Buch lesen: «Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB»

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utb 5818

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Wege zur Rechtsgeschichte

Ulrike Babusiaux

Hans-Peter Haferkamp

Sibylle Hofer

Peter Oestmann

Johannes Platschek

Tilman Repgen

Adrian Schmidt-Recla

Andreas Thier

Jan Thiessen

Hans-Peter Haferkamp

Wege zur Rechtsgeschichte: Das BGB

BÖHLAU VERLAG KÖLN WIEN

Hans-Peter Haferkamp hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln inne.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de.

Umschlagabbildung:

Illustrirte Zeitung. 64 = Jan./Juni 1875, Signatur 2 Per. 26-64: Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Per. 26-64, S. 412, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11307652-1.

© 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

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Korrektorat: Anja Borkam, Jena

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: büro mn, Bielefeld

EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5818 | ISBN 978-3-8252-5818-4 | eISBN 978-3-8385-5818-9

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Das BGB als Privatrechtskodifikation

2.1 Privatrecht – Eine kleine Begriffsgeschichte

2.1.1 Rom

2.1.2 Ius publicum und ius privatum im Alten Reich vor 1780

2.1.3 Privatrecht als Ausdruck der Trennung von Staat und Gesellschaft

2.2 Kodifikation

2.2.1 Rechtseinheit

2.2.1.1 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft

2.2.1.1.1 Rechtsreform durch Ausbildungsreform: Savignys Reformmodell von 1808

2.2.1.1.2 Wege zum Volksgeist zwischen Rationalität und Intuition

2.2.1.1.3 Exegese

2.2.1.1.4 Vertiefung: D. 12, 1, 18, pr. und 41.1.36 und der dingliche Vertrag in § 929 S. 1 BGB

2.2.1.1.5 Geschichte

2.2.1.1.6 System

2.2.1.1.7 Vertiefung: Puchtas Klassifikation der Servituten

2.2.1.1.8 Die Pandektenvorlesungen als Symbol der nationalen Einheit

2.2.1.1.9 Einfluss der Pandektenvorlesungen auf das BGB

2.2.1.2 Rechtsvereinheitlichung durch Rechtsprechung

2.2.1.3 Rechtsvereinheitlichung durch Gesetzgebung

2.2.1.3.1 Rechtseinheit und Reform

2.2.1.3.2 Rechtsvereinheitlichung in der Kommissionsarbeit

2.2.2 Vollständigkeit

2.2.2.1 Vollständige Regelung des Privatrechts?

2.2.2.2 Lückenlosigkeit?

2.2.2.3 Lückenfüllung durch Prinzipien

2.2.2.4 Vertiefung: Die Materialien zum BGB

2.3 Ergebnis: Das BGB als Kodifikation des Privatrechts

3 Eine Kodifikation in Zeiten des Übergangs (1870–1914)

3.1 Politik: Von frei zu sozial

3.1.1 Zwischen zwei Epochen: Gründerjahre und Gründerkrach

3.1.2 Das „unsoziale BGB“?

3.1.3 Kodifikation und Sondergesetze

3.1.4 Vertiefung: „Rechtsmissbrauch“

3.1.5 Die Krise der Form als „Zwillingsschwester der Freiheit“

3.2 Rechtswissenschaft: Von den Pandekten zum Gesetz

3.2.1 Der Sturz vom Thron

3.2.2 Abschied vom Volksgeist

3.2.3 Neue Wege

3.3 Justiz: Richterkönig oder Subsumtionsautomat?

3.3.1 Das BGB als Gefängnis des Richters?

3.3.2 „Richterrecht“

3.3.3 Richterlicher Umgang mit dem BGB vor 1914

3.3.4 Vertiefung: Die „Entdeckung“ der positiven Vertragsverletzung

3.4 Leitperspektiven auf das weitere 20. Jahrhundert

4 Epochen des BGB im 20. Jahrhundert

4.1 Erster Weltkrieg (1914–1918)

4.1.1 Krieg als Labor der Intervention

4.1.2 Zweifel am Gesetzgeber

