Das Ende der Zukunft

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5. Genf (Schweiz), Juni 213

Obwohl Terry Hennings erst seit wenigen Tagen in dem Appartementhaus der Rue Henri Dunant wohnte, war er froh, als die Swisscom den Telefon- und Internetanschluss freigeschaltet hatte und die Zeit des Internet Cafés vorbei war, wo er sich immer beobachtet fühlte. Durrance hatte ihm mitgeteilt, dass momentan eine ganz schlechte Stimmung herrsche und man die Provision nicht so einfach abzweigen könne, ohne unnötige viele Fragen zu provozieren. Er solle sich gedulden. Schließlich bat ihn Durrance, der Firma bis auf Weiteres fernzubleiben. Das war vor zwei Wochen, danach hatte er sich entschieden, aus dem teuren Hotel auszuziehen. Durrance hielt ihn offensichtlich hin. Offensichtlich beabsichtigte Durrance, das Spiel noch eine Weile fortsetzen. Aber ohne ihn. Die letzten fünf Jahre seines Lebens hatte er der Firma geschenkt. Er war bereits siebenunddreißig Jahre alt und hatte bisher nur wenig Spaß in seinem Leben. Biologie, Pflanzen und Genetik waren seine Passion, seine Berufung. Ein Labor war alles, was er brauchte. Frauen sagten ihm wenig. Zurück blieben nur Erinnerungen an Stress und wie er seine kostbare Zeit mit Knutschen, Kino und Partys vertrödelte, anstatt seine Versuchsreihen im Unilabor durchzuziehen. Schon lange reifte in ihm der Traum vom eigenen Labor, in dem er unabhängig seine Forschungen betreiben konnte. Dazu war viel Geld nötig, und die Provision hätte ihn diesem Traum näher gerückt. Wenn Durrance ihn verarschte, musste er eben andere Wege gehen. Seine Freunde waren mittlerweile alle in guten Positionen in der Privatwirtschaft untergebracht. Wassili Orgakow hatte ihn inzwischen sogar schon besucht. Er kümmerte sich um westliche Firmen, die ihre Produktion aus Kostengründen nach Osten verlagerten, und sorgte dafür, den Speckgürtel um Moskau noch fetter zu machen. Orgakow hielt Hennings als Einziger die Treue und schrieb ihm mindestens einmal im Monat eine unverfängliche Mail. Vor drei Tagen hatte er Orgakow angerufen und ihn um dringenden Rückruf gebeten. Als sich Orgakow am nächsten Tag meldete, vergewisserte er sich Hennings als Erstes, dass Orgakow von einem anonymen Handy aus sprach.

„Wassili, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Hör mir zu und frag mich am Schluss, wenn du etwas nicht verstanden hast.“

„Okay“, brummte Orgakow am anderen Ende.

„Ich habe das Problem gelöst, sichere Terminatorpflanzen herzustellen. Mein Auftraggeber wird mir meinen Anteil an der mühsamen Arbeit nicht honorieren. Ich bin sicher, sie überlegen, wie sie mich abservieren können.“

„Für wen ist deine Arbeit interessant? Willst du Wissen verkaufen oder dich dazu?“, fragte Orgakow.

„Interessant ist es für alle Agrarfirmen, Pflanzenzuchtfirmen und Saatgutproduzenten, weil sie sich damit ein Monopol aufbauen können. Gerade in Russland, wo Gesetze nicht so ernst genommen werden, kann jemand sehr schnell mit dieser Technik die halsstarrigen Bauern und Großagrarproduzenten in die Knie zwingen und ihnen sein Saatgut aufzwingen. Ich habe die Technologie zwar erst für Mais beherrschbar gemacht, aber auch für andere Pflanzen lässt sich die Technik mit vertretbarem Aufwand anpassen. Schön und gut: Ich möchte mein Wissen verkaufen, Wassili.“

