Buch lesen: «Der Thriller um Michael Jackson»

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Impressum

Originalausgabe

© 2010 by

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

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ISBN 978-3-85445-339-0

Der Autor:

Der Schweizer Journalist Hanspeter Künzler lebt und arbeitet seit vielen Jahren in London, wo er gleich am ersten Tag Wreckless Eric live im Marquee erlebte. Zwei Wochen lang spielte er mit seinem Akkordeon in der Pub-Rock-Band The Idlers mit, dann konzentrierte er sich aufs Schreiben. Seither hat er mehr als tausend Interviews mit Popstars – von Elton John über Noel und Liam Gallagher bis Jay-Z, King Creosote und Robyn Hitchcock – geführt. Seine Beiträge über Musik, Kunst und Kulturthemen erscheinen in der Neuen Zürcher Zeitung, im Musik Express, in Sounds, Clarino, Du, WoZ und unter www.the-title.com. Er ist regelmäßig im Schweizer Radio DRS zu hören und präsentierte jahrelang eine Musiksendung für den BBC German World Service. Sein besonderes Interesse gilt der Verflechtung von sozialen Umständen und künstlerischem Ausdruck. So beschäftigt Hanspeter Künzler sich seit drei Dekaden mit der Entwicklung der schwarzen Musik Amerikas. Sein erstes Buch „Black Or White – Michael Jackson“ wurde 2009 die meistverkaufte Biografie des King of Pop und stand auf allen deutschsprachigen Bestsellerlisten, in Künzlers Heimat, der Schweiz, sogar auf Platz 1 der Sachbuch-Bestseller. Internet: www.hanspeterkuenzler.com

Lektorat: Eckhard Schwettmann, Gernsbach

Korrektorat: Otmar Fischer, Münster

Layout und Satz: buchsatz.com, Innsbruck

Coverdesign: bw-works.com. Wien

Coverfoto: REUTERS/Russell Boyce

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags nicht verwertet oder reproduziert werden. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einleitung

Dank

Die Fans: „Wie bist Du zum Michael-Jackson-Fan geworden?“

Gedanken zum Fan-Sein: Erstens …

Michael Jackson: Der 25. Juni 2009

Die Fans: „Welches sind Deine liebsten Werke von Michael Jackson?“

Gedanken zum Fan-Sein: Zweitens …

Die Fans: Thomas Käppeli

Michael Jackson: Trauer und Tribut

Die Fans: „Wie würdest Du das Wort ‚Fan‘ definieren?“

Gedanken zum Fan-Sein: Drittens …

Die Fans: Thomas Zahner

Michael Jackson: Dr. Conrad Murray

Die Fans: „Was macht die besondere Faszination von Michael Jackson aus?“

Gedanken zum Fan-Sein: Viertens …

Michael Jackson: Die Autopsie

Die Fans: „Gibt es für Dich einen ganz besonders starken Michael Jackson-Moment?“

Gedanken zum Fan-Sein: Fünftens …

Die Fans: Bea Servais-Renfordt

Michael Jackson: Die Familie

Die Fans: „Haben die Skandalberichte in den Medien Deine Haltung zu Michael Jackson beeinflusst?“

Gedanken zum Fan-Sein: Sechstens …

Die Fans: Dana Borri und Jennifer Berner

Michael Jackson: CDs und Hitparaden

Die Fans: „Hast Du Michael Jackson jemals getroffen?“

Gedanken zum Fan-Sein: Siebtens …

Die Fans: Chantal Obrist

Michael Jackson: Dr. Thome und AEG Live

Die Fans: Kim Moses

Die Fans: „Wie hat Deine Umgebung darauf reagiert, dass Du Michael Jackson-Fan bist?“

Gedanken zum Fan-Sein: Achtens …

Michael Jackson: „This Is It“

Die Fans: Ueli Meier

Die Fans: „Wie unterscheiden sich die Fans von Michael Jackson von den Fans anderer Stars?“