4.1.3 Neue dogmatische Lösungen

4.2 Weimarer Republik (1918–1933)

4.2.1 Verfassungsprivatrecht?

4.2.2 Das BGB und der soziale Wandel in Ehe und Familie

4.2.3 „Sozialisierung“

4.2.4 Vertragsfreiheit?

4.2.4.1 Die organisierte Wirtschaft

4.2.4.2 Vertiefung: Abkehr vom Willensbezug in der Dogmatik

4.2.5 Krisendogmatik

4.2.5.1 Weiterdenken der Kriegsprobleme

4.2.5.2 Generalklauseln als dogmatische und rechtspolitische Herausforderung

4.2.5.2.1 Die Aufwertungsfrage

4.2.5.2.2 Die „Flucht in die Generalklauseln“

4.2.6 „Gesetzesdämmerung“?

4.3 Nationalsozialismus (1933–1945)

4.3.1 „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ – Privatrecht im Nationalsozialismus?

4.3.2 Vertiefung: Folgenreiche Diskussionen um den nationalsozialistischen Vertragsbegriff

4.3.2.1 Vom Anspruch zur Pflicht

4.3.2.2 Von der Willensübereinstimmung zum sozialtypischen Verhalten

4.3.3 Umwertung des BGB

4.3.3.1 Wertungsjurisprudenz I

4.3.3.2 Politisierung der Generalklauseln

4.3.3.3 Richterliche Umwertungen des BGB

4.3.4 Sonderrecht

4.3.4.1 Spezialnormen

4.3.4.2 Ungleichheit als Rechtsprinzip

4.3.4.3 Generalklauseln, Auslegungsvorschriften und Missbrauchsvorbehalte

4.3.5 Das Projekt eines Volksgesetzbuches

4.3.6 Das BGB im Zweiten Weltkrieg

4.4 DDR (1949–1989)

4.4.1 Privatrecht im Sozialismus?

4.4.2 „Restzivilrecht“

4.4.3 Umwertung des BGB

4.4.4 Das ZGB der DDR

4.5 Besatzungszeit und Bundesrepublik Deutschland (1945–2002)

4.5.1 Entnazifizierung des Zivilrechts?

4.5.1.1 Judikatur und Oberster Gerichtshof für die Britische Zone

4.5.1.2 Versöhnung mit dem BGB? – Die Privatrechtswissenschaft und das Erbe der NS-Zeit

4.5.1.3 Wertungsjurisprudenz II

4.5.2 Die „Naturrechtsrenaissance“ des Bundesgerichtshofes

4.5.3 Vertiefung: Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht

4.5.4 Verfassungsprivatrecht

4.5.5 Das neue Familienrecht

4.5.6 Herausforderungen durch die Sozialwissenschaften

4.5.7 Verbraucherrecht

4.5.8 Die Schuldrechtsreform 2002

5 100 Jahre Bürgerliches Gesetzbuch

Abkürzungsverzeichnis

Register

Personenregister

Sachregister

Paragraphenregister

1 Einführung

Dieses Lehrbuch beschäftigt sich mit dem Wissen zum BGB, das selten gelehrt wird. In den dogmatischen Vorlesungen fehlen Grundlagenperspektiven nahezu immer. In den historischen Vorlesungen ist das BGB oft nur ein Nebenthema. Rechtstheorie, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie nehmen das BGB in Vorlesungen meist kaum wahr.

Dieses Buch möchte einerseits das Konzept eines Bürgerlichen Gesetzbuches erklären. Warum hat man ein solches Gesetzbuch verfasst? Und wie wollte man es verfassen, welche Sprache, welchen Aufbau, welche Themengebiete wählte man und warum? Andererseits möchte es der BGB-Dogmatik eine historische Dimension zurückgeben. Im Studium des „geltenden“ Rechts wird Privatrecht überwiegend so behandelt, als wäre es sozusagen gestern in einer Sekunde entstanden. In den Fußnoten der Hausarbeiten werden manchmal Urteile zu Ketten verknüpft, die 100 Jahre Rechtsprechungsgeschichte historisch einebnen. Das stabilisiert juristische Konstruktionen, behindert aber ihr Verständnis. Man versteht die strenge Halterhaftung im Straßenverkehrsgesetz (StVG) besser, wenn man sich klarmacht, dass 1909, bei Inkrafttreten dieses Gesetzes, überwiegend Chauffeure am Steuer der Autos saßen.

