Turmstraße 4

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Hatten sie etwas bemerkt? Martha betrachtete ihr Gesicht heimlich im Taschenspiegel und musste sich eingestehen, dass Spuren der Schläge des Vaters sehr wohl sichtbar waren. Im Übrigen wirkte sie ziemlich blass und kränklich. Aber konnte man daraus die Wahrheit erahnen? Warum fragte man sie nicht, was geschehen war, wie üblich, wenn jemand unpässlich, traurig oder irgendwie verletzt schien?

Dieses Schweigen irritierte sie zunehmend. Und sie brach es selbst mehrere Male mit gespielter Fröhlichkeit, aber ihre Blicke trafen auf derart seltsame Mienen, und die Antworten der Angesprochenen waren so knapp und einsilbig, dass Martha schließlich verstummte. Tief gekränkt beschloss sie, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten. Was war nur los? Was wussten sie? Welche Schande, wenn man hier über ihre familiären Angelegenheiten im Bilde wäre!


Karl stand wartend in einer unabsehbaren Reihe Arbeitsloser, die sich vom Auszahlungsschalter über einen sich endlos erstreckenden Korridor, durch das Haustor und noch dutzende Meter auf dem Trottoir vor dem Arbeitsamt wie eine gewaltige Schlange dahinzog. Polizisten sorgten für Ordnung.

Dennoch musste er nicht lange anstehen. Die Reihe bewegte sich behäbig, aber stetig vorwärts, und Karl zwängte sich bald durch den Eingang in das Innere des Gebäudes. Nach wenigen Minuten nahm er seine Unterstützung – siebzehn Schilling – in Empfang und konnte gehen. Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal hier gewesen war, hatte die Organisation noch sehr zu wünschen übrig gelassen, und der wöchentliche Auszahlungstag war für einen Arbeitslosen ein Martyrium des Wartens gewesen.

Aber heute erschien Karl sogar die Viertelstunde, die er hier zubringen musste, beinahe endlos. Eine seltsame, unerklärliche Unruhe bohrte in ihm. Als er das Haus durch ein anderes Tor verlassen hatte, lenkte er seine Schritte nicht wie üblich zur nächsten Tramwayhaltestelle, sondern in Richtung des achten Wiener Gemeindebezirks, zu Marthas Arbeitsplatz. Er hatte vor, dort auf sie zu warten und sie nach Hause zu begleiten.

Bis zum Arbeitsschluss zu Mittag war noch reichlich Zeit, dennoch lief Karl mehr als er ging, bis er schließlich vor dem riesigen Firmengebäude stand. Dort wurde ihm klar, dass seine Freundin erst nach Ablauf einer vollen Stunde herauskommen würde, wenn sie heute überhaupt da war. So schlenderte er erst ein wenig vor dem Haus auf und ab. Als ihm das zu eintönig wurde, beschloss er, einen nahen Park aufzusuchen. Die Sonne schien frühlingshaft und wunderbar warm, also nahm er auf einer Bank Platz. An einem Kiosk hatte er eine Zeitung gekauft, die er nun zu lesen begann.

Es war widerlich! Die Arbeitslosigkeit stieg und stieg, aber die Regierung war entschlossen, das Gesetz zur Arbeitslosenunterstützung zu verschärfen. Gleichzeitig kündigte sie an, die Umsatzsteuer auf Massenartikel zu erhöhen … Acht Menschen hatten mit unterschiedlichem Erfolg versucht, ihr armseliges Leben wegzuwerfen … Alkoholexzesse, Familientragödien – diese Rubrik beachtete Karl nicht, es waren doch immer die gleichen traurigen Geschichten … Brutale Angriffe der Polizei gegen eine Demonstration verzweifelter Arbeitsloser und wieder schamlose Urteile von Klassenjustiz. Ein Fall zeigte auf ganz besonders empörende Weise die barbarische Willkür des heimischen Strafrechts: Ein wegen Diebstahls vorbestrafter und der Stadt verwiesener Mann war unerlaubt wiedergekommen und hatte aus einem Geschäft eine Wurst gestohlen. Und weil selbiges »nach Überwindung gewisser Hindernisse« geschah, wie die Anklage des Staatsanwalts blumig formulierte, wurde der Mann wegen »Raubes« und unerlaubten Betretens der Stadt zu einem Jahr Kerker verurteilt. Ein faschistischer Rotzbengel hingegen, der einen Arbeiter schwer verletzt hatte, ging straffrei aus – »weil seine Handlung in Notwehr erfolgte« … Eine Frau hatte zwei Monate in Untersuchungshaft verbracht, bis schließlich ihre vollständige Unschuld erwiesen war. Und jetzt wollte man ihr nicht einmal die Haftentschädigung erstatten, die ihr als Schadenersatz und Schmerzensgeld zustand. Widerlich! Widerlich!

