Die Herbst-Apparatur

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Die Herbst-Apparatur
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Die Herbst-Apparatur

Hans Pancherz

Die Herbst-Apparatur

Erfolgreiche Behandlung von Klasse-II-Dysgnathien

Mit einem Beitrag von:

Björn Ludwig

Jens J. Bock

Simon Graf

Dirk Wiechmann



Ein Buch – ein Baum: Für jedes verkaufte Buch pflanzt Quintessenz gemeinsam mit der Organisation „One Tree Planted“ einen Baum, um damit die weltweite Wiederaufforstung zu unterstützen (https://onetreeplanted.org/).

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.


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Lektorat, Herstellung und Reproduktionen:

Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-86867-613-6

Geleitwort

Obwohl die Astronomie sagt, dass jeden Tag acht neue Sterne geboren werden, habe ich bisher nur zwei Sternengeburten erlebt, und die konnte ich nicht in der Galaxie, sondern hier auf Erden beobachten. Die zweite war die Vorstellung des Invisalign-Systems 1999 in San Diego durch Robert Boyd. Meine erste Sternengeburt fand jedoch schon 1982 in Atlanta statt, als Hans Pancherz dort seine erfolgreichen Distalbiss-Behandlungen mit dem Herbst-Scharnier vorstellte – es gab kaum einen Zuhörenden, der seinen staunend offenen Mund zubekam. Mir ging das ebenso.

Doch wer war da der Star? Das Okklusionsscharnier, bereits 1905 von Emil Herbst entwickelt, das bestenfalls noch in wenigen Praxen in der untersten Schublade Staub ansetzte? Nein, dazu fehlte ihm der Sex-Appeal des völlig Neuen. Hans Pancherz? Der erst recht nicht, denn er hielt sich mit seinem freundlich-verbindlichen, ernsthaft-wissenschaftlichen, bescheiden-introvertierten (skandinavischen?) Verhalten in unvergleichlicher Weise zurück. Der Star war eine wiederbelebte, sichere (da weitgehend mitarbeitsunabhängige) Behandlungsmethode zur Korrektur von Distalbissen, die in vieler Hinsicht besser war als die allgemein praktizierten Therapien mit funktionskieferorthopädischen Geräten oder gar mit einer der ebenso zahlreichen Headgear-Formen.

Ich war so begeistert von der alten neuen Technik, dass ich Hans Pancherz gleich im folgenden Jahr zu einem Vortrag nach Berlin bat. Und so begann eine Bekanntschaft, die sich über Jahre und viele gemeinsame Vorträge bei weltweiten Kongressen zu einer kollegialen Freundschaft entwickelte – eine Freundschaft, die von meiner Anerkennung dafür geprägt war, dass Hans „sein“ Behandlungssystem in aller Konsequenz von allen Seiten her beleuchtete, wobei er oft bemerkenswerte, außerordentliche Mitautoren hatte. So entstand langsam ein Lebenswerk, das seinesgleichen sucht und logischerweise zu dem Buch führt, das Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt in Ihren Händen halten. Und dem ich vor allem den verdienten Erfolg uneingeschränkt wünsche.

Nun will ich Sie alle, die Sie mir bis hierher gefolgt sind, nicht weiter vom Lesen des nachfolgenden Textes abhalten und daher zum Ende kommen. Doch vor dem Schlusspunkt noch eine Bemerkung: Die meisten Größen der Kieferorthopädie berichten stets nur über Erfolge ihrer Behandlungssysteme. Eine wahre kieferorthopädische Koryphäe wie Hans Pancherz hat dagegen die Größe zu belegen, dass es trotz allen Könnens noch Misserfolge und Rezidive gibt. Das macht dieses Lehrbuch in meinen Augen einzigartig.

Die Leserinnen und Leser werden dir für deine unbestechliche Sachlichkeit danken, lieber Hans. Aber noch mehr schulden dir die zahllosen Patientinnen und Patienten Dank, denen durch das „Pancherz-Scharnier“ ein schwerwiegender kieferchirurgischer Eingriff erspart blieb!