Bei näherer Betrachtung verkapseln die Rechtsinstitute, dogmatischen Lösungen, richterlichen Leitentscheidungen, die Jurastudenten heute so lernen, als seien sie gestern plötzlich alle gleichzeitig da gewesen, Geschichte. Vieles, was wir heute dem BGB zuschreiben, hatte da nie drinstehen sollen, war nie geplant gewesen. Der Wandel des BGB und seiner Interpretation reagierte meist nicht einfach auf die ewige Welt juristischer Dogmatik, sondern auf einen Wandel des Kontexts: Neue ökonomische, soziale, technische Probleme, neue politische Ziele, wissenschaftstheoretische Neuausrichtungen, aber auch schlicht andere Juristen veränderten das BGB-Recht. Juristische Dogmatik ist in diesem Sinne immer geschichtlich. Und diese Geschichte zu verstehen ist notwendig, wenn wir die Probleme verstehen wollen, die irgendeine juristische Aussage lösen will. Das kann bedeuten, dass wir Dinge mitschleppen, die eigentlich gar kein Problem mehr finden, das sie lösen sollen. Das kann bedeuten, dass juristische Aussagen scheinbar konstant sind, in Wahrheit aber durch den Wandel der Probleme, die sie lösen, auch ihren Inhalt verändert haben. Das Buch lebt also vom Glauben daran, dass man ein besserer Jurist ist, wenn man Gesetze, Dogmatik und richterliche Urteile auch als Ergebnis historischer Situationen versteht.

Für das BGB stellt sich daher hier nicht nur die Frage, was es wollte, sondern auch, was daraus geworden ist. Wer hat das BGB wie und warum verändert? Das BGB galt im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, während des Nationalsozialismus, in der DDR bis 1976, und es gilt bis heute in der Bundesrepublik. Geht man davon aus, dass ein Gesetzbuch eine Gesellschaft steuert: Wie kann man ein solches Phänomen erklären? Das gleiche Gesetz regelt eine Monarchie, zwei Republiken, eine Diktatur „des Proletariats“ und eine Diktatur Adolf Hitlers? Das BGB wurde geändert, es wurde uminterpretiert, es wurde durch Spezialgesetze an den Rand gedrängt. Und doch ist es nie ganz abgeschafft worden. Was blieb von den Konzepten der Verfasser? Was lernen wir über das Verhältnis des Juristen zu seinem Text? Was können Gesetze und was können sie nicht? Der nachfolgende Text stellt also „große“ Fragen, ohne immer den Anspruch zu erheben, auch sichere Antworten zu liefern. Das Nachdenken darüber anregen will er aber schon.

Die beschränkte Perspektive bitte ich mitzudenken. Das Buch ist, besonders in seinem Abschnitt zum 20. Jahrhundert, keine Privatrechtsgeschichte, sondern nur ein Teilausschnitt, der immer wieder nur danach fragt, welche Rolle das BGB in dieser Geschichte spielte. Neben dieser Leitfrage werden im Kapitel 3 drei präzisierende Perspektiven entwickelt. Es geht um „frei“ und „sozial“, „Wirklichkeit“ und „Wert“, Richterrecht und Gesetzesanwendung und zugleich um die drei hier akzentuierten Akteure: den Gesetzgeber, die Rechtswissenschaft und die Justiz. Das ist der gedankliche Rahmen, der meine Stoffauswahl bestimmt hat.