Gedanken zum Fan-Sein: Neuntens …

Michael Jackson: Der neue Sony-Vertrag

Die Fans: „Wie hast Du Michael Jacksons Tod erlebt?“

Die Fans: „Wie hat sich Dein Verhältnis zu Michael Jackson seit seinem Tod verändert?“

Die Fans: Das Double

Die Fans: William King

Die Fans: Kola Okoko

Michael Jackson: Gespräche über Michael

Die Fans: „Möchtest Du noch etwas anderes zu Michael Jackson sagen?“

Websites

Bibliografie

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Einleitung

Dieses Buch hat eine eher ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Sie beginnt mit dem Buch davor, „Black Or White – Michael Jackson, die ganze Geschichte“. Man erlaube mir, ein bisschen weiter auszuholen.

Ich hätte schon immer gern ein Buch geschrieben. Das heißt, geschrieben hatte ich eigentlich schon ein paar. Zweieinhalb Romane und allerhand Kurzgeschichten liegen wie bei jedem rechten Ex-Literaturstudenten in der Schublade. Statt im Laden zwischen Kraus, Karl und Kureishi, Hanif und in Sichtweite von Nabokov zu stehen, gilben sie in ihrer düsteren Klause dahin und werden jeden Tag altmodischer, so wie ihr Schöpfer jeden Tag altmodischer wird. Immerhin standen bei der letzten Überprüfung noch alle Buchstaben genau da, wo sie hingehörten. Nicht so wie beim Kunstgeschichtsdozenten, der mir in London vor Jahren Roland Barthes zu erklären versuchte. Er hatte seine Dissertation mit der neuesten Errungenschaft der Schreibwarenindustrie, nämlich dem Filzstift, geschrieben. Als er endlich das Ende seiner langjährigen Arbeit erreichte, musste er feststellen, dass die ersten hundert Seiten bis zur Unleserlichkeit verblichen waren. Mit solcher Zeichenlosigkeit hätte auch Roland Barthes seine liebe Interpretationsmühe gehabt. Wenn es mit den Romanen nicht klappt, so dachte ich, dann vielleicht eines Tages mit einem Musikbuch. Mit einem etwa über die schottischen World-Folk-Pioniere The Incredible String Band, die meine Teenage-Jahre geformt hatten. Oder die hydrahaften Band-Ungetüme von George Clinton. Oder gar das legendäre Black Ark-Studio von Lee Perry. Themen halt, die mich seit den frühesten Tagen meiner Musikliebhaberei verfolgen. Es ist dies übrigens eine Liebhaberei, die seit Jahren auch die englischen Frühstückswürstchen auf den Tisch bringt. Denn glückliche Umstände hatten mich in die Musikmetropole London verschlagen, kurz bevor Michael Jackson mit „Off The Wall“ die Flügel seiner Kreativität ausbreitete, und in dieser Stadt wird bekanntlich rund um die Uhr gefiedelt und gesungen. So habe ich seither Tausende von Artikeln geschrieben und Interviews aufgezeichnet, Hintergrundgeschichten ebenso wie luftige Lappalien, tiefschürfende Gespräche ebenso wie Trivialgeplapper. Ich war denn auch zuversichtlich, dass ich früher oder später über einen grauen Winter hinweg ein einigermaßen süffig zu lesendes Musikbuch bewerkstelligen würde. Indessen blitzten meine Vorschläge mit unschöner Regelmäßigkeit ab. „No commercial potential“ lautete der Refrain der Verlage wie einst bei Frank Zappa.