Karl steckte die Zeitung ein. Er sah auf die Uhr des Kirchturms, der sich über den Platz erhob. Halb zwölf, also noch eine halbe Stunde, bis Martha das Büro verlassen würde. Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, und jäh empfand Karl die Kälte. Er stand auf und ging im Park umher. Dann nahm er die Zeitung wieder heraus und las zum Zeitvertreib nun auch die Rubrik »Aktuelles«. Kind von Auto überfahren, tot … Sturz eines Hausmädchens aus einem Fenster des dritten Stocks, weil die Herrschaft nicht – wie gesetzlich vorgeschrieben – dafür gesorgt hatte, dass sie beim Fensterputzen einen Sicherheitsgurt anlegte … Messerstecherei unter Betrunkenen … Familientragödien – die eine aufgrund großen Elends, die andere aus Eifersucht … Selbstmord in Arrestzelle …

Karl überflog all diese Berichte beiläufig, ohne besonderes Interesse. Aber beim letzten Artikel blieb er mit weit aufgerissenen Augen hängen, und nach den ersten Zeilen las er den folgenden Beitrag aufmerksam noch einmal von Anfang an:

»Selbstmord in Arrestzelle. Montagabend wurde der fünfzigjährige Kriegsinvalide Matthias Groner, Wien X, Turmstraße 4, ein leicht erregbarer, bereits zweimal in der Nervenheilanstalt ›Am Steinhof‹ internierter Mann, wegen eines heftigen Tobsuchtsanfalls verhaftet. Betrunken und offenbar aufgebracht wegen des späten Heimkommens seiner Tochter prügelte er auf diese ein und drohte, sie umzubringen. Die verzweifelten Hilferufe der jungen Frau und der Mutter alarmierten die Nachbarn. Diese drangen in die Wohnung ein und überwältigten den Rasenden. Die daraufhin verständigten Polizisten führten den Mann, der auch heftigen Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete, ins Bezirksgefängnis ab. Dort wurde der wild um sich Schlagende in eine Einzelzelle gesperrt. Als man nach einiger Zeit nach ihm sah, fand man Groner an seinen Hosenträgern erhängt. Alle Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.«

Erschüttert faltete Karl die Zeitung zusammen und steckte sie ein. »Schrecklich, schrecklich!«, murmelte er.

Mit einem Mal kam ihm ein Gedanke, ein hässlicher, egoistischer, aber durchaus natürlicher Gedanke: Jetzt ist Martha frei, wir müssen unsere Liebe nicht mehr verstecken. Und er erhob sich mit einem freudigen Gefühl. Gleich darauf schämte er sich dafür. Wie würde Martha das aufnehmen? Dieser Mann war immerhin ihr Vater!

Plötzlich wurde Karl wütend. Mit zorniger Stimme sprach er halblaut zu sich selbst:

»Und sogar den vollen Namen gibt die Polizei preis! Dieselbe Polizei, die taktvoll die Privatsphäre von korrupten Bankdirektoren und anderen Schurken aus der bürgerlichen Klasse in ihren öffentlichen Berichten schützt, kennt weder Anstand noch Gnade, wenn es sich um einen Arbeiter handelt! Arme Martha, sogar deinen Namen hat man in den Schmutz gezogen mit den bösartigen Worten ›wegen des späten Heimkommens seiner Tochter‹!«

Als Karl schließlich mit seiner Freundin im Wagen einer Elektrischen saß, war er sich nicht sicher, ob sie schon über das Schicksal ihres Vaters Bescheid wusste. Aber er wagte nicht, sie zu fragen. Schweigend saßen sie nebeneinander. Gedankenverloren blickte er vor sich hin, wie in eine unbestimmte Ferne. In seiner linken Hand hielt er Marthas rechte und mit der anderen streichelte er unaufhörlich dieses zarte Händchen. Martha saß da, als würde sie sich schämen, mit gesenktem Kopf und halb geschlossenen Augen. Mehrmals setzte Karl an zu reden, aber er konnte keinen Anfang finden. Auch wollte er in der Öffentlichkeit nicht wirklich über den Zeitungsartikel sprechen. So schleppte sich die Fahrt, die den beiden so lang vorkam wie nie zuvor, zu ihrem Ende.