Das Buch ist für Studierende und Nachwuchsforscher geschrieben und will daran gemessen werden. Das umfasst Zuspitzungen, Verkürzungen und klare Schwerpunktsetzungen. Es ist undenkbar, den gesamten inhaltlichen, dogmatischen und methodischen Wandel, den das BGB erlebt hat, abzubilden. Jedem Spezialisten wird etwas fehlen, viele hätten andere Schwerpunkte gesetzt, einige werden kleine Mängel aus ihren Spezialgebieten aufspießen und sich ärgern, dass sie nicht zitiert werden. Auch eine zu starke Betonung der Entwicklung dogmatischer Einzelfragen hätte die Linienführung zerstört. Meine Schwerpunkte folgen dem, was mich interessiert, was ich für didaktisch wertvoll halte und was ich fachlich beherrsche. Solch ein Buch ist ein persönliches Buch und kann als solches nie den Anspruch haben, allen zu gefallen. Es wurde seit 2003 in Vorlesungen, die ich an der Universität zu Köln halte, vorbereitet: Die Vorlesung „Historische und methodische Grundlagen des BGB“ für das Hauptstudium war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Daneben halte ich eine Schwerpunktbereichsvorlesung zur „Privatrechtsgeschichte im 20. Jahrhundert“. Für beide Vorlesungen habe ich nie ein taugliches Lehrbuch gefunden. Daher habe ich dieses geschrieben.

Didaktisch werde ich es folgendermaßen nutzen: Im Buch steht die große Linie, die Vorlesung vertieft, greift heraus, problematisiert. Sie wird daher ein Stück weit von der Stoffvermittlung entlastet und kann das sein, was eine Vorlesung im Idealfall ist: ein Ort zum gemeinsamen Denken und Verstehen. Für die besonders Interessierten kann es so auch ein im juristischen Studium leider sehr seltenes Tor zur Wissenschaft sein. Literaturangaben laden daher zum Vertiefen ein. Hier wird bewusst kaum Ausbildungsliteratur verwendet, sondern anspruchsvolle Forschungsliteratur. Es soll auch ein Buch sein, das bis zu einer Promotion begleiten kann.

Ein Hinweis zur Literaturverwendung: Lehrbücher können und sollten nicht komplett auf eigener Forschung beruhen. Durchweg habe ich mich bemüht, den aktuellen Forschungsstand zu einem Gesamtbild zu verweben. Sehr viele hier vorgestellte Deutungen beruhen daher auf fremden Forschungen. Es entspricht eigentlich wissenschaftlicher Redlichkeit, diese Übernahmen fremder Ergebnisse immer konkret auszuweisen. Dies in einem Lehrbuch zu tun, hätte es mit einem umfangreichen Fußnotenapparat belastet, der die Lesbarkeit für Studierende zu stark beeinträchtigt und das Buch nochmals deutlich dicker gemacht hätte. Ich habe mich daher dazu entschieden, die von mir verwendete Literatur im Anschluss an den Text jeweils en bloc anzuhängen. In Fußnoten nachgewiesen werden nur Zitate oder unverzichtbare Fundstellen. Kein von mir verwendeter Text bleibt jedenfalls unerwähnt.