Am 5. März 2009 wurde ich eingeladen, einer „Pressekonferenz“ (so die Plattenfirma) von Michael Jackson im Foyer der O2-Arena in den Londoner Docklands beizuwohnen. Es war eh ein vielbeschäftigter Monat. Am Tag zuvor war ich bei der CD-Taufe des neuen Grizzly Bear-Albums gewesen und hatte dazu den Artikel über die Tate-Ausstellung von Roni Horn fertig gestellt. In den nächsten Tagen standen Interviews mit King Creosote, Kasabian und Noisettes an. Angesichts der vielen Deadlines bedeutete der Ausflug in die O2-Arena vor allem einmal zusätzlichen Stress. Wobei man sich die Gelegenheit, diesen Jahrhundertkünstler live auf einer Bühne zu erleben, natürlich doch nicht entgehen lassen wollte. Das kuriose Ereignis begann mit einer akribischen Sicherheitskontrolle draußen vor dem Medieneingang. Es blies ein Wind Marke Grönland. Die Durchsuchung war gründlicher als am Flughafen, und ich erwartete, gleich noch zur Leibesvisitation abgeführt zu werden. Natürlich war Michael spät dran. In der Tat flimmerten just in dem Moment Live-Bilder von seiner Abfahrt vom Hotel über den Schirm, als er hätte vor die Presse treten sollen. Zwei Stunden schlotterte man dann am zugewiesenen Plätzchen im zum „Konzertlokal“ umfunktionierten O2-Foyer, derweil die wichtigtuerischen PR-Leute mit ihrem pompösen Gehabe die Tatsache zu vertuschen versuchten, dass auch sie keine Ahnung hatten, was als Nächstes passieren sollte. Ich weiß, es ist dies eine Charakterschwäche von mir, aber bei einem solchen Getue – man bekommt es weiß Gott genug oft zu sehen – bekomme ich schlechte Laune. Am liebsten hätte ich dem gänzlich ironiefreien, aber auch schuldlosen Kollegen aus New York die Memory Sticks in die Nasenlöcher gestopft und der goldbehangenen Russin einen Themse-Aal in den Ausschnitt gesteckt. Jedenfalls kam Jackson dann doch noch, sagte „this is it“ und „I love you all“, und meine Laune verbesserte sich nur unwesentlich. Dass er ein paar Konzerte durchführen wollte, wussten wir alle sowieso schon. Es hatte am Morgen in der Boulevardpresse gestanden. Ich ging nach Hause und schrieb mir die schlechte Laune mit einem Blog-Eintrag vom Leib.

Drei Tage später eine E-Mail. Der Musikbuchverlag Hannibal erkundigte sich, ob ich Lust hätte, eine Biografie über Michael Jackson zu schreiben. Man stelle sich eine nüchterne Biografie vor, in welcher sich auch die Fans wohl fühlen könnten. Natürlich solle das Buch rechtzeitig auf die Konzerte anfangs Juli hin erscheinen. Zweieinhalb Monate, um ein ganzes Buch zu schreiben? Absurd! Natürlich nahm ich das Angebot an. Und ganz nach dem Motto vom geschenkten Gaul und dem Maul fragte ich nicht, wie diese freundlichen Menschen ausgerechnet bei mir gelandet waren, denn es könnte sich ja um einen Fehler handeln. Erst in den Tagen nach der Zusage ging mir der volle Schrecken meiner Situation richtig auf. Der ganze April war eh schon bis an den Rand gefüllt mit journalistischen Verpflichtungen. Außerdem stellte es sich heraus, dass im englischen Sprachraum kaum noch Jackson-Bücher erhältlich waren. Zehn Jahre lang hatte dieser hier fast nur noch mit Skandalen von sich reden gemacht, viele Fans schienen abtrünnig geworden zu sein, die alten Biografien waren vergriffen. Überdies hatte ich Zweifel: War es überhaupt angebracht, eine Biografie zu schreiben über jemanden, den man nie getroffen hat? Im Gegensatz etwa zu Literatur und Kunst, wo es üblich ist, Biografien ohne persönlichen Kontakt zu schreiben, erwarten Popfans gemeinhin ein paar Originaltöne. Ich wischte die Skrupel, für die es sowieso zu spät war, beiseite. Da Jackson in den letzten zwanzig Jahren kaum noch Interviews gegeben hatte und diese wenigen Interviews zudem alle öffentlich zugänglich waren, gestattete ich mir die Schlussfolgerung, in diesem Fall sei es vertretbar, sich auf Quellen wie Jacksons Memoiren, andere Biografien sowie mein Pressearchiv zu verlassen.