„Hast du etwas, das du mir zeigen kannst?“, fragte Wassili. „Du weißt, dass in dem Geschäft nur Beweise zählen.“

„Das ist kein Problem“, antwortete Hennings. „Wie kann ich dir eine DVD sicher zukommen lassen?“

„Gib sie persönlich an Olga Gromskaja in der Botschaft in Bern ab. Dann gelangt sie auf sicherem Weg zu mir. Verschlüssele alles mit dem lateinischen Namen jenes Wesens in der Mitte des Bildes, welches du erfolgreich mit einem Bierglas von der Tresenrückwand geschossen hast.“

„Lass mich überlegen …“, meint Hennings.

„Du kommst drauf, ganz sicher, denk nach und sag nichts am Telefon. Ich warte auf deine DVD, dann melde ich mich, sobald sich Unternehmen interessieren. Ciao, mein Freund.“

Hennings fiel das Bild wieder ein. Sie lungerten damals in einer Kneipe im Zentrum Edinburghs herum und waren furchtbar betrunken. Hennings wollte Wassili und die anderen Freunde beeindrucken, indem er den Wirt mit dem einzigen, aber furchtbar hässlichen Bild aufzog, das hinter dem Tresen an der Wand hing. Es war purer klassizistischer Irrsinn hinter Glas und Goldrahmen. Das Bild zeigte im Hintergrund eine stolze, mittelalterliche Burg mit heruntergelassener Zugbrücke, über die eine Schar Reiter zur Jagd in Richtung Wald stob, voran die wilde Meute geifernder Hunde. Im Vordergrund und in der Bildmitte formte eine Schar fülliger und in fließende, weiße Gewänder gehüllte weibliche Schönheiten einen Kreis, umrundet von liegenden, stehenden und schwebenden Putten. Und inmitten der grinsenden, hopsenden und leicht gekleideten jungen Damen äste ein Hirsch ruhig vor sich hin.

„Der Wirt wurde wohl wegen Schwarzbrennerei als Hirsch hinter Glas verbannt“, lallte Hennings damals laut und provozierend, damit es der Wirt hörte.

„Von wegen“, lachte der Wirt. „Das Bild hat mir meine Schwiegermutter zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Solange sie lebte durfte ich es nie entfernen, sonst hätte sie meine Frau enterbt. Vor einer Woche hat sie uns für immer verlassen. Wenn Sie, lieber Freund, anstatt mich zu beleidigen, mir dabei helfen, das Bild mit einem Glas Guiness von Ihrem Stuhl aus zu treffen, dann gebe ich eine Runde an Sie und ihre Freunde aus.“

Daraufhin hob er seine Rechte und traf tatsächlich mit einem halbvollen Glas genau den Hirsch.

Jetzt fiel ihm das Passwort wieder ein.

Dann rief er die russische Botschaft in Bern an und ließ sich mit Olga Gromskaja verbinden.

6. Lausanne (Schweiz), Juni 2013

Marco Helfiger nahm nur kurz Notiz vom herrlichen Panorama, das sich von der Terrasse des Hotel Au Lac bot. Am anderen Ufer erkannte man deutlich Evian, den kleinen, aber berühmten französischen Ort am See. Das französische Genferseegebiet wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Es gab immer wieder Zwischenfälle, weil Flüchtlinge nachts versuchten, über den See zu schwimmen. Deutsche Patrouillenboote suchten regelmäßig den See mit starken Scheinwerfern ab. Schweizer Boote des Grenzschutzes markierten genau die Staatsgrenze, die von den Nazis respektiert wurde. Die entkräfteten Flüchtlinge wurden in der Seemitte von unbeleuchteten und wendigen Booten empfangen. Oft fielen im Dunkeln Schüsse am anderen Ufer. Alle Menschen auf dieser Seeseite hassten die Nazis.