Literatur zum Einstieg: Wer sich mit der Geschichte des BGB beschäftigen will, sollte mit Überblicksartikeln beginnen. Ich empfehle, auch wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung: Werner Schubert, Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1896, in: Herbert Hofmeister (Hg.), Kodifikation als Mittel der Politik, Wien u. a. 1986, S. 11 ff.; Tilman Repgen, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte I, 2. Aufl. Berlin 2008, S. 752 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Art. Bürgerliches Gesetzbuch, in: Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts I, Tübingen 2009, S. 229 ff. Für die Geschichte einzelner Paragraphen und dogmatischer Konzepte helfen der Historisch-kritische Kommentar zum BGB (HKK), momentan sechs Bände (AT, SchR-AT, SchR-BT, FamR), Tübingen 2003–2019 sowie Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 2 Bde., München 1985, 1989. Daneben existiert eine Synopse, die es ermöglicht, die Veränderung des Textes des BGB im Untersuchungszeitraum auf einen Blick nachzuvollziehen: Tilman Repgen, Hans Schulte-Nölke u. Hans-Wolfgang Strätz (Hgg.), Staudinger. Kommentar zum BGB, BGB-Synopse 1896–2005, Berlin 2006. Eine moderne Privatrechtsgeschichte existiert momentan nicht. Für das Öffentliche Recht gibt es eine prägnante Zusammenfassung seines vierbändigen Hauptwerkes: Michael Stolleis, Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte 16.–21. Jahrhundert, München 2014. Viele Einzelfragen, insbesondere allgemeinhistorischer Art, klären sich über Lexika: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl. momentan 3 Bde., Berlin 2008 ff.; Enzyklopädie der Neuzeit, 16 Bde., Stuttgart 2005 ff. Ein Gebiet, das generell in diesem Buch mitschwingt, ist die juristische Methode. Hierzu empfehle ich als Arbeitsbuch: Joachim Rückert u. Ralf Seinecke, Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, 3. Aufl. Baden-Baden 2017; unverzichtbar daneben Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2 Bde., München 2021; eine gute Darstellung der historischen Perspektive für den heutigen Rechtsanwender gibt Oliver Lepsius, Kontextualisierung als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Juristenzeitung 2019, S. 793 ff.

2 Das BGB als Privatrechtskodifikation

Das BGB ist eine Privatrechtskodifikation. Was heißt das? Zwei Fragen schließen sich an: Was ist eine Kodifikation? Was ist Privatrecht? Beginnen wir mit der zweiten Frage:

2.1 Privatrecht – Eine kleine Begriffsgeschichte

Im Studium lernt man die Dichotomie zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht als logische Abgrenzungsfrage kennen. Der gesamte Rechtsvorrat ist danach aufgeteilt, jede Norm ist grundsätzlich entweder dem Privatrecht oder dem Öffentlichen Recht zuzuordnen. Nach verschiedenen Theorien (Interessentheorie, Subordinationstheorie, strenge oder modifizierte Subjektstheorie, Subjektionstheorie etc.) werden die beiden Bereiche voneinander abgegrenzt. Die Abgrenzung hat u. a. praktische Relevanz in der Rechtswegzuweisung zu den ordentlichen Gerichten oder zum Verwaltungsgericht. Hinter dieser technischen Frage verbergen sich jedoch viel tiefergehende, rechtspolitische Fragen. Im Begriff des Privatrechts transportiert die Rechtssprache grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit, also zur Gesamtgesellschaft, zur Obrigkeit oder neuzeitlich zum Staat. Der schon sehr alte Begriff umfasste von Anfang an also Kontexte, seine Definition und sein Verständnis waren von einem beständigen Wandel bestimmt, der bis heute anhält. Ein Blick in die verschlungene Begriffsgeschichte von „Privatrecht“ ist daher besonders gut geeignet, um die Welt des BGB kennenzulernen. Warum grenzte man diesen Rechtsbereich im Jahr 1896, als man das BGB im Reichstag beschloss, so explizit vom sonstigen Recht ab? Und schließlich: Wie denken wir heute darüber? Teilen wir noch den gleichen Privatrechtsbegriff mit den Verfassern des BGB oder zeigt schon ein Blick in die Gegenwart des Begriffs viel über die Geschichte des BGB im 20. Jahrhundert, die in diesem Lehrbuch erzählt werden soll?