Prof. em. Dr. Rainer-Reginald Miethke

Vorwort

Nach der „Wiederentdeckung“ der Herbst-Apparatur vor ca. 40 Jahren war das Gerät für mich in erster Linie ein ideales Mittel in der kieferorthopädischen Forschung. Das Gerät ist festsitzend, die Mitarbeit des Patienten ist für die korrekte Funktion der Apparatur nicht erforderlich und die Behandlungszeit ist kurz. Somit konnte die Apparatur einen großen Beitrag zur Beantwortung von grundsätzlichen Fragen in der Kieferorthopädie leisten: (1) Kann das Kiefergelenkwachstum stimuliert werden? (2) Wird die Kaufunktion bzw. die Kaumuskelaktivität beeinflusst? (3) Ist die Korrektur der Klasse-II-Okklusion skelettal und/oder dental bedingt?

Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Herbst-Apparatur nicht nur ideal in der Forschung, sondern auch ein zuverlässiges Gerät bei der Behandlung des Distalbisses ist. Das Buch ist eine Zusammenstellung der wichtigsten Erkenntnisse über die klinischen Möglichkeiten einer erfolgreichen Behandlung mit der Herbst-Apparatur.

In den Beiträgen 1 bis 17 werden klinische Probleme bei der Distalbiss-Therapie dargestellt. Es sind Probleme, die mit der Herbst-Apparatur einfacher und sicherer behandelt werden können als mit herkömmlichen abnehmbaren und/oder festsitzenden Geräten:

•„Extraktionsfälle“ können oft mit dem Herbst-Gerät ohne Entfernung von bleibenden Zähnen therapiert werden.

•Bei unilateralen Klasse-II-Dysgnathien mit Mittellinienabweichung kann eine asymmetrische Vorverlagerung des Unterkiefers mit der Herbst-Apparatur die bessere Therapie als eine Extraktion von drei oder vier Prämolaren sein.

•Bei Klasse-II-Dysgnathien mit Engständen im Oberkiefer-Frontzahnbereich (Schneidezähne oder Eckzähne) kann der „Headgear-Effekt“ der Herbst-Apparatur gezielt verwendet werden, um ausreichend Platz durch eine Distalisation der Seitenzähne zu schaffen.

•Bei der Klasse-II-Therapie von jungen Erwachsenen kann die Herbst-Apparatur eine echte Alternative zur kieferchirurgischen Kieferlagekorrektur sein.

Im Beitrag 18 wird der Bisstyp (eine neue Methode zur Klassifikation der sagittalen Okklusion) vorgestellt. Das Verfahren ist im Grunde eine erweiterte Angle-Klassifikation, aber ohne die Nachteile dieser Methode.

Im Beitrag 19 wird von Herrn Dr. Björn Ludwig und Koautoren die Herstellung der modernen gegossenen Herbst-Apparatur nach dem CAD/CAM-Verfahren gezeigt.

Zur Beantwortung von klinischen Forschungsfragen oder zur Demonstration von Patienten ist eine gute Fotodokumentation essenziell. Die in diesem Buch vorgestellten Patienten wurden bei jedem zweiten Besuch (alle 10 bis 12 Wochen) fotografiert. Während meiner Zeit in Malmö/Schweden war ich selbst der Fotograf. Später in Gießen/Deutschland stand bei allen Fotos mein geschätzter Mitarbeiter, Fotograf Herr Hartmut Meyer, hinter der Kamera, bei dem ich mich herzlich bedanken möchte.

Nun wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine erkenntnisreiche Lektüre.

Hans Pancherz

Gießen, im Herbst 2021

Autoren

Hans Pancherz

Univ.-Prof. i. R., Odont. Dr.