Helfiger riss sich los von der dunklen Vergangenheit und schaute auf das in die milde Abendsonne getauchte Montblancmassiv, das die anderen Berge mühelos überragte. Seit über dreißig Jahren genoss er diesen Anblick. Als Jacques Durrance von einem Kellner begleitet auf seinen Tisch zusteuerte, wurde er jäh in die Gegenwart zurückgerissen.

„Na, hast du die Sitzung mit deinen Jungs gut überstanden?“, fragte Helfiger belustigt.

„War nicht einfach. Forschung überrascht immer wieder, mein lieber Marco. Vor allem, wenn die Forschungsarbeiten nicht so durchgeführt worden sind wie vereinbart. Beispielsweise wissen wir immer noch nicht, ob es Bakteriophagen gibt, die auch bestimmte Bodenbakterien befallen. Da hat jemand nicht mitgedacht und die Analysen zu früh abgebrochen. Jetzt muss alles wiederholt werden.“

Durrance machte eine kurze Pause.

„Essen bestellen wäre eine gute Idee. Ich bin hungrig.“

„Fisch musst du nehmen, mein Lieber. Hier sind die Felchen einfach köstlich. Und ich nehme dazu Bärlauchkartoffeln.“

„Gute Idee. Okay, ich bin dabei.“

Sie bestellten und blieben trotz der köstlichsten Weinversuchungen hartnäckig bei Wasser.

„Unser Thema heute hat einen Namen und heißt Hennings“, führte Helfiger in den weniger angenehmen Teil des Abends ein. „So wie du es mir geschildert hast, ist er mir einfach zu dreist. Natürlich habe ich ihm die eine halbe Million Pfund Provision versprochen, wenn wir es als Patent anmelden können. Aber im Moment wird das Moratorium zur Weiterentwicklung der Terminatorpflanzen wahrscheinlich verlängert. Wir können uns dem nicht widersetzen, ohne dass die ganze Welt aufheult. Ich stehe als Forschungsvorstand von SEEDAGRO im Rampenlicht. Du weißt, wie empfindlich uns Analystengeschwätz treffen kann. Diese Klugscheißer haben zwar keine Ahnung, welche Vorteile uns diese Technologie bringen könnte, aber sie geben Statements ab, die todsicher für wahr gehalten werden. Ergo: Hennings muss noch warten. Aber sag mal, ist es wahr? Die Terminatorpflanze ist wirklich machbar?“

„Ja, die Entwicklung scheint stabil zu sein. Ich habe alles gecheckt, hat mich eine Woche meiner Freizeit gekostet.“

„Aber Hennings selbst wird zum Risiko. Hennings wird mit Haftbefehl in Mexiko gesucht. Das spricht sich bis in die Spitzen unserer Behörden und der Politik herum. Auch der Brand in Oaxaca und die verwüstete Wohnung von Hennings deuten darauf hin, dass wir dort mit äußerster Vorsicht vorgehen müssen. Offensichtlich haben die Freilandversuche die beabsichtigten verheerenden Folgen gezeigt, was sich in der Provinz wie ein Lauffeuer herumsprach. Dort traut uns keiner mehr über den Weg. Die Behörden könnten überreagieren.“

„Hennings gibt seine Kopie der Aufzeichnungen nicht heraus, solange wir ihm die halbe Million nicht zahlen“, sagte Durrance. „Wir sind in der Zwickmühle, Marco.“

Sie wurden unterbrochen. Der Kellner fragte Marco Helfiger, ob er einen Herrn namens Han Deng sprechen möchte, und überreichte ihm eine Visitenkarte.

„Han Deng“, las Helfiger vor. „Leiter für den Export bei einer Firma für Pflanzenschutzmittel in Paris.“

 

Helfiger hielt inne und schaute Durrance fragend über den Rand seiner Brille an.

„Mir ist das egal, du kannst ihn ja kurz kennenlernen und dann wieder abwimmeln. Wer weiß, was die zu bieten haben“, meinte Durrance.