Nachdem sie ein Stück des Weges von der Haltestelle nach Hause gegangen waren, blieb Martha stehen und flüsterte: »Karl, danke, dass du gekommen bist. Aber jetzt müssen wir uns trennen, damit man uns nicht zusammen sieht. Wir werden uns jetzt wohl auch länger wieder aus dem Weg gehen müssen.« Und als sie sah, dass Karl traurig den Kopf sinken ließ, fügte sie hinzu: »Ich bin ja selber unglücklich darüber, aber wir müssen uns eben in Geduld üben.«

Nach kurzem Überlegen antwortete Karl mit mitleidigem Blick: »Martha, mein Engel, es fällt mir wirklich schwer, aber ich muss dir was sehr Trauriges zeigen. Weil du anscheinend noch nichts drüber weißt und es besser ist, du erfährst es jetzt von mir, als später von jemand andern. Sei tapfer, Schatz, und lies das!«

Mit diesen Worten überreichte er ihr die Zeitung und zeigte auf den Artikel, der vom tragischen Tod ihres Vaters berichtete. Alarmiert begann Martha zu lesen und sank dann mit einem Aufschrei des Entsetzens in Karls Arme.

»Jessas, Vater! So ein schreckliches Ende …! Arme Mamsch! Und ich bin schuld! Das überleb ich nicht!«

Sie weinte so bitterlich, dass Passanten neugierig stehen blieben. Karl brachte die Willenlose unter zärtlich tröstendem Zureden in ihre Wohnung, die er zum ersten Mal in seinem Leben betrat. Unterwegs begegnete er sonderbar fragenden Blicken und auf der Treppe vernahm er hinter sich mitleidiges Tuscheln.

Als sie durch die dunkle Küche gingen, hörten sie aus dem Zimmer heftiges Schluchzen. Frau Groner saß auf dem Kanapee und wurde von Weinkrämpfen durchbebt. Wer weiß, wie lange sie da schon saß! Ihr Gesicht in den Händen vergraben, achtete sie nicht auf das Kommen der beiden jungen Leute.

Karl grüßte sie rücksichtsvoll und drückte mit einfachen Worten sein Beileid aus, aber die Frau schien ihn nicht zu hören. Martha sah die Mutter für einen Moment aus tränenverschleierten Augen an, dann ging sie auf sie zu und setzte sich zu ihr. Sie umarmte sie und drückte sie an sich in stillem, schmerzlichem Einvernehmen und mit dem bitteren Gefühl der Schuld.

 

Selbst schwer erschüttert zog sich Karl zurück, Mutter und Tochter diskret ihrer Trauer überlassend.

2

Acht Wochen waren seit Groners Tod vergangen.

Das Leben der beiden Hinterbliebenen, Witwe und Tochter, ging ruhig und ereignislos weiter. Mit anderen Menschen hatten sie jetzt weniger denn je zu tun. Bloß Karl Weber war ein oft und gern gesehener Gast. Nicht nur Martha freute sich über seine Besuche, auch der Mutter wuchs der ruhige, empfindsame Bursche mehr und mehr ans Herz. Er konnte mit zärtlichen Worten Trost spenden, und es gelang ihm, die beiden von ihrer Unschuld an Groners tragischem Tod zu überzeugen, ohne ihnen zu nahe zu treten oder ihre Gefühle zu verletzen. Auch in praktischen Belangen machte er sich mithilfe seiner Kraft und Geschicklichkeit nützlich.

Da Martha ihre Mutter nicht alleine lassen wollte, diese aber nur selten Anlass sah, außer Haus zu gehen, verbrachte Karl, um mit seiner Liebsten zusammen zu sein, ausgiebig Zeit in der Groner’schen Wohnung. So saß er auch eines Samstagnachmittags Martha gegenüber beim Tisch, auf dem verschiedene Handwerksutensilien lagen: Spulen mit isolierten und nicht isolierten Drähten, kleine Holzbretter, Schrauben, Nägel, Schalter und anderes für die Herstellung eines Radioapparates Erforderliche.

Frau Groner war für zwei bis drei Stunden fortgegangen, und die beiden jungen Leute wollten diese Zeit nützen, um sie bei ihrer Rückkehr mit einem selbst gefertigten Radio-Empfangsgerät zu überraschen.