Poliklinik für Kieferorthopädie

Justus-Liebig-Universität Gießen

Dresdner Straße 5a

35435 Wettenberg

Hans Pancherz erhielt seine zahnärztliche und kieferorthopädische Ausbildung an der Fakultät für Zahnmedizin der Universität Lund in Malmö, Schweden. Er wurde 1974 zum Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ernannt. Von 1975 bis 1985 war er außerordentlicher Professor an der kieferorthopädischen Abteilung der Universität Lund. Im Jahr 1985 wurde er zum Lehrstuhlinhaber an der Universität Gießen, Deutschland, ernannt, wo er von 1985 bis 2005 tätig war. Professor Pancherz hat 180 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, von denen sich 101 mit der Herbst-Apparatur befassen. Er wurde als Referent zu mehr als 200 nationalen und internationalen Konferenzen auf der ganzen Welt eingeladen und hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.

Björn Ludwig

Dr. med. dent.

Kieferorthopädische Praxis

Am Bahnhof 54

56841 Traben-Trarbach

Jens J. Bock

Dr. med. dent.

Kieferorthopädische Praxis

Am Schlossgarten 1

36037 Fulda

Simon Graf

Praxis für Kieferorthopädie

Smile AG

Eichenweg 23

3123 Belp

Schweiz

Dirk Wiechmann

Prof. Dr. med. dent. Dr. h. c.

Prof. Wiechmann, Dr. Beyling und Kollegen

Lindenstraße 44

49152 Bad Essen

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

 

Autoren

1 Mystik der Funktionskieferorthopädie

2 Wenn der Aktivator versagt – was tun?

3 Schrittweises Bite Jumping bis zum frontalen Kreuzbiss bei der Herbst-Behandlung

4 Extreme Klasse-II-Überkorrektur ohne nachfolgende Retention bei der Herbst-Behandlung

Eine Pilotstudie

5 Initiale Probleme beim Tragen einer Herbst-Apparatur

Eine Tagebuchauswertung

6 Herbst-Behandlung der unilateralen Klasse-II-Dysgnathie

7 Effiziente Behandlung des Deckbisses (Klasse II:2)

8 „Headgear-Effekt“ der Herbst-Apparatur

Platzschaffung bei engstehenden Eck- und Schneidezähnen im Oberkiefer

9 Multibracket-Apparatur-Therapie bei ausgeprägten Klasse-II-Dysgnathien – immer mit einer Herbst-Vorbehandlung

10 Herbst-Behandlung mit Extraktion von vier Prämolaren

11 Der Unterkiefer-Frontengstand – ein ungelöstes kieferorthopädisches Problem

12 Extraktion eines Inzisivus im Unterkiefer bei der Herbst-Behandlung

13 Behandlung von erwachsenen Klasse-II-Dysgnathien

Ist die Herbst-Apparatur eine Alternative zur Kieferchirurgie?

14 Das Angle-Klasse-II-Gesichtsprofil und die Herbst-Apparatur

15 Die Herbst-Apparatur und das Kiefergelenk

16 Kauleistung und Kaumuskelaktivität bei der Aktivator- und der Herbst-Behandlung

17 Rezidiv nach der Herbst-Behandlung

18 Der Bisstyp – eine erweiterte Angle-Klassifikation

Vorstellung einer neuen Methode

19 CAD/CAM: Die nächste Evolutionsstufe für das Herbst-Geschiebe

Björn Ludwig, Jens J. Bock, Simon Graf, Dirk Wiechmann

1

Mystik der Funktionskieferorthopädie

Einleitung

Es gibt in der Kieferorthopädie viele Aussagen, die sich – ohne dass sie wissenschaftlich überprüft worden sind – mit den Jahren zu unwidersprochenen Dogmen entwickelt haben.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit vier ausgewählten Doktrinen, bei denen es unsicher ist, ob sie in der modernen Kieferorthopädie noch Gültigkeit haben. Im Bereich der Distalbiss-Behandlung mit funktionskieferorthopädischen (FKO) Mitteln werden folgende mysteriöse Fragethemen angesprochen:

1.Wie definiert man ein FKO-Gerät?

2.Hat das Ausmaß und die Art der Unterkiefervorverlagerung eine Bedeutung für die FKO-Behandlung?

3.Kann das Unterkieferwachstum durch eine FKO-Behandlung stimuliert werden?

4.Sind abnehmbare oder festsitzende FKO-Geräte zu bevorzugen?

Was ist ein FKO-Gerät?