2.1.1 Rom

Wer sich mit unserer Rechtssprache befasst, wird nicht überrascht sein: Auch „Privatrecht“ ist eine deutsche Übersetzung eines antiken lateinischen Begriffs: ius privatum. Den heutigen Studierenden ist noch die Interessentheorie Ulpians bekannt (D. 1, 1, 1, 2 = Inst. 1, 1, 4),1 die dieser entwickelte, um Studenten zwei unterschiedliche Bezugsobjekte des Rechts zu erklären. Öffentliches Recht (ius publicum) ist das Recht, welches sich auf das römische Staatswesen bezieht, Privatrecht (ius privatum) betrifft die Interessen des Einzelnen.2 Neben diese auf den Regelungszweck abzielende Bedeutung trat eine zweite, die die Regelungsentstehung und ihre Bindungswirkung thematisierte: Ius publicum war das vom Staat ausgehende und ius privatum das von Bürgern ausgehende Recht. Damit war der Bereich des zwingenden staatlichen Rechts angesprochen, denn „öffentliches Recht kann durch private Verträge nicht abgeändert werden“ (D. 2, 14, 38). Schon hier tauchte unser Thema also auf: Es ging um das Verhältnis des Einzelnen zu den Interessen des Staates. Auch in Rom entstand Recht durch Private, durch Verträge, Verfügungen des Eigentums, Testamente. Es war geprägt durch die Rechtsgelehrten, die Vertragsparteien berieten. Folglich war das Verhältnis dieses Rechts zu dem Recht zu bestimmen, das der Staat und seine Organe als dem Gesamtinteresse förderlich festsetzten. Zwingendes Recht des Staates ging dem Recht der Privatperson vor.

Klingt das für uns ganz vertraut, so zeigt ein genauerer Blick, dass die römische Rechtswelt sich einschneidend von dem unterschied, was wir heute als Privatrecht verstehen. Die römische Welt war von Ungleichheit geprägt. Die mit Privatrecht angesprochen „Privatmänner“ waren im Kern der jeweils älteste Mann der Familie, der als pater familias einzig die volle Rechtsfähigkeit besaß, während regelmäßig seine Ehefrau und auch die volljährigen Kinder seiner Hausgewalt (patria potestas) unterstanden. Nicht nur die vielen Unfreien in Rom, die Sklaven, waren also ausgeschlossen, sondern auch weite Teile der frei geborenen Bewohner Roms. § 1 BGB, der alle Menschen für rechtsfähig erklärt, macht bereits deutlich, wie fundamental unser heutiges freiheits- und gleichheitsbasiertes Privatrecht sich von dem unterscheidet, was die Römer damit verbanden. Und das sollte sich auch sehr lange nicht ändern.

Literatur: Max Kaser, Ius publicum und ius privatum, in: ZRG RA 103, 1986, S. 1 ff.; Nils Jansen, Staatliche Gesellschaftspolitik und juristische Argumentation im römischen Privatrecht, in: Holger Altmeppen u. a. (Hgg.), Festschrift für Rolf Knütel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, S. 493 ff.; Tilman Repgen, Art. Privatrecht, in: Staatslexikon, Bd. 4, 8. Aufl. Freiburg 2020, Sp. 1028 ff.

2.1.2 Ius publicum und ius privatum im Alten Reich vor 1780

1756 definierte die Bayerische Zivilrechtskodifikation (Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis):

Gesetze, welche nicht so viel den Staat selbst und den Nexum Rei Publicae, als die Privathandlungen und die Gerechtsamen betreffen, machen das Bürgerliche Recht (Ius Privatum) eigentlich aus.3

Der Verfasser des Gesetzes, Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr, verstand Ulpians eben gezeigte Unterscheidung zwischen ius publicum und ius privatum für uns heute eigenartig. Alles, was nicht den Staatsaufbau im engeren Sinne betraf, sei Privatrecht. Vieles, was wir heute im Öffentlichen Recht verorten, unterfiel damit dem Privatrecht: Gebiete wie das Verwaltungsrecht, das Strafrecht, das Prozessrecht und das Zwangsvollstreckungsrecht waren Privatrecht. Dies hing zusammen mit den Lehren vom Gesellschaftsvertrag, die das Staatsdenken seit dem 17. Jahrhundert dominierten. Das ältere Vernunftrecht (z. B. Thomas Hobbes, Hugo Grotius, John Locke, Samuel Pufendorf) hatte den Staat stets als Folge eines Gesellschaftsvertrages gedacht. Dieser Vertrag machte aus dem Naturzustand die bürgerliche Gesellschaft. Bis etwa 1780 wurden daher die Begriffe „bürgerliche Gesellschaft“ (societas civilis) und „Staat“ (civitas, res publica) synonym verwendet. Da man nun aber den Gesellschaftsvertrag eng als Staatsgründungsvertrag verstand, der nur den Staatsaufbau und das Handeln des Staates gegenüber anderen Staaten umfasste, blieb der Mensch in vielen Bereichen weiterhin im Naturzustand. Dieser Bereich außerhalb des – wie wir heute sagen würden – Staatsorganisations- und Völkerrechts war so viel größer als der Bereich des ius publicum, dass sich eine Trennung des Rechts in zwei Teile vor 1780 gar nicht durchsetzte. Beide Teile waren viel zu unterschiedlich groß, als dass eine solche Unterscheidung eine hinreichende Ordnungsfunktion für das Verständnis des Rechts entwickelt hätte.