Martha hatte mit ihrem ersparten Taschengeld nach Karls Anweisungen das nötige Material besorgt und dieser hatte ein geliehenes Buch über den Selbstbau von Radiogeräten studiert. Nun entstand unter ihren Händen in fröhlicher Zusammenarbeit ein einfaches, aber ansehnliches Kästchen, in dem Spulen, Kondensatoren, Elektronenröhren und andere Dinge montiert und miteinander verbunden wurden, die elektrische Impulse einer Antenne in geeigneten Strom umwandeln sollten, stark genug, um einen Lautsprecher zum Klingen oder Reden zu bringen. Schweigsam, mit vor Eifer rot glühenden Wangen machte sich das Paar mehr als zwei Stunden lang daran zu schaffen. Plötzlich warf Karl den kleinen Hammer von sich und sprang auf.

»Und fertig!«, rief er freudig. »Probieren wir unser Werk gleich einmal aus! Wir müssen das Gerät nur noch mit dem Akkumulator und dem Lautsprecher verbinden – und los geht’s! Halt! Wir brauchen noch Antenne und Erdung!«

»Als Antenne können wir eine Matratzenfeder nehmen!«, schlug Martha vor. »Mit der Erdung wird’s schwierig, weil wir weder Leuchtgas- noch Stromanschluss in der Wohnung haben. Wir werden bald beides kriegen, ich hab schon um die Einleitung angesucht. Nur, müssen wir wirklich so lang warten?«

»Aber nein!«, war Karls entschiedene Antwort. »Ich frag die Hausmeisterin, ob sie uns erlaubt, dass wir einen Draht an der Wasserleitung befestigen, den wir dann von dort über den Gang in die Wohnung legen.«

Die im Erdgeschoß wohnende Hausbesorgerin war eine ehrwürdige Matrone, deren rundlicher Körper einem wandelnden Fass ähnlich sah. Nachdem der Liegenschaftseigentümer nicht vor Ort ansässig war, lag die Vollmacht in allen verwaltungstechnischen oder die Hausordnung betreffenden Fragen in ihren Händen. Das machte sie zu einer Ehrfurcht gebietenden Respektsperson. Sämtliche Arbeiten überließ sie ihren Kindern, während sie sich selbst ausschließlich in leitender Funktion sah. Sie hasste Geschwätzigkeit und Klatschsucht – bei anderen.

Als Karl seine Bitte ausgesprochen hatte, wiegte sie gravitätisch das kugelförmige Haupt mit dem roten Gesicht, in dem eine riesige Nase saß, die auch jeder männlichen Physiognomie beherrschend ihren Stempel aufgedrückt hätte.

Das Kopfwackeln war offenbar zustimmend und signalisierte Einverständnis, denn nach einem tiefen Seufzer sagte sie: »Na ja, wieso nicht? Das wird doch der Wasserleitung hoffentlich nicht schaden, wenn Sie einen dünnen Draht drüberwickeln. Und das Haus wird auch nicht schäbiger, wenn ein Draht am Gang liegt. Passen S’ aber auf, dass der niemanden stört. Sie wissen ja selber, was für streitsüchtige Kanaillen da herinnen wohnen.«

Karl wollte sich schon zufrieden davonmachen, aber so einfach ließ die Alte gewöhnlich kein Opfer gehen, das einmal in ihre Fänge geraten war.

»Na, na, junger Herr, nur nicht so eilig! Sie haben doch Zeit! Leider sogar viel Zeit, gell? Es ist zum Heulen heutzutag, dass junge, fleißige Leut mehr Freizeit haben, als ihnen lieb ist! So kommen der ganze Unfug zustande und all die Gaunereien! Es ist ja furchtbar, wenn man heut in die Zeitung schaut. Sagen Sie, wie geht’s denn den armen Frauen, den Gronerischen? Haben sie sich in ihrem Schmerz schon gefasst?« Sie atmete tief auf. Aber als Karl antworten wollte, fuhr sie rasch fort: »Dass sie nur nicht zu arg trauern, gell! Ehrlich gesagt haben sie nicht allzu viel verloren, ihr Leben ist jetzt sicher ruhiger. Der alte Groner – Gott hab ihn selig! – hat sie ja nur sekkiert. Es ist wirklich nobel, wie Sie sich um die zwei Frauen kümmern, die wären jetzt ganz auf sich gestellt, und bestimmt spricht das Herz da ein Wörterl mit, gell? Das Mädel ist aber auch eine Hübsche – und so anständig! Das muss ihr sogar der Neid lassen.« Bei diesen Worten rollte das schwatzende Fass vielsagend die Augen. »Wenn man heutzutag nur leichter Arbeit fänd – Sie haben ja auch keine, oder? Schauen Sie, ich hab zwölf Kinder, sieben sind verheiratet und die fünf ledigen wohnen noch bei mir. Von denen sind vier Söhne arbeitslos, und den Gatten von drei Töchtern geht’s nicht anders.«

»Zwölf Kinder!«, rief Karl staunend, eigentlich nur, um irgendetwas zu sagen.