Es wird seit Einführung des Aktivators in die Kieferorthopädie1 behauptet: (1) Bei FKO-Geräten werden funktionelle Kräfte zum Gewebeumbau eingesetzt und es werden keine aktiv mechanischen Kräfte verwendet. (2) Körpereigene Kräfte, ausgelöst durch Muskelimpulse, werden auf Kieferbasen, Alveolarfortsätze und Zähne übertragen. (3) Das Kontraktionsmuster der Muskulatur normalisiert sich bei einer FKO-Behandlung. (4) Nur abnehmbare Geräte, die nicht mit Halteelementen an den Zähnen befestigt sind, kommen als FKO-Geräte infrage.

Seit der Wiedereinführung der Herbst-Apparatur in die moderne Kieferorthopädie2 wird die Apparatur in der englischen Literatur als „fixed functional appliance“ bezeichnet. Die Herbst-Apparatur arbeitet nicht mithilfe der Muskulatur, sie normalisiert aber ein abweichendes Kontraktionsmuster der Masseter- und Temporalis-Muskulatur während der Behandlung3.

Betrachtet man abnehmbare und festsitzende FKO-Geräte näher fällt auf, dass alle Geräte (abnehmbare wie auch festsitzende) bei der Klasse-II-Behandlung, nach dem Prinzip des Bite Jumpings4 arbeiten. Das Prinzip bedeutet eine Veränderung der sagittalen intermaxillären Zahnbogenrelation durch eine Vorverlagerung des Unterkiefers. Bei abnehmbaren FKO-Geräten ist es ein funktionelles Jumping (der Unterkiefer wird, gesteuert durch die Apparatur, mithilfe der Kaumuskelaktivität funktionell nach anterior verlagert). Bei festsitzenden FKO-Geräten ist es ein mechanisches Jumping (der Unterkiefer wird mechanisch anhand festsitzender teleskopierender Schienen zwangsweise nach anterior verlagert).

Somit kann festgestellt werden, dass eine FKO-Apparatur jede Apparatur (abnehmbar oder festsitzend) ist, die das Bite-Jumping-Prinzip verwendet, und dass die Muskelfunktion aufgrund der Unterkiefervorverlagerung aktiviert wird.

Die meistbekannten abnehmbaren FKO-Geräte sind der Aktivator1, der Bionator5 und der Funktionsregler (Abb. 1)6. Bei den festsitzenden FKO-Geräten sind vor allem die Herbst-Apparatur2,7, der Jasper Jumper8 und die Forsus-Feder (Forsus Fatigue Resistence Device)9 zu nennen (Abb. 2).

Abb. 1a bis c Beispiele von drei abnehmbaren FKO-Geräten: a) Aktivator, b) Bionator und c) Funktionsregler.

Abb. 2a bis c Beispiele von drei festsitzenden FKO-Geräten: a) Herbst-Apparatur, b) Jasper Jumper und c) Forsus Fatigue Resistance Device.

Da der Aktivator (bei den abnehmbaren Apparaturen) und die Herbst-Apparatur (bei den festsitzenden Apparaturen) die am häufigsten untersuchten FKO-Geräte sind, wird in der weiteren Darstellung hauptsächlich von diesen beiden Geräten (Aktivator und Herbst) gesprochen.

Ausmaß und Art der Unterkieferverlagerung

Bei einer Distalbiss-Behandlung werden in der Literatur das Ausmaß und die Art der Unterkieferverlagerung in der vertikalen und sagittalen Ebene häufig diskutiert. Dabei wird die Bedeutung der Muskulatur hervorgehoben, aber der Zusammenhang zwischen Unterkieferverlagerung und Muskelfunktion ist, wie oben erwähnt, größtenteils unklar.

Unterkieferverlagerung in der vertikalen Ebene

Bei der Aktivator-Behandlung soll angeblich die Höhe des Konstruktionsbisses wichtig sein. Drei Konzepte werden in der Literatur kontrovers besprochen:

1.Bei einem niedrigen Konstruktionsbiss (2–4 mm), innerhalb der Ruheschwebelage des Unterkiefers (Abb. 3a), wird die myostatische Reflexaktivität angeregt und intermittierende Kräfte sind wirksam1.