„Nur seltsam, woher der weiß, wer wir sind und wo wir sind? Also gut“, antwortete Helfiger in Richtung Kellner, „bitten Sie den Herrn an unseren Tisch.“

Ihr Gespräch verstummte. Nach wenigen Augenblicken kam der Kellner in Begleitung eines Asiaten. Helfiger und Durrance erhoben sich. Han Deng ergriff das Wort und sagte in akzentfreiem Französisch:

„Entschuldigen Sie tausend Mal diese Störung, meine Herren. Mein Name in Han Deng von der Firma PPL in Paris. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Helfiger schüttelte ihm die Hand.

„Ich bin Marco Helfiger, Vorstand für die weltweiten Forschungsaktivitäten bei SEEDAGRO, und das ist mein lieber und geschätzter Kollege Jacques Durrance. Er leitet die Forschung und Entwicklung in Lausanne.“

Helfiger lud sie ein, Platz zu nehmen.

Han Deng kam gleich zur Sache.

„Ich habe kein einfaches Thema. Erlauben Sie mir, Herr Helfiger, an Sie die ungewöhnliche Frage zu stellen, ob es möglich wäre, Sie für wenige Minuten unter vier Augen zu sprechen?“

„Mein lieber Herr Han“, antwortete Helfiger gönnerhaft, „Herr Durrance besitzt mein hundertprozentiges Vertrauen. Bitte kommen Sie zur Sache.“

„Ich falle jetzt mit der Tür ins Haus. SEEDAGRO hat unter Dr. Terry Hennings in Mexiko die Terminatortechnologie entwickelt. Und SEEDAGRO hat außerdem illegale Freilandversuche in Mexiko unternommen.“

Helfiger und Durrance wechselten einen schnellen Blick.

„Was sollen diese absurden Behauptungen?“, fragte Helfiger kalt. „Das ist doch eine abgefeimte Unverschämtheit, einfach an unseren Tisch zu kommen und uns mit unhaltbaren …“

Han Deng, ein Aliasname von General Fong, unterbrach ihn mit einer herrischen Handbewegung.

„Bitte, Herr Helfiger, das ist nicht unser Niveau und unser Stil. Sie regen sich unnötig auf. Sie wissen doch noch gar nicht, dass ich ihr Verbündeter bin. Schließlich haben wir SEEDAGRO geholfen, die Spuren von Hennings in Mexiko zu verwischen.“

„Wie bitte?“

„Ja, wir haben den Brand im Labor organisiert, damit keinem die letzten Versuchsanordnungen von Hennings in die Hände fallen. Und wir haben seine Wohnung gereinigt. Glauben sie mir: Auch dort lagen genug handschriftliche und eindeutige Notizen herum.“

„Sie haben was gemacht? Sie haben das Labor in Brand gesteckt? Sind Sie wahnsinnig? Ich rufe jetzt die Polizei und werde Sie …“

„Herr Helfiger, wenn wir das nicht für Sie erledigt hätten, säßen Sie nicht mehr im Vorstandssessel“, zischte Han Deng alias General Fong.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Schön, dass Sie Ihre Emotionen so schnell unter Kontrolle haben, meine Herren. Schauen Sie, es ist nicht so wichtig, wer ich bin und woher ich komme. Wichtiger ist, dass ich Ihnen anbiete, ein aktuelles Problem zu lösen. Es hat einen Namen: Terry Hennings. Und zusätzlich schlage ich Ihnen beiden ein sehr lukratives Geschäft vor, das sie gar nicht ablehnen können.“

Han Deng alias General Fong spürte es: Er hatte ins Schwarze getroffen. Er hatte sie an der Angel. Sie waren bereit.

„SEEDAGRO ist weltweit der viertgrößte Agrarmulti“, fuhr Deng fort. „Nach wie vor wird in vielen Ländern ein großer Teil der wichtigsten Kulturpflanzen von den Bauern selbst kultiviert und vermehrt.“

„Was hat das mit Hennings zu tun?“, unterbrach Helfiger.