»Ja, zwölf Kinder!«, ratschte die Frau weiter. »Aber, was glauben Sie denn: Ich hätt neunzehn, wenn nicht sieben schon tot wären. Was hab ich getrauert und geweint um jedes einzelne, besonders um den letzten Buben! Der ist mit siebzehn an einer Verletzung gestorben, die er sich beim Fußballspielen zugezogen hat. Ich rat Ihnen: Spielen Sie um Gottes Willen nie Fußball, gell! Aber heut denk ich mir fast, es ist besser, dass sie tot sind. Die würden vielleicht Gott weiß was mitmachen, wenn sie noch am Leben wären. Na ja! Also, montieren Sie ruhig Ihren Kontakt am Wasserhahn, dass Sie schön Ihre Radiomusik hören, gell! Und grüßen Sie mir die lieben Frauen!«

»Danke! Auf Wiedersehen!« Karl, der die ganze Zeit nur ungeduldig auf das Ende des Wortschwalls gewartet hatte, wandte sich rasch zur Tür.

»Auf Wiederschauen, junger Herr!«

»Zwölf Kinder, neunzehn Mal gebären!«, murmelte Karl in Gedanken, während er die Treppe nach oben lief. »Furchtbar!«

Er entschuldigte sich bei Martha für sein langes Fortbleiben, aber sie lächelte nur.

»Ich hab selbst schon erlebt, wie schwer es ist, der Hausmeisterin zu entkommen. Es ist jetzt meine Aufgabe, jeden Monat bei ihr den Zins abzuliefern.«

Nun sahen sie zu, dass sie mit ihrer Arbeit fertig wurden. Schon bald drehte Karl an den Skalenscheiben, mit denen man die Funktion des Rheostats, der Kondensatoren und des Variometers graduell regulieren konnte. Und mit einem Mal war das Zimmer erfüllt von der Musik eines ganzen Orchesters, und das alles kam aus diesem Gerät!

Wie Kinder freuten sich die beiden jungen Menschen über das Werk ihrer Hände. Vor allem die musikbegeisterte Martha, die bisher leider nicht oft Gelegenheit gehabt hatte, gute Musik zu hören, war hingerissen. Es ist leicht, Angehörigen der besitzlosen Klasse eine Freude zu bereiten.

»Aber jetzt verlang ich eine Belohnung«, sagte Karl, als die Radiosendung Pause machte, »und ich will sie sofort!«

»Die sollst du haben!« Hingebungsvoll bot Martha ihre Lippen dar, denen Karl einen feurigen Kuss entriss.

»Na, ihr amüsiert euch ja prächtig!«, war im selben Moment Mutter Groners Stimme zu vernehmen. Ihr Eintreten war unbemerkt geblieben, weil die Liebenden in ihrer Seligkeit das Öffnen der Wohnungstür und die Schritte durch die dunkle Küche überhört hatten.

»Das war ein Honorar, Mamsch, das ich dem Karl schuldig war. Er hat sichs aber wirklich verdient«, erklärte Martha, ein wenig errötend. »Schau, was er für dich gemacht hat!«

Sie wollte eben auf den Radioapparat zeigen, aber in diesem Moment begann die Musikübertragung von neuem und das Gerät zog ganz von selbst die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich.

»Zum Zeitvertreib«, sagte Karl, »wenn Sie allein zu Haus sind.«

»Na, ihr seid so lieb! Und ich sag euch noch was: Jetzt müsst ihr nicht mehr mit mir in der engen Wohnung hocken! Draußen lacht der Frühling! Gleich morgen macht ihr einen Ausflug, wenn das Wetter so schön ist wie heut. Die Martha braucht dringend frische Luft. Ich würd auch gern mitkommen, wenn ich an den Beinen nicht so bedient wär mit dem Rheumatismus. Das Heimgehen war für mich jetzt schon sehr anstrengend.«

Martha und Karl protestierten anfangs dagegen, die Mutter alleine zu Hause zu lassen. Aber schließlich fügten sie sich gerne und begannen voll Begeisterung, eine Route für ihre Wanderung zu planen.