Der Zeitdruck hatte eine surreale Arbeitsintensität zur Folge. Als ich am 1. Mai endlich zu schreiben anfing, lebte ich bereits ganz in der Welt von Michael Jackson. Mit jeder neuen Seite vertiefte – und erneuerte – sich die Faszination, mit der er mich nun in Beschlag nahm. In meinen frühen Londoner Tagen, als ich in einer Schule in Wembley gearbeitet hatte, hatte ich aus nächster Nähe und auch am eigenen Leib miterleben dürfen, wie die kühne und subtile Stilmelange von „Off the Wall“ Menschen über alle lokalen Kulturgrenzen hinweg – England, Jamaika, Indien, Pakistan – in ihren Bann gezogen hatte. Durch dieses Album (und die Chic-LPs der damaligen Flamme meines Herzens) fand ich erst den Zugang zu der schwarzen Musik von Amerika – Funk, Soul und viel später auch noch Blues. Im Juli 1992, als Michael Jackson auf seiner „Dangerous“-Tournee in London Halt machte, pilgerte denn auch ich ins Wembley-Stadion. Andere Musik bewegte mich mehr, als es „Dangerous“ getan hatte – das Konzert ging trotzdem gewaltig unter die Haut. Dennoch verlor ich Jackson in der Folge aus den Augen. Nein, ein „Fan“ in der Art, wie wir ihm in den folgenden Seiten begegnen werden, war ich beileibe nicht. Aber mit dem Schreiben an der Biografie kehrten die Erinnerungen zurück und wandelte sich das professionelle Interesse in eine persönliche Faszination. In der Tat ließ es sich Michael nun nicht nehmen, mir in meinen Träumen ab und zu einen kleinen Besuch abzustatten. Ich kann versichern, dass er auch hier tanzen konnte wie ein Herrgöttchen. Ein Bier wollte er allerdings nie mit mir teilen.

Am 9. Juni lieferte ich das Manuskript ab und setzte mich zur Erholung und zum Sammeln neuer journalistischer Einfälle nach Zürich ab. Ein paar Mal noch flog mein Werk in virtueller Fassung hin und her zwischen dem Verlag und mir. Dabei, so muss ich gestehen, war ich kaum noch im Stande, dieses überhaupt noch zu lesen. Mit der Deadline war meine Konzentration völlig zusammengesackt. Ich wusste kaum mehr, wer dieser Michael Jackson überhaupt noch war. Am 26. Juni, so hieß es, werde das Buch in den Druck gehen. Am Abend des 25. Juni – ich stand vor der Xenix-Bar – kam die Nachricht, dass Jackson im Sterben liege.

Ich schlief in der Nacht wenig. Es war ein Schock, zu erkennen, dass es bei der Materie, mit der ich mich ein Vierteljahr intensiv, aber doch halt mit der Distanz eines Musikjournalisten auseinandergesetzt hatte, buchstäblich um Leben und Tod gegangen war. Um sechs Uhr piepste zum ersten Mal das Handy. Damit begann der verrückteste Tag meines Berufslebens. Ich wurde von Radiostudio zu Radiostudio gereicht, schrieb dazwischen einen Nachruf für die Neue Zürcher Zeitung und gab Zeitungsinterviews über das Telefon. Schließlich erreichte mich vom Verlag der Bescheid, dass man den Druckstart verschoben habe, ich hätte zwei Tage Zeit, ein neues Vorwort und ein neues Abschlusskapitel zu schreiben, und übrigens werde die Startauflage von 4000 auf 16.000 Exemplare erhöht. Nach all den Antworten, die ich an dem Tag „live“ improvisieren musste, schwirrte es in meinem Kopf nur so von neuen Erkenntnissen und Thesen. Ich bedauerte es regelrecht, dass das Buch schon geschrieben war. Eine Passage nach der anderen fiel mir ein, die nun länger geworden wäre. An dem Freitagabend gab die famose Zürcher Band Radio Osaka im kleinen Rahmen einer Bar ein Konzert. Es war befreiend wie ein Jacuzzi.