Abb. 3a bis c Intraorale Fotos von drei Aktivator-Patienten mit unterschiedlich hohen Konstruktionsbissen: a) Niedriger Konstruktionsbiss (2–4 mm)1, b) hoher Konstruktionsbiss (15–20 mm)10 und c) mittelhoher Konstruktionsbiss (5–7 mm)11.

2.Bei einem sehr hohen Konstruktionsbiss (15–20 mm), weit außerhalb der Unterkiefer-Ruheschwebelage (Abb. 3b), wird die tonische Spannung der gestreckten Muskulatur erhöht und kontinuierliche Kräfte wirken auf die Zähne10. Der Aktivator ist wie ein Splint zwischen die Zahnreihen eingeklemmt. Der sehr hohe Konstruktionsbiss wird vor allem in Amerika verwendet.

3.Bei einem mittelhohen Konstruktionsbiss (5–7 mm), 1 bis 2 mm außerhalb der Unterkiefer-Ruheschwebelage (Abb. 3c), können sowohl die myostatische Reflexaktivität als auch die vergrößerte tonische Muskelspannung wirksam sein11. Der mittelhohe Konstruktionsbiss wird vor allem in Europa verwendet.

Welches der drei Konzepte das richtige ist, verbleibt ein Mysterium. Trotz vieler Publikationen liegen keine beweiskräftigen Forschungsergebnisse vor, welche die Theorie stützen, dass die Höhe des Konstruktionsbisses für eine erfolgreiche Aktivator-Behandlung entscheidend ist.

Im Gegensatz zum Aktivator wirkt die Herbst-Apparatur mithilfe von mechanischen Kräften und nicht mithilfe der Muskulatur. Das Ausmaß der vertikalen Bissöffnung wird bei der Unterkiefervorverlagerung durch den vertikalen Frontzahnüberbiss (Overbite) bestimmt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Rolle der Höhe des Konstruktionsbisses, bei der FKO-Therapie mit abnehmbaren Geräten (Aktivator), immer noch ein Mysterium ist. Bei festsitzenden FKO-Geräten (Herbst) ist die Höhe der vertikalen Bisssperre durch den Overbite bedingt.

Unterkieferverlagerung in der sagittalen Ebene

Die Herbst-Forschung hat gezeigt, dass die Unterkiefervorverlagerung (Bite Jumping) und nicht die Muskelfunktion den Hauptreiz für einen Umbau der Kiefergelenke und der Oberkiefersuturen ausmacht und zu einer Verlagerung der Kiefer, Alveolarfortsätze und Zähne während der Behandlung führt. Die Kaumuskelfunktion, gemessen mittels EMG, wird zwar durch die Behandlung verändert3,12 sowie speziell die Aktivität des M. masseters normalisiert (Abb. 4)3, aber sie ist nicht für die Klasse-II-Korrektur verantwortlich.

 

Abb. 4a bis d 11-jähriger Junge, der 6 Monate mit der Herbst-Apparatur behandelt wurde. Intraorale Fotos und Elektromyogramme (direkte und integrierte Registrierungen) während des Kauens von Erdnüssen (T = Temporalis-Muskel, M = Masseter-Muskel): a) Vor der Behandlung, b) Start der Behandlung, c) nach 3-monatiger Behandlung und d) nach Abschluss der Behandlung. Zu beachten ist die Steigerung (Normalisierung) der Masseter-Aktivität über den Behandlungszeitraum.

Tierexperimentelle EMG-Studien haben festgestellt, dass der M. pterygoideus lateralis beim Bite Jumping sowohl eine reduzierte13 als auch eine erhöhte Aktivität14 aufzeigt. Einen direkten Zusammenhang zwischen erhöhter Pterygoideus-Aktivität und einem größeren kondylären Wachstum im Unterkiefer konnte von McNamara14, aber nicht von Voudouris13 gefunden werden.