Beim Abendessen mit seiner Familie war Karl so sehr von Gedanken an den bevorstehenden Ausflug vereinnahmt, dass er die außergewöhnlich beklemmende Stimmung, die über der Tischrunde hing, gar nicht wahrnahm.

Unvermittelt brach er das Schweigen und sagte freudig erregt: »Morgen mach ich einen Sonntagsausflug in den Wald. Kann mich bitte wer um fünf wecken? Ich zieh mich auch ganz leise an und werd niemanden stören.«

»Kauf dir lieber eine Zeitung und studier die Stellenanzeigen!«, schnalzte Anna in scharfem Ton.

Verdutzt blickte Karl in die Runde. Erst jetzt fiel ihm das verzagte Gesicht des Vaters auf, in dessen Zügen Schmerz und Sorge zu lesen waren. Auch bemerkte er jetzt die roten, verweinten Augen der Mutter und den ungewohnten Ernst in Antons Miene.

»Was ist passiert?«

»Jetzt hat der Vater auch noch seinen Posten verloren«, antwortete Anton düster.

Schweigen. Langes, drückendes Schweigen. Man hörte nur noch die unvermeidlichen Geräusche des Suppe-Essens: das Klimpern der Löffel und das Schlürfen der Münder.

Jetzt war die gesamte Familie brotlos. Erna und ihr Mann gehörten gewissermaßen nicht mehr dazu. Sie hatten vom Magistrat endlich eine Wohnung bekommen.

»Ja, Kinder«, fing der Vater gebrochen an, »es kommen schwere Zeiten auf uns zu! Fast fünfundvierzig Jahre hab ich mit meinen Händen hart geschuftet, und jetzt kann ich untätig herumziehen und verhungern. Undankbare Welt! Ich hab seit dem Tod meiner Mutter nie mehr geweint. Das war vor vierzig Jahren, aber heute hab ich die Tränen nicht zurückhalten können, als ich von meiner Kündigung erfahren hab. Wenn euch junge Leut schon keiner braucht – ich Alter, halb Ausgemergelter, bin vollkommen überflüssig in dieser Welt.«

»Kränk dich nicht so, Vater!«, versuchte Karl zu trösten. »Gleich werden wir nicht verhungern. Du kriegst ja Unterstützung von der Arbeitslosenversicherung und als langjähriges Mitglied auch von der Gewerkschaft. Die Zeiten müssen schließlich einmal besser werden! Und ich werd mich ab jetzt doppelt um Arbeit bemühen.«

»Ausgerechnet du!«, rief Anna spöttisch. »Du bist in deiner Verliebtheit nicht zu gebrauchen, und du sitzt viel zu viel über deinen Büchern. Und wenn du wirklich Arbeit findest, denkst sicher nicht an uns, sondern wirst deinen Augenstern heiraten wollen.«

Karl errötete. Anna hatte seine längst gehegten geheimen Absichten herausposaunt. Und doch protestierte er: »Na sicher werd ich euch nicht vergessen. Auch wenn ich heirate, werd ich immer schauen, dass ich wenigstens einen Teil meiner Schuld bei euch abbezahl.«

»Geh, Karl, plausch nicht!«, wieherte Anna auf. »Als hättest du mit dir und deiner Familie nicht genug zu tun, wenn du heiratest.«

»Lasst bitte wenigstens heut das ewige Streiten! Mein Kopf platzt jeden Moment, und ich bin nicht gewillt, mir eure Blödheiten noch länger anzuhören.« Mutter Webers Tonfall war trotz des müden Klangs ihrer Stimme gebieterisch.

Das Abendessen – Gemüsesuppe mit Erdäpfeln und Butter – war beendet und die Familie zerstreute sich. Die Männer gingen ins Zimmer, die Frauen brachten die Küche in Ordnung und spülten das schmutzige Geschirr. Gesprochen wurde kaum mehr. Der Vater las Zeitung, Anton blickte durch das offene Fenster auf die dunkle Straße, von der das übermütige Geschrei der immer noch spielenden Arbeiterkinder heraufschallte, und Karl war mit Vorbereitungen auf die bevorstehende Wanderung beschäftigt.

 

Als die Familie schließlich zu Bett ging, sagte der Vater zu Karl: »Mach du nur deinen Ausflug morgen! Ich weck dich!«

Und seine Stimme klang ungewöhnlich mild und freundlich.