Mit dem Rampenlicht, in welchem ich mich unvermittelt wiederfand, waren am Anfang vor allem unangenehme Gefühle verbunden. Noch während des Schreibens hatte ich zum ersten Mal so richtig die Gewalt des Internets am eigenen Leib zu spüren bekommen. Natürlich war mir das Phänomen „Fan-Forum“ nicht unvertraut. Aber die Foren, in denen ich mich bis dahin manchmal umgesehen hatte, drehten sich um obskure Künstler, solche, die nie der destruktiven Gewalt der Boulevardmedien ausgesetzt waren, weil sie für diese gar nicht existierten. So beschränkten sich die Beiträge zumeist auf die Diskussion von versteckten Pointen in den Texten und auf ironisch angehauchte Klagegesänge darüber, dass das jeweilige Idol seiner Kunst unter Ausschluss der Öffentlichkeit nachging (und dadurch den Fans erst das schöne Gefühl vermittelte, einer Eliteorganisation anzugehören). Bei Michael Jackson war das völlig anders. Das entdeckte ich, als ich im Rahmen meiner Recherchen anfing, die internationalen MJ-Foren zu durchforsten. Die Akribie, mit der nicht nur eine Handvoll, sondern Abertausende von Fans Neuigkeiten breitschlugen, die Passion, mit der sie Reaktionen, Meinungen und Erfahrungen austauschten, wirkten auf einen Außenstehenden zuerst einmal obsessiv, wenn nicht sogar leicht beängstigend. Aber auch dem Außenstehenden fiel auf, dass die Dialoge oft in einem ungewöhnlich herzlichen und vertrauten Ton geführt wurden. Des Weiteren stellte ich fest, dass dem Adlerauge der Fans kein Wort entging, das irgendwo über Michael publiziert worden war. Dass es allerhand „Threads“ gab, die zur Warnung vor sensationalistischen, verzerrten oder gar bösartigen Publikationen dienten. Das Adlerauge hatte auch meinen Blog-Eintrag entdeckt, wo ich meiner Verärgerung über den O2-Event Luft gemacht hatte. Uff! Dabei hatte ich doch weder Lügen verbreitet noch die üblichen MJ-Vorurteile aufgetischt. Hingegen hatte ich leicht sarkastisch meiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, dass man die große Rückkehr des King of Pop nach so langer Scheinwerferlichtabstinenz mit einem Auftritt eingeläutet hatte, der die Medien gleich wieder vergraulen würde. Wie bestimmt die meisten Kollegen war ich davon ausgegangen, dass Michael Jackson uns, bitteschön, die Hinter- und Beweggründe seines Comebacks erklären würde. Es war mir noch nicht bewusst, dass sich Michael (im Gegensatz wohl zu seinen Geschäftspartnern) nicht unseretwegen in die sibirische Unwirtlichkeit der Docklands hatte chauffieren lassen, sondern wegen der Fans, und dass zumindest in seiner Perspektive unsere Hauptaufgabe darin bestanden hätte, die Reaktion dieser Fans auf seine Präsenz zu dokumentieren. Und ganz im Gegensatz zu den Medien-Crews gerieten diese durch die Warterei erst richtig in Stimmung.