„Bitte gedulden Sie sich. Diese von SEEDAGRO und anderen Konzernen unkontrollierbare, direkte Selbstvermehrung durch die Bauern bedeutet auf Dauer einen großen wirtschaftlichen Verlust, zumal die Agrarmultis in sehr vielen Ländern von den maroden juristischen Institutionen an der Durchsetzung ihrer legitimen Rechte gehindert werden. Mit Hilfe der Terminatortechnologie könnte SEEDAGRO auch diese Widerstandsnester in den Griff bekommen. Die Terminatortechnologie ist schon lange im Gespräch, aber sie ist rund um den Globus verpönt und geächtet. Derzeit existiert ein weltweites, freiwilliges Moratorium, das die Terminatortechnologie verhindern will. Trotz dieser Ächtung hat SEEDAGRO heimlich weitergeforscht. Ihr Stargenetiker Terry Hennings hat in den SEEDAGRO Labors in Mexiko den Durchbruch erzielt. Die Resultate wurden durch illegale Freilandversuche verifiziert, und tatsächlich gingen die Terminatorsaaten wie geplant zugrunde. Die Bauern, die als Versuchskaninchen herhalten mussten, ohne davon zu wissen, gingen auf die Barrikaden, und Terry Hennings drohte die Verhaftung, weil die Behörden SEEDAGRO schon seit Längerem verdächtigten, illegale Freisetzungen von gentechnisch veränderten Pflanzen vorgenommen zu haben. Nachdem sich Terry Hennings durch seine überstürzte Heimreise der Verhaftung entzog, hat SEEDAGRO nun ein Problem. Der SEEDAGRO Laborbrand in Oaxaca und der Wohnungseinbruch bei Hennings werfen ein schiefes Licht auf ihre Firma. Die Presse wird Wind davon bekommen, Unschönes wird vermutet und der Aktienkurs bekommt eine kräftige Delle. Vielleicht stehen in Kürze schon die Journalisten vor Hennings’ Haustür, und dann wird man Ihnen beiden sehr unangenehme Fragen stellen. Und Hennings erwartet auch sehr viel Geld von Ihnen. Was wird er tun, wenn er nicht bezahlt wird? Wird er die Presse einschalten? Aber vielleicht empfängt er ja nicht nur Geld von SEEDAGRO! Müssen Sie nicht befürchten, dass Hennings die Ergebnisse seiner Forschung auch an Dritte verkauft? Vor einer Woche übergab Hennings einer russischen Botschaftsangestellten in Bern einen Umschlag. Ich wette, darin war eine DVD mit wichtigen Fakten über die Terminatorpflanze, natürlich ohne Details.“

Durrance gab dem Kellner ein Handzeichen und bestellte zwei Cognacs.

„Meine Herren, ich glaube, Sie werden von den Vorzügen meines Vorschlags schnell überzeugt sein“, fuhr Fong unbeeindruckt fort. „Ich mache Ihnen jetzt ein einmaliges und faires Angebot, danach haben Sie fünfzehn Minuten Bedenkzeit. Sie können mein Angebot akzeptieren oder die Zeit einfach ungenutzt verstreichen lassen und meinen Vorschlag ohne Angaben von Gründen ablehnen. Dann werde ich diesen Ort verlassen, und wir werden uns nie mehr begegnen.“