Kann man daher auch begrifflich für die Zeit vor 1780 von einer Dominanz des Privatrechts sprechen, so war die Rechtswirklichkeit ganz gegenteilig von dem dominiert, was wir heute als Öffentliches Recht verstehen.

Was, wie ja auch in Rom, bereits fehlte, war die heute in § 1 BGB als Ausgangspunkt des Privatrechts statuierte allgemeine Rechtsfähigkeit. Bis weit in das 18. Jahrhundert bestimmte Ungleichheit den Aufbau der Gesellschaft. Rechtsfähigkeit richtete sich nach Geburt (frei, unfrei), Stand (Adel, Bauern und Bürger) und Familie (Frauen, Minderjährige, aber auch Alte waren rechtlich eingeschränkt). Bisweilen hing der Grad der rechtlichen Freiheit von einer Verleihung bestimmter Rechte (Privilegien) ab, etwa bei Juden. Am ehesten fand man das Konzept der allgemeinen Rechtsfähigkeit noch bei städtischen Bürgern mit Bürgerrecht. Auch diese konnten die Rechtsfähigkeit aber wieder verlieren, etwa durch ansteckende Krankheiten (z. B. Lepra), durch gerichtliche Rechtlosstellung (Acht) oder durch Ehrverlust (Infamie).

In Bereichen, in denen die Handelnden gleich rechtsfähig waren, insbesondere unter in ihrem Rechtsstatus nicht eingeschränkten Männern, war Vertragsfreiheit bereits im Mittelalter durchaus anerkannt. Auch wenn der Satz „pacta sunt servanda“ als Prinzip der Klagbarkeit aller Verträge erst im 13. Jahrhundert durch das Kirchenrecht formuliert wurde, herrschte Einigkeit, dass insbesondere im Kauf-, Miet- und Dienstleistungsrecht Abschlussfreiheit und die Pflicht zum Worthalten bestanden. Lediglich die sittlichen Grenzen wurden im Vergleich zu heute enger gezogen. Auch das passt aber am besten für Städte. Auf dem Lande war vieles anders, schon weil die Ökonomie weitgehend über Grundherrschaft, also Unfreiheit organisiert war. Auch die Besitzverhältnisse auf dem Land waren nicht privatautonom gedacht. Seit dem Mittelalter gaben Grundstücke primär Nutzungsbefugnisse, nicht Verfügungsrechte. Im Lehensrecht bekam der Vasall Land gegen Abgaben und das Versprechen der Unterstützung und Treue in Krisenzeiten. Sein Lehensherr wiederum konnte das Lehen nicht frei entziehen und bekam es oft nicht einmal im Fall des Todes des Vasallen zurück (sog. Heimfall), war also ebenfalls nicht frei in seiner Verfügungsmacht. In der Grundherrschaft erhielt der Hörige in manchen Regionen ein kleines Landstück zur Eigennutzung gegen dingliche oder persönliche Abgaben (Dienste). Auf dem Land waren die Grundbesitzverhältnisse daher oft statisch.