Sowieso: Die Kunde von meinen „geschmacklosen“ Blog-Zeilen hatte bereits in ganz Europa die Runde gemacht. Auf Deutsch, Englisch, Italienisch, bestimmt auch Albanisch und Esperanto, konnte man nachlesen, dass gerade wieder so ein „Michael Jackson-Hasser“ daran war, Gift, Galle und Verleumdungen in seinen Computer zu spucken. Tage vor dem Erscheinen des Buches tauchten bei amazon.com die ersten Kapitalverrisse auf. Verrisse, die ohne jegliche Kenntnis der Lektüre verfasst worden sein mussten. Es gab Zeitungen, welche diese praktisch wörtlich wiederholten und gern noch die Zusatzinformation nachlieferten, das ganze Buch sei über das Wochenende in zwei Tagen hingeworfen worden. Ich fühlte mich – ach, wie ironisch beim Thema MJ! – missverstanden und schaltete mich zum ersten Mal in meinem Leben in einige Forumsdiskussionen ein. Und siehe da, ich wurde mit einer Freundlichkeit empfangen, die mich geradezu rührte.

„Black Or White“ kam im Rekordtempo in die Läden. Ich fand mich unversehens in der Rolle eines Bestsellerautors wieder, was mir einige ungewohnte Erfahrungen bescherte. Einen Auftritt im Frühstücksprogramm des Zweiten Deutschen Fernsehens zum Beispiel, an der Seite eines jovialen österreichischen Starkochs und zweier Männer, die einen Flugzeugabsturz überlebt hatten. Bald kam ich zu einer weiteren, vollkommen neuen Erkenntnis: Journalisten können ausnehmend faul sein. Ich hatte bis dahin nicht annähernd das Ausmaß erfasst, in welchem meine Berufskollegen abschreiben, umschreiben und erfinden. Unglaublich wie viele Kritiken – auch die positiven! – haargenau den gleichen Wortlaut aufwiesen. Andere Schreiber bedienten sich der ersten beiden ernst zu nehmenden Rezensionen, die in der Presse erschienen waren, kopierten sie und stellten ein bisschen die Satzordnung um. Oder sie bedienten sich des Synonym-Wörterbuches und spielten quasi eine Coverversion vom Text aus der Verlagsbroschüre ein.

Noch etwas anderes passierte. Immer mehr Fans kontaktierten mich, weil sie den Austausch suchten. Einige wollten ihre auf die Konzerte hin getätigten Flug- und Hotelbuchungen nicht verfallen lassen, so dass wir uns in London zu Tee und Kuchen hinsetzen konnten. Anderen begegnete ich während des nächsten Aufenthaltes in der Schweiz. Und ich bekam E-Mails wie die folgende, die hier mit einigen Kürzungen wiedergegeben sei:

Sehr geehrter Herr Künzler,

Darf ich mich kurz vorstellen? Mein Name ist Carina, ich werde im Februar 38 Jahre alt, bin leidenschaftliche Mutter von vier Kindern und habe vor neun Jahren, als ich mit dem erstgeborenen Sohn schwanger sein durfte, meinen Traumjob als Hausfrau gefunden. Ich bin ein leidenschaftlicher, stiller Fan von Michael Jackson. Herr Künzler, ich bin überzeugt, dass Sie viele solche Briefe bekommen haben. Eines dürfen Sie mir aber glauben. Das, was ich nun schreibe, ist absolut ehrlich.

Sie haben in Ihrem Buch erwähnt, dass Michael Jackson nach einem Konzert ab und zu ein Mädchen zu sich in die Garderobe holen ließ, damit es ihm einfach nur zuhören würde. Doch die Mädchen interpretierten dies falsch und fingen an, sich auszuziehen. Wie gerne hätte ich dies getan. Nein, nicht das Ausziehen, sondern das Zuhören. ER WOLLTE NUR REDEN!!!! Begriffen das die Mädchen denn nicht!!!???!!! …