Ein herrlicher Maitag brach an. Strahlend präsentierte sich die Feuerscheibe der Sonne über dem östlichen Horizont und spendete der ganzen Region Licht und angenehme Wärme. Auf Gräsern, Blumen und Blättern glänzten Tautropfen wie kleine Opale. Die Luft war erfüllt von vielfältigem Piepsen, Zirpen und Summen.

Tief berührt von dem herrlichen Schauspiel des Sonnenaufgangs, von der Schönheit der Natur im Glanz des jungen Tages und vom Glück, das zwei Menschen empfinden, die den Genuss der Liebe teilen und ihres Lebens froh sind, marschierten Martha und Karl einen Steig bergan in den grünen Wald. Außer ihnen waren zahlreiche andere Wanderer einzeln oder in Gruppen auf Straßen, Wegen und Trampelpfaden ausgeschwärmt, sich an Wiesen und Feldern, Hügeln und Tälern ergötzend. Immer wieder wurde das Trillern, Piepsen, Zirpen, Summen und Krähen von Gelächter und lärmenden Stimmen übertönt. Karl und Martha nahmen das als Störung wahr, weil sie darin eine Entheiligung dieses feierlichen Morgens sahen. Sie suchten einen weniger begangenen Weg, um Abstand zwischen sich und die anderen Ausflügler zu bringen.

»Ich bin heuer zum ersten Mal aus der Stadt draußen«, sagte Karl nach langem Schweigen.

»Ich auch«, gab Martha zurück. »Wir müssen unbedingt meine Mamsch einmal mitnehmen. Sie liebt die Natur! Trotzdem hat sie schon seit Jahren keinen Wald und keine Wiese mehr gesehen. Vielleicht hat mein Vater wirklich nichts dafür können, aber in den letzten Jahren hat er keinen Sinn mehr gehabt für das Schöne im Leben.«

Der Weg wurde allmählich steiler, und die Sonne sandte ihre Strahlen immer gleißender vom wolkenlosen Himmel. So kamen die beiden Wanderer bald ins Schwitzen, vor allem Karl, der den großen Rucksack schleppte. Aber schon hieß sie ein naher Wald mit seinen Schatten spendenden Baumkronen willkommen.

Am Waldrand blieben Karl und Martha stehen, drehten sich um und genossen mit freudestrahlenden Augen die Aussicht auf die ausgedehnte Landschaft. Ihre Blicke sprangen von Hügel zu Hügel und glitten dann langsam von den nahe gelegenen Gehöften und kleinen Siedlungen in die Ferne, wo einzelne Gebäude und selbst ganze Dörfer zwergenhaft erschienen, bis hin zu den ausgefransten Rändern der Großstadt. Sie berauschten sich am Anblick des unermesslichen Grüns, das die gesamte Gegend mit vielfältigsten Nuancen überzog, durchschnitten von den weißen Linien der Straßen und Wege und zwischendurch belebt von eingestreuten Häusern und kleinen Ortschaften. So blieben sie, eng aneinander geschmiegt, lange stehen.

»Sollten wir da nicht ein bissl rasten?«, fragte Martha schließlich.

»In Ordnung. Aber im Schatten! Und essen wär jetzt auch nicht schlecht«, meinte Karl, den die frische Morgenluft und das Gehen hungrig gemacht hatte.

Aber die Ruhepause dauerte nicht lange. Die noch nicht gestillte Wanderlust trieb sie weiter. Ein solcher Spaziergang durch den Wald verzaubert frisch Verliebte auf eine ganz besondere, kaum erklärbare Weise, vor allem, wenn sie zum ersten Mal – und dann noch bei herrlichem Wetter – gemeinsam unterwegs sind.

Das Paar lauschte den Gesängen der Vögel und dem Rauschen der Blätter, imitierte den Ruf des Kuckucks und spielte Fangen. Karl, leichtfüßig trotz des schweren Rucksacks, lief suchend umher, während Martha sich im dichten Buschwerk verbarg. Bald bewarfen sie einander mit Tannenzapfen, bald balgten sie sich in scheinbarem Ringkampf inmitten des abgefallenen Laubs auf dem Waldboden. Derart übermütig und ausgelassen erreichten sie die Hügelkuppe.

Bei all diesem Spaß war neben harmloser Fröhlichkeit und unschuldigem Vergnügen durchaus noch etwas anderes im Spiel. Erwachende Triebe eroberten im Unterbewusstsein der beiden jungen Leute immer mehr Raum, und die Anziehung des anderen Geschlechts würzte ihr Geplänkel mit einem erregenden Kitzel.