In der Neuzeit nahmen die rechtlichen Eingriffe in die freie Selbstorganisation der Individuen nochmals massiv zu. Hintergrund war eine Rationalisierung der Herrschaft in den Städten und in Territorien, die wie Preußen nach französischem Vorbild einen modernen Staat errichten wollten, in dem der Herrscher als Souverän seine Herrschaft organisierte. Der Aufbau einer modernen Verwaltung bot den Rahmen für die Vorstellung, man könne eine Stadt oder einen Staat wie eine Maschine steuern. Steuerungsmittel war das Recht, das nun in tausenden „Policeyordnungen“ das Zusammenleben in der frühneuzeitlichen Gesellschaft regelte. Hierzu griffen die Herrscher in das private Leben der Rechtsunterworfenen ein, wann immer dies ihrer Vorstellung des Gemeinwohls entsprach. Man sprach von der „guten Policey“. Deren Regelungsfeld war denkbar breit:

Gotteslästerung, Sonntagsheiligung, Aufwand und Luxus, gesellschaftliche Randgruppen und Unterschichten, Sexualität, Ehe und Familie, Vormundschafts- und Erbschaftswesen, Glücksspiel, Tanzen und Festkultur, öffentliche Sicherheit, Zensur, Gesundheits- und Erziehungswesen, Schule und Ausbildung, Armenwesen und Bettel, Landwirtschafts-, Forst- und Bodennutzung, Produktion und Arbeitsordnung, Handwerk und Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, Geld- und Kreditwesen, öffentliche Einrichtungen und Bauwesen.4

Man hat das lange nur als „Sozialdisziplinierung“ gedeutet, also als Herrschaftssicherung im Sinne des „Absolutismus“. Heute weiß man, dass diese Fülle der Policeyordnungen auch dazu dienten, tradierte Formen des Zusammenlebens zu schützen. Untertanen waren daher bisweilen an der Entstehung dieser Normen beteiligt. Refugien individueller Privatheit konnte man gegenüber dem Steuerungsanspruch der „guten Policey“ gleichwohl nicht beanspruchen. Die Religionspolicey verfolgte Gotteslästerung und Fluchen und wachte über regelmäßigen Kirchgang und die Sonntagsruhe. In den Wirtshäusern wurde Zuprosten verboten, um den Alkoholkonsum zu senken. Bei privaten Festen, etwa Hochzeiten, wurde vorgeschrieben, wie viele Gäste geladen und wie lange gefeiert werden durfte. Die auszuschenkende Biermenge wurde ebenso festgelegt wie die Zahl der Spielleute und der Preis der erlaubten Geschenke, um übermäßigem Luxus entgegenzuwirken. Zahlreiche Kleiderordnungen legten die standesgemäße Tracht fest. Noch 1794 schrieb das Preußische Allgemeine Landrecht der Mutter vor, wie lange sie ihr Kind zu stillen habe (ALR II 2 §§ 67–69).

Die Kernbereiche des heutigen Privatrechts wurden tief von diesen administrativen Eingriffen geprägt. Im Vertragsrecht wurde der Verkauf von Gütern durch Abschlusspflichten und -Verbote sowie Preisfestlegungen reguliert. Darlehensverträge waren für bestimmte Personengruppen (Soldaten, Studenten) untersagt, der Kauf von Luxusgütern eingeschränkt. Der Grundstückshandel wurde ökonomischen Gesamtnutzenerwägungen unterworfen, etwa indem der Verkauf an ungeeignete Landwirte verboten wurde. Die Familie wurde gegen Verfügungen über ihr Grundstück durch Vorkaufsrechte abgesichert, die Verfügung von Todes wegen entsprechend eingeschränkt. Im Eherecht wurden Heiratsverbote aufgestellt, wenn negative Folgen für die Allgemeinheit befürchtet wurden, etwa bei nicht hinreichender Berufsausbildung des Mannes. In der Rechtswirklichkeit des 18. Jahrhunderts fehlte es daher in weiten Bereichen an den privatautonomen Grundlagen, die wir heute dem Bürgerlichen Recht zuschreiben.