhalb Tagen vollständig offenbaren. Als würde erst jetzt die ganze erbärmliche Wahrheit über mich selbst bei mir ankommen. Warum sollte ich sie auch im Schlaf besser schützen können als im Wachzustand? Ich war unfähig, ihr Verschwinden bei Tage zu verhindern, also kann ich nachts auch getrost schlafen. Das scheint ja wohl die Message zu sein. Ich habe nie an Gott geglaubt. Jetzt straft er mich dafür, indem er mir des Menschen Schwäche und dessen Fehlbarkeit vor Augen hält. Ich habe auch nie gebetet. Weder bei Tisch noch in der Kirche. Auch wenn wir irgendwo zu einer Hochzeit eingeladen waren, habe ich in der Kirche nicht gebetet. Ich habe noch nicht einmal so getan als betete ich. Mein Mann hat das kritisiert. Er sagte, man solle den Gastgebern aus Höflichkeitsgründen das Gefühl der Anteilnahme geben. In den letzten eineinhalb Tagen habe ich gebetet. Ich habe immerzu gebetet. Ich habe gebetet wie verrückt. Aber Gott hat mich seiner Anteilnahme nicht versichert. Mein Mann hatte also recht. Jetzt verlange ich etwas, was ich vorher nicht gewähren wollte. Wie es in den Wald hinein schallt...

Vielleicht ist das die Strafe Gottes. Vielleicht hat er sich extra mich dafür ausgewählt. Wahrscheinlich gibt es ihn doch. Es gibt ihn in allen Kirchen und Huldigungsstätten dieser Welt und er beobachtet uns. Beobachtet uns, wie demütig wir sind. Ich war nie demütig. Nun lehrt er mich Demut. Und ich muss mich vor ihm verneigen. Ja ja, man könnte tatsächlich glauben, es gibt ihn. Aber nicht als Heilsbringer, so wie es manchmal von den Predigern verkündet wird. Sondern als strafenden Gott, wie es manchmal von den Predigern verkündet wird. Wenn ich noch niemals in der gesamten sogenannten Weltgeschichte eine einzige Heilsbotschaft gesehen oder gespürt habe, ein sogenanntes Wunder (für eine hundertstel Sekunde verspüre ich eine gewisse zynische Neigung zum Lachen, kann es aber nicht), seine Strafe, seinen Hass auf mich spüre ich. Ich kann ihn genau spüren, überall und jederzeit. Ich glaube sogar, dass er zu mir spricht. Aber ich kann nicht mit ihm sprechen. Ich kann ihn tausendmal in der Stunde fragen, wo meine Tochter ist und wann sie wiederkommt, aber er antwortet mir nicht. Und dann, wenn ich von vierundzwanzig Stunden des Tages, in seinen 1440 Minuten, an 86400 Sekunden ein einziges Mal nicht danach frage, dann, genau dann höre ich ihn leise den Namen meiner Tochter flüstern. Maria. Maria. Maria. Erst ganz leise und dann anschwellend bis das überlaute Echo seines Schreiens meinen Körper zerschmettert. Doch natürlich ist da nichts. Schon gar nicht Gott. Erst seit dem Verschwinden Marias weiß ich definitiv, dass es Gott nicht gibt.

 

Ich stehe auf. Mein Mann bemerkt mich nicht. Er schläft. Ich bin entsetzt. Ich stehe vor ihm und schaue auf ihn hinab. Ich beuge mich zu ihm hinunter. Aber er bemerkt es nicht. Unfassbar. Er schläft und schläft und schläft und schläft. Die Regelmäßigkeit seines Atems macht mich aggressiv. Er schläft so ruhig, er würde nicht im leisesten von meinen Vorbereitungen, ihn einfach zu erschlagen, mitbekommen. Er würde es erst merken, wenn er stirbt. Und dann könnte er genauso weiterschlafen wie bisher. Wenn er wenigstens im Schlaf wühlen würde, sich wälzen, schwer und unregelmäßig atmen oder ab und zu kleine Schreie der Angst, der Sorge oder nur ein kurzes Stöhnen von sich geben. Aber nein. Er schläft wie gewöhnlich. So wie immer.