Es besteht weiterhin Uneinigkeit zwischen Kieferorthopäden bezüglich der Art der Vorverlagerung des Unterkiefers bei einer Klasse-II-Behandlung: (1) Soll der Unterkiefer bis zur Normalokklusion oder bis zu einer überkompensierten Normalokklusion vorverlagert werden (kleines oder großes Bite Jumping)? (2) Soll der Unterkiefer in einem einzelnen Schritt oder in mehreren kleinen Schritten verlagert werden (schrittweises Bite Jumping)? Die Beantwortung dieser beiden Fragen enthält viel Spekulation, aber wenige wissenschaftliche Erkenntnisse.

Kleines oder großes Bite Jumping?

Beim Aktivator empfahlen Andresen und Häupl1 ursprünglich, den Unterkiefer bei einer Klasse-II:1-Behandlung zu einem normalen Overjet (2–3 mm) und einer Klasse-I-Seitenzahnokklusion vorzuverlagern (Abb. 5a). Später befürworteten Andresen, Häupl und Petrik15 eine Vorverlagerung des Unterkiefers bis zur Kopfbissstellung der Inzisivi (Overjet 0 mm). Herren16 empfahl sogar eine Unterkiefervorverlagerung bis zu einer Klasse-III-Relation der Frontzähne (negativer Overjet; Abb. 5b). In der KFO-Abteilung in Gießen wird ein „Kopfbiss-Aktivator“ verwendet, da dieser effizienter als der ursprüngliche Andresen-Aktivator sowie patientenfreundlicher als der Herren-Aktivator erscheint. Einen wissenschaftlichen Vergleich der drei Aktivator-Typen gibt es aber nicht.

Abb. 5a und b Unterkiefervorverlagerung: (a) Beim Andresen-Aktivator bis zu einem normalen Overjet (2–3 mm) und (b) beim Herren-Aktivator bis zu einem negativen Overjet (–1 bis –3 mm).

Bei der im Jahr 1979 „neuentdeckten“ Herbst-Apparatur2 wurde der Unterkiefer in eine Kopfbissstellung der Inzisivi eingestellt (Abb. 6a). In der heutigen Herbst-Behandlung – so wie sie in Gießen praktiziert wird – erfolgt eine Vorverlagerung des Unterkiefers in eine Klasse-III-Frontzahnrelation (negativer Overjet, Abb. 6b)17. Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass dabei der Effekt auf das kondyläre Wachstum und auf die okkludierenden Zähne größer ist18.

Abb. 6a und b Unterkiefervorverlagerung bei der Herbst-Apparatur nach Pancherz (a) bis zur inzisalen Kopfbissstellung (Overjet 0 mm)2 und (b) bis zu einem negativen Overjet (–1 bis –3 mm)17.

Bite Jumping in einem oder in mehreren Schritten?

Bei FKO-Geräten ist man seit mehreren Jahren der Meinung, dass ein Bite Jumping in mehreren Schritten mit jedem Schritt einen neuen Wachstumsstimulus auf den Unterkiefer ausübt. Wissenschaftliche klinische Studien zu diesem Thema gibt es nur bei der Headgear-Herbst-Apparatur19, aber nicht beim Aktivator. Die Ergebnisse der Headgear-Herbst-Studie zeigen einen besseren Effekt beim Mehrschritt-Verfahren.

Experimentelle Studien an Ratten, bei denen der Unterkiefer mittels festsitzenden Protrusionssplints schrittweise nach anterior verlagert wurde, bestätigen den Vorteil des Mehrschritt-Jumpings gegenüber des Einschritt-Jumpings2022.

Der Autor dieses Beitrags verwendet bei der Herbst-Behandlung seit 1984 das Mehrschritt-Verfahren des Bite Jumpings (Abb. 7). Klinische Fälle zu diesem Thema sind neuerdings in der KIEFERORTHOPÄDIE vorgestellt worden17.