Wissen Sie, was ich zu Michael Jackson sagen würde, wenn er mich zu sich in die Garderobe holen ließe? „Herr Jackson“, würde ich sagen, „es freut mich sehr, und ich fühle mich zutiefst geehrt, dass ich zu Ihnen in die Garderobe kommen darf. Was verleiht mir die Ehre, Ihr Gast sein zu dürfen?“ Genau so würde ich es formulieren in meinem absolut nicht perfekten Englisch, und ich würde mich erst setzen, wenn er es mir erlaubte. Vielleicht käme von ihm die Frage, wie ich meine Teenagerzeit erlebt hätte, und darauf würde ich dies zur Antwort geben: „Herr Jackson, ich bin zwar in Europa aufgewachsen und ich habe eine weiße Haut. Aber uns verbindet etwas. Ich wurde wegen meines Stotterns vom ersten Kindergartentag an bis zum letzten Schultag gehänselt und ausgestoßen. Dann kam die Pubertät und mit ihr die Akne aus voller Kanone auf meinen Rücken geschossen, so dass ich mich zwischenzeitlich nirgends mehr anlehnen konnte, von oben bis unten eine Pustel nach der anderen und von ganz klein bis fast zum Abszess, so entzündet war mein Rücken. Vor und während den Tagen sprossen sie auch auf meinem Gesicht, zum Glück nur dann. Logischerweise fingen auch die Haare an zu wachsen, auch dort, wo man sie als Frau nicht gern haben möchte, an den Beinen. Ich durfte die Haare nicht entfernen, meine Mutter ließ es nicht zu. Dafür schämte ich mich so, wenn wir Turnen oder Schwimmen hatten in der Schule. Ich wehrte mich nicht. Ich tat einfach, was die Mutter sagte. Andererseits hätte ich das Haar auf dem Kopf so gern lang getragen, aber da meine Eltern der Meinung waren, bei kurzen Haaren würde mein schönes Gesicht besser zur Geltung kommen, musste ich es immer schneiden gehen. Während den letzten Schuljahren wurde rundherum gesoffen, gefixt, gekifft und geraucht, was das Zeug hielt. All dies machte ich nicht mit. So wurde meine Ausgrenzung noch schlimmer …

Heute, Herr Jackson, kämpfe ich nicht mehr gegen meine Akne. Sie ist ein Teil von mir. Sie befällt mich nur noch im Gesicht, aber nicht mehr stark. Ich sehe es positiv. Durch die ölige Haut habe ich in meinem Alter immer noch keine Falten. Das Stottern habe ich im Griff und ebenfalls als Teil von mir akzeptiert. Im Vergleich zu früher stottere ich heute praktisch nicht mehr. Ich bin eine Person, die trotz dieser Behinderung auf die Menschen zugeht. Auch macht es mir nichts aus, vor versammelter Menschenmeute einen Vortrag zu halten. Sehen Sie, Herr Jackson, Sie sind überhaupt nicht alleine. Den Glauben an sich selbst darf man nie und nimmer aufgeben!!!! …“ Genau das, Herr Künzler, würde ich Herrn Jackson sagen.

Es tut mir sehr, sehr leid, was mit Michael Jackson geschehen ist. Und alle, wirklich alle, ließen ihn hängen. Nur das Geld wollten sie!! Und er, der nie ein Kind sein durfte und allen traute, so hilfsbereit und so großzügig war, merkte erst zu spät, dass er ausgenützt und in eine Falle nach der anderen gelockt wurde …

Besten Dank dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben, diesen Brief zu lesen. Ich wünsche Ihnen einen ganz schönen Tag.

C.