Auf der Anhöhe folgten sie einem Pfad entlang des Grats. Der von Fichten und Föhren durchsetzte Laubwald wich hier dürftigerem Baumbestand, in dem Nadelhölzer – vor allem Kiefern – überwogen. Nach einiger Zeit führte sie der Weg erneut abwärts. Mit einem Satz sprang Karl, der eben noch vor seiner Liebsten gegangen war, auf die Seite und verschwand im Dickicht hinter Sträuchern und jungen Kiefern.

Bald darauf tauchte er wieder auf und rief: »Martha, komm! Hier ist es gemütlich, grad richtig zum Ausruhen. Ein freier Platz mitten im dichtesten Gebüsch – schattig und trotzdem wunderschön!«

Er nahm ihre Hand und zog sie durch eine schmale Öffnung im Gesträuch hinter sich her. Beiden steckte schon die Müdigkeit in den Gliedern, vor allem Martha, die so langes Marschieren auf holprigen Wegen nicht gewohnt war. Nachdem Karl eine Decke auf der Erde ausgebreitet hatte, ließen sie sich mit einem freudigen Seufzer darauf nieder.

Sie aßen Brot mit billiger Wurst, Marthas selbst gebackenen Kuchen und Äpfel. Danach tranken sie aus einer Blechbüchse etwas kalten Tee. Sie teilten alles, von jedem noch so kleinen Rest kosteten beide und jeder bemühte sich, dem anderen das bessere Stück zu überlassen und es ihm in den Mund zu schieben. Und dieses einfache Essen war köstlicher als jedes noch so aufwändige Mahl.

»Und jetzt lies mir was vor. Hast wieder was Neues geschrieben?«, verlangte Martha, nachdem sie sich gestärkt hatten. »Ich hab gesehen, du hast ein Heft eingesteckt.«

Karl gab ihr einen flüchtigen Kuss und entnahm dem Rucksack sein Notizbuch. Und schon trug er mit seiner angenehmen, ausdrucksvollen Stimme Gedichte vor, die von Liebessehnsucht, schicksalhafter Verbundenheit und von einem hungernden Mädchen handelten, das eine wohlhabende Dame vergeblich um ein Stück Brot bittet und dieser unmenschlich geizigen Frau dennoch das Leben rettet. Er las eine »Hymne an das Schweigen« und die tiefsinnige Geschichte über einen Knaben, der sein Lieblingsspielzeug verliert und darüber so traurig ist, dass er auch durch neue, schönere Dinge nicht getröstet werden kann. Noch nach Jahren weckt die Erinnerung an das alte, verlorene Spielzeug sentimentalen Schmerz. Als man es schließlich doch wiederfindet und dem Jungen in die Hand gibt, wundert der sich darüber, dass er den Verlust einer solchen Lappalie je hatte betrauern können.

Dann schwiegen beide. Ein einsamer Kuckucksruf war aus der Tiefe des Waldes zu hören. Von Zeit zu Zeit summte ein umherirrendes Insekt vorbei, und manchmal drangen Stimmen ferner Wanderer an ihr Ohr. Karl legte das Notizbuch beiseite und umfasste mit der Rechten Marthas Taille. Martha, die beim Zuhören in traurig-schönen Bildern versunken war, schlang einen Arm um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Brust. Schweigend saßen sie lange so da.

»Karl«, flüsterte Martha plötzlich, »ich bin so glücklich, dass ich dich hab!«

»Meine liebe, teure Martha!« Karl drückte sie fester an sich. »Du bist mein Ein und Alles!«

Und sie begannen, sich ihre gemeinsame Zukunft in hellen Farben und mit Worten voller Hoffnung auszumalen: Wie sie vorhatten, sich gegenseitig das Leben zu versüßen, wie sie sich ein bescheidenes, aber schönstmögliches und gemütliches Nest bauen würden und wie sie versuchen wollten, immer den Gleichklang zu bewahren und nie ein böses Wort füreinander zu haben. Niemand wäre Herr und niemand wäre Knecht, ihre Beziehung ein frei gewähltes Zusammenleben gleichberechtigter Partner.

»Und wenn wir Kinder haben«, sagte Martha, »dann – gell, Karl – dann schlagen wir sie nicht, sicher nicht! Und wir schimpfen sie nicht so grob, wie es viele bei der Erziehung machen.«