Abb. 7a bis c Beispiel eines Bite Jumpings in mehreren Schritten während einer Herbst-Behandlung. Der Unterkiefer wird durch wiederholte Nachaktivierung des Teleskop-Mechanismus in einer dauerhaften inzisalen Kopfbissstellung gehalten. a) Schritt 1: Beim Start der Behandlung wird der Unterkiefer in die inzisale Kopfbissstellung eingestellt. b) Schritt 2: Nach 2 Monaten wird der Unterkiefer mithilfe von Distanzröhrchen, die auf die Gleitstangen des Teleskop-Mechanismus aufgeschoben werden, 1 mm weiter vorverlagert. c) Schritte 3 und 4: Nach 3 bzw. nach 5 Monaten wird der Unterkiefer durch zusätzliche 1-mm-Distanzröhrchen weitere 2-mal nach vorne verlagert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein größeres Bite Jumping eine bessere Wirkung als ein kleineres Bite Jumping zu haben scheint, und dass ein Mehrschritt-Verfahren effizienter als ein Einschritt- Verfahren ist. Dies ist bei der Herbst-Apparatur, aber nicht beim Aktivator nachgewiesen worden.

Stimulierung des Unterkieferwachstums

Eine ewige Streitfrage in der Kieferorthopädie ist: Kann das Unterkieferwachstum durch eine FKO-Behandlung stimuliert werden? Beim Aktivator gibt es eine „Ja“-Seite2327 und eine „Nein“-Seite2833. Bei der Herbst-Apparatur liegt eine einheitliche „Ja“-Antwort auf die Frage vor2,3439.

Eine Ursache der unterschiedlichen Antworten bei der Aktivator- und Herbst-Behandlung könnte u. a. an verschiedenen Analyseverfahren bei der Auswertung von Fernröntgenseitenbildern des Kopfes (FRS) liegen. Bei den Aktivator-Studien verwendet man für die Messungen von Wachstumsveränderungen des Unterkiefers vorwiegend die Veränderung des meist anterior gelegenen Kinnpunkts, nach Superponierung der FRS über die Schädelbasis (Abb. 8a). Bei den Herbst-Studien werden die Veränderungen des meist posterior gelegenen Kiefergelenkpunkts, nach Superponierung der FRS über die stabilen Strukturen des Unterkiefers gemessen (Abb. 8b).

Abb. 8a und b Superponierung von FRS zur Beurteilung von Wachstumsveränderungen des Unterkiefers bei einer FKO-Behandlung: a) Superponierung der FRS über die stabilen Knochenstrukturen der Schädelbasis zur Beurteilung der Wachstumsveränderung des meist anterior gelegenen Kinnpunktes bei einer Aktivator-Behandlung. b) Superponierung der FRS über die stabilen Knochenstrukturen des Unterkiefers zur Beurteilung der Veränderungen des meist posterior gelegenen Kiefergelenkpunktes bei einer Herbst-Behandlung.

Bei der Herbst-Behandlung bestätigen magnetresonanztomografische (MRT) Untersuchungen der Kiefergelenke37,38 die Ergebnisse der FRS-Studien. Umbauprozesse am Kondylus und an der posterioren Wand der Fossa glenoidalis können regelmäßig im MRT festgestellt werden (Abb. 9).


Abb. 9a bis c MRT der Kiefergelenke (re. Seite) eines 16-jährigen Mädchens, das 7 Monate mit der Herbst-Apparatur behandelt wurde: a) Vor der Behandlung. Zu beachten sind das homogene MRT-Signal im Knochen des Kondylus und die zentrale Position des Gelenkkopfes in der Gelenkpfanne. b) Nach 12-wöchiger Behandlung. Zu beachten sind die Anbauprozesse am distalen Rand des Kondylus und die anteriore Position des Gelenkkopfes in der Gelenkpfanne. c) Nach Abschluss der Behandlung. Zu beachten sind die Anbauprozesse sowohl am distalen Rand des Kondylus wie auch an der posterioren Wand der Fossa glenoidalis und die zentrale Position des Gelenkkopfes in der Gelenkpfanne.

Weiterhin bestätigen histologische Untersuchungen der Kiefergelenke bei Affen, die mit Herbst-Schienen „behandelt“ worden waren40, die MRT- Befunde der Herbst-Patienten (Abb. 10).