Mehrere Aspekte an diesem berührenden Brief beschäftigten mich in der Folge sehr. Zuallererst war es die Tatsache, dass aus diesen Zeilen kein hormongebeutelter Teenager sprach, sondern eine reife Frau mit einer Position im Leben, mit der sie zufrieden ist. Auch die eigentlichen Gefühle, die darin angesprochen wurden, schienen mir eher ungewöhnlich zu sein. Das Aufkommen eines Beschützerinstinktes ist in der (meist einseitigen) Beziehung zwischen Fan und Idol bestimmt keine besondere Seltenheit. Allerdings dürften solche Rettungsträume bei einem Teenager auf der Suche nach einem Lebensinhalt einen anderen Stellenwert einnehmen als bei einer glücklichen Mutter von vier Kindern. Sodann faszinierte mich das Phantasie-Szenario, gerade das Mädchen respektive die Frau zu sein, die sich in der Garderobe vor dem Idol nicht auszieht, sondern zuhört (respektive redet). Es hätte mich wundergenommen, welche Fragen C. in diesem Moment an Michael gerichtet hätte. Der Brief drückte die Bestürzung und das Bedauern über das Schicksal eines unerreichbar fernen und doch geliebten Menschen aus. Es kamen darin durchaus Sätze vor, in denen der Zorn der Ohnmacht aufflackerte. Aber nicht sie bestimmten den Ton der Lektüre. Vielmehr war aus den Zeilen Kraft, Stärke und der Willen herauszuspüren, sich dem Alltag zu stellen, so wie er eben war. Das passte nicht mit dem Klischeebild eines „Pop-Fan“ zusammen, der in adoleszenter Hingabe das Zimmer mit Posters voll hängt und sich mit der Vorstellung in den Schlaf träumt, an der Seite des Idols ein Wasserbett ins Wabbern zu versetzen. Ich wage zu bezweifeln, dass jemals ein ähnlicher Brief über Mick Jagger, Jay-Z oder gar Meat Loaf geschrieben worden wäre.

Keiner der Michael Jackson-Fans – männlich und weiblich –, denen ich nach der Veröffentlichung von „Black Or White“ begegnete, machte auf mich den Eindruck, ein abgerückter Fanatiker zu sein oder gar in die Obhut der Psychiatrie zu gehören. Dabei hatten einige von ihnen die halbe Welt bereist, um vor einem Luxushotel zu sitzen, „We love you, Michael“ zu singen und dem Moment entgegenzubangen, wo in den oberen Etagen ein Vorhang zuckte und ein weißer Handschuh durch die Luft flimmerte. Selbst hätte ich so etwas im Leben nie getan. Aber irgendwie schafften es diese Fans, ihre Abenteuer so zu schildern, dass diese kaum mehr verrückter zu sein schienen als der Wunsch des Bergsteigers, aufs Matterhorn zu klettern, oder das innige Verhältnis des Hobbykochs mit seiner Gewürzkiste. In der Tat musste ich zu meiner Verwunderung erkennen, dass bei mir nun plötzlich nicht mehr gleich der Rollladen des Zynismus niederrasselte, wenn wieder so ein Fan über seine „Liebe“ zu Michael und die Liebe von Michael zu seinen Fans jubelte. Im Gegenteil, es weckte meine Neugierde. Kurt Cobain hat wie kein anderer Künstler der 90er und der 00er Jahre Emotionen freigesetzt, dennoch werden Nirvana-Diskussionsforen nicht annähernd so intensiv frequentiert wie die Foren, in denen es um Michael Jackson geht. Was macht die Fans von Michael Jackson so anders als die Fans von Elvis, The Beatles und Marilyn Manson? Die Frage verfolgte mich über Monate hinweg durch allerhand Konversationen und Tagträumereien, ohne dass ich gewusst hätte, was ich damit anstellen sollte. Bis die Idee aufkam, in einem weiteren Buch die Geschehnisse um und nach dem Tod von Michael Jackson darzustellen. Warum nicht ein Buch schreiben, in welchem sich Michael und seine Fans den Platz teilen? Warum nicht die Frage zu beantworten zu versuchen: Wie tickt ein Michael Jackson-Fan? Ich würde mir wünschen, ein wenig zur Beantwortung beitragen zu können, und wünsche viel Freude bei der Lektüre dieses Buches!

Hanspeter Künzler, London, im Juni 2010