Zunächst gehe ich am Bad vorbei, bis mir einfällt, dass ich mich seit zwei Tagen nicht gewaschen, gebürstet oder eingecremt habe. Auch trage ich das, was ich am Tag von Marias Verschwinden trug. Ich rieche an mir. Ich rieche an meinem Kleid. Mir fällt nichts Ungewöhnliches auf. Aber eigentlich müsste ein unangenehmer Geruch von mir ausgehen. Mindestens. Theoretisch müsste ich bereits stinken. Schweißgerüche, vermischt mit getrocknetem und abgestandenem Urin, vielleicht sogar der Geruch einsetzender Verwesung. Ich sollte meinen Mann danach fragen. Er würde lügen. Ich sehe das erste mal seit zwei Tagen in den Spiegel. Aber was ich sehe, bin nicht ich. Ich meine das nicht innerlich. Was ich sehe, bin nicht ich. Ich habe mich ganz anders in Erinnerung. Zunächst denke ich, dass es an der mangelnden Körperpflege liegen muss. Aber nein. Nachdem ich mir die Haare hochgesteckt habe und kaltes Wasser zehnmal mein Gesicht umspülte, nachdem ich mich langsam kreisend und tupfend mit einem frischen Handtuch abgetrocknet habe, sehe ich dieselbe äußerlich veränderte Frau. Mein Gesicht ist nicht nur alt geworden. Meine Augen sind geschwollen, rot unterlaufen und stumpf. Meine Wangen sind rot, aber weniger straff und leicht zurückgezogen als würden sie stündlich mehr einfallen. Übermorgen sind sie dann ganz weg. Übermorgen steht der Wangenknochen ganz heraus und die nackten Schädelkonturen werden sichtbar. Meine Lippen sind spröde und an zwei Stellen eingerissen. Ich glaube, sie haben an Volumen verloren. Die Mundwinkel hängen schlaff herunter und bilden Falten, Falten schimmernd in einem aschfahlen grau. Meine schönen Lippen! Ich habe, nein ich hatte, voluminöse Lippen. Sinnliche Lippen. Einen Mund, den mein Mann einmal gern geküsst hat.

Ich entdecke ein kleines dunkles Härchen auf meiner Wange. Das muss weg. Wenn ich schon an dem anderen nichts verändern kann, dieses kleine widerliche Ding muss weg. Sofort! Wie von Sinnen krame ich in der Schublade nach meinem Nageletui, ich atme schnell, ich stöhne, ich muss es finden, schnell, ganz schnell. Das Härchen muss weg. Die Schublade fällt zu Boden. Mein Fingernagel bricht ab als ich das Etui aufreiße. Die Pinzette verfehlt ihr Ziel und ich steche mir in die Wange. Das Blut kommt spät und langsam, aber es kommt. Wie erwartet. Dann reiße ich so fest es geht an dem Härchen. Erst beim dritten Versuch gibt es endlich nach. Auch diese Stelle beginnt zu bluten. Aber auf der roten Wange kann man das Blut kaum sehen.

Im Spiegel sehe ich meinen Mann im Baddurchgang stehen. Wortlos tritt er an mich heran und umarmt mich von hinten. Er küsst mich auf den Hals. Ich wende mich ein wenig ab. Dann gehen seine Hände unter mein Kleid. Er streift mir den Slip herunter. Meine Regel habe ich ganz vergessen als ich den roten Streifen in meinem Höschen sehe. Ich spüre seinen harten Schwanz. Er versucht tatsächlich in mich einzudringen. Ich möchte jetzt nicht. Ich möchte jetzt keinen Sex. Aber ich kann mich nicht bewegen und ich kann nicht sprechen. Er wird hektisch und versucht immer wieder ihn reinzustecken. Er steht jetzt genau davor, doch meine Lippen sind verschlossen. Ich bin verkrampft und knochentrocken. Er drückt und presst. Ich kann seine aufkommende Frustration im Spiegel erkennen. Ein gewaltsames Eindringen beginnt. Doch er kommt keinen Millimeter voran. Ich bin wie vernagelt. Er nimmt Daumen und Zeigefinger in den Mund, beleckt sie und reibt dann auf meinen Lippen herum. Als würde mich das erregen. Ich bekomme beinahe einen Oberschenkelkrampf. Dass er von selbst nicht darauf kommt, aufzugeben und mich in Ruhe zu lassen, lässt mich noch mehr erstarren. Mir wird urplötzlich schlecht und ich übergebe mich in Spiegel und Waschbecken. Es ist nur dünnflüssig, riecht aber trotzdem übel. Er lässt von mir ab, bleibt aber dicht hinter mir. Langsam komme ich zu mir, spüle mir ein wenig den Mund aus, drehe mich zu ihm und sage: "Ich bin vollkommen ausgetrocknet." Ohne mich noch einmal umzudrehen verlasse ich das Bad. Ich werde nicht mehr mit ihm schlafen. Nie mehr. Warum weiß ich nicht. Ich kann es nicht mehr und ich will es nicht mehr. Soll er sich doch eine andere suchen. Wenn er das will, okay, nur zu. Ich jedenfalls kann keinen Schwanz mehr in mir ertragen. Ich bekomme ihn ja noch nicht mal hinein.

In der Küche starre ich aus dem Fenster, eine Hand am Fenstergriff, in der anderen das Telefon. Ich habe Hunger, glaube ich zumindest. Doch als ich die Kühlschranktür öffne, wird mir schlecht. Ich sitze am Küchenfenster, starre den kleinen Hang hinauf und singe leise Kinderlieder. 'La Le Lu' und 'Es geht ein BiBaButzemann'. Mein aufgestützter Kopf fällt auf die Tischplatte. Eine kleine Schleifspur Blut verschmiert auf der hölzernen Arbeitsplatte. Meine Nase schmerzt. Die Uhr zeigt 2.24 und es ist tiefste Nacht.