Abb. 10 Affe und Mensch behandelt mit der Herbst-Apparatur. Untersuchung der Kiefergelenke beim Affen mittels Histologie und beim Menschen mithilfe der MRT. Zu beachten ist die erhöhte Zellaktivität in der prechondroblastischen/chondroblastischen Wachstumszone des Kondylus beim Affen und das erhöhte MRT an der entsprechend gleichen Stelle des Kondylus beim Menschen (histologische Bilder modifiziert nach Peterson und McNamara40).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass bis heute eine Stimulation des Unterkieferwachstums nur bei festsitzenden (Herbst-Apparatur), aber nicht bei abnehmbaren (Aktivator) FKO-Geräten nachgewiesen werden konnte.

Abnehmbare oder festsitzenden FKO-Geräte

Bei der Wahl zwischen einem abnehmbaren (Aktivator) und einem festsitzenden (Herbst-) FKO-Gerät zur Behandlung des Distalbisses stellt sich die Frage: Ist das eine Gerät „besser“ als das andere? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Unter gewissen Voraussetzungen hat das abnehmbare Gerät Vorteile gegenüber dem Festsitzenden. Unter anderen Voraussetzungen verhält sich die Sache umgekehrt. Zu den Indikationen bzw. Kontraindikationen für den Aktivator bzw. der Herbst-Apparatur ist folgendes zu erwähnen:

•Der Aktivator eignet sich speziell in der 1. Wechselgebissphase (Klasse-II-Frühbehandlung). Die Herbst-Apparatur ist für diese Gebissentwicklungsphase nicht gut geeignet41.

•Umgekehrt ist der Aktivator im bleibenden Gebiss ungeeignet, während die Herbst-Apparatur in dieser Gebissentwicklungsphase ihre Hauptindikation hat41.

•Voraussetzung für eine erfolgreiche Aktivator-Behandlung ist eine ungehinderte Nasenatmung. Bei der Herbst-Behandlung spielt die Atmungsweise (Nase oder Mund) keine entscheidende Rolle41.

•Weiterhin entscheidend für eine erfolgreiche Aktivator-Behandlung ist die Mitarbeit des Patienten: Keine Mitarbeit – kein Ergebnis. Bei der Herbst-Apparatur ist die Patienten-Kooperation weniger wichtig für den Behandlungserfolg, da das Gerät festsitzend ist41.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich abnehmbare (Aktivator) und festsitzende (Herbst) FKO-Geräte ergänzen: Abnehmbare Apparaturen bei einer Frühbehandlung, festsitzende Apparaturen bei einer Spätbehandlung.

Schlussfolgerung

Bei der Distalbiss(Klasse II)-Behandlung ist jede kieferorthopädische Apparatur (abnehmbar oder festsitzend), bei der das Bite-Jumping-Prinzip zur Anwendung kommt, eine FKO-Apparatur. Entscheidend für die korrekte Funktion der Apparatur und für den Behandlungserfolg ist somit die Vorverlagerung des Unterkiefers während der Behandlung und nicht die Muskelfunktion.

Vorwiegend unklar und rätselhaft bei der Behandlung mit vor allem abnehmbaren FKO-Geräten ist weiterhin:

•die Höhe des Konstruktionsbisses,

•das Ausmaß (klein oder groß) und die Art (einen Schritt oder mehrere Schritte) des Bite Jumpings,

•die Möglichkeit, das Unterkieferwachstum zu stimulieren, und

•der klinische Anwendungsbereich von abnehmbaren sowie festsitzenden Geräten.

Literatur

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11.Ahlgren J. Aktivatorns konsatruktionsbitning – lag eller hög bettspärr? Tandl Tidn 1980;72:1228–1232.

12.Leung DK, Hägg U. An electromyographic investigation of the first six months of progressive mandibular advancement of the Herbst appliance in adolescents. Angle Orthod 2001; 71:177–184.

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15.Andresen V, Häupl k, Petrik L. Funktionskieferorthopdie, 6. umgearbeitete und erweiterte Auflage von K. Häupl und Petrik, 1957. München: JA Barth, 1957.

16.Herren P. The activator´s mode of action. Am J Orthod 1959; 45:512–527.