7. Lausanne (Schweiz), Juli 2013

Max Ernie hatte eine kleine Wiedersehenswanderung für das kommende Wochenende vor. Sie könnten sich in Kandersteg treffen und dann vom Gasterntal aus über den Lötschenpass zur SBB-Südrampe im Rhonetal wandern. Hennings fand den Vorschlag perfekt. Aus den Internetnachrichten vom Morgen wusste er, dass die Wetterprognose für den kommenden Samstag und Sonntag schönes Wetter für das Berner Oberland ankündigte. Er hatte Max, der als freier Wissenschaftsjournalist arbeitete, schon fast zwei Jahre nicht mehr gesehen. Früher hatten sie viele gemeinsame Bergtouren unternommen. Der Höhepunkt war die Besteigung des Montblanc gewesen. Max Ernie und Hennings waren sich meist völlig uneinig in weltanschaulichen Themen. Aber beide stellten nicht die Dissonanz in den Mittelpunkt, sondern den Diskurs und den Respekt vor der Meinung des anderen. Hennings Weltanschauung war viel robuster bezüglich möglicher Folgen menschlichen Handelns und er vertrat die Maxime, dass alles, was durch den Menschen machbar war, irgendwann, irgendwo, von irgendwem auch gemacht werden würde. Deshalb tat man es am besten gleich selbst. Ernie vertrat dagegen den Standpunkt, dass die universelle Machbarkeit vieler Dinge vor ihrer Realisierung eine ethische Überprüfung benötigte und nur unter strengster Würdigung der potenziellen Folgen für die Menschheit auch freigegeben werden sollte. Hennings widersprach dem und vertrat die simple These, dass Forschung und deren konsequente Umsetzung die universelle Grundlage der zivilisatorischen Entwicklung seien und niemand einen Fortschritt, für den die Zeit reif sei, aufhalten könne.

Am Freitagnachmittag packte er seine Wanderausrüstung und Proviant in sein Auto. Da er seit Oaxaca auf der Hut vor Wohnungseinbrüchen war, packte er auch seine drei DVDs, auf denen er sein gesamtes Wissen über die Terminatorpflanzen gesichert hatte, in das Handschuhfach des Renaults. Die Anfahrt würde circa zwei bis drei Stunden dauern. Gegen sieben Uhr abends fuhr er endlich in Lausanne auf die Autobahn in Richtung Bern. Der Mietwagen, ein Renault Clio, war erst kürzlich vollgetankt worden und hatte nur einen geringen Verbrauch. Er musste sich also nicht noch an einer Tankstelle anstellen.

Er war bereits zwei Stunden unterwegs und hatte mittlerweile Bern umrundet, als plötzlich sein Motor eigenartig stotterte. Das Fahrzeug ruckelte heftig, und schließlich erstarb das Motorengeräusch. Er lenkte den Wagen auf die Standspur und schaltete die Warnblinkanlage ein.

Hennings stieß einen lauten Fluch aus und hieb mit der Faust auf das Lenkrad. Es würde spät werden, bis er sein Ziel erreichte. Zuerst nahm er sich vor, unter die Motorhaube zu schauen, obwohl er davon wenig verstand. Manchmal erkannte man den Grund einer Fehlfunktion spontan, aber diesmal fand er keinerlei Anhaltspunkt, warum die blöde Karre ihren Dienst quittierte. Zu allem Überfluss setzte noch ein heftiger Regenschauer ein, sodass Hennings in sicherer Entfernung das Warndreieck hinter dem Wagen auf die Standspur stellte.

Er rief über sein Handy die Auskunft an und ließ sich mit der Autobahnmeisterei verbinden. Die Stimme am anderen Ende versprach, innerhalb der nächsten zehn Minuten zurückzurufen. Nach fünfzehn Minuten war nichts passiert. Er fluchte, denn er hatte die Nummer der Autobahnmeisterei nicht notiert. Also rief er wieder die Auskunft an und ließ sich die Nummer durchgeben. Die Autobahnmeisterei entschuldigte sich, es seien in den letzten dreißig Minuten sehr viele Unfälle passiert, er müsse mindestens noch eine Stunde warten.

Seufzend ergab sich Hennings seinem Schicksal. Er sah nach draußen. Der Regen hatte nachgelassen. Hinter ihm hielt ein Fahrzeug auf dem Standstreifen. Ein asiatisch aussehender Mann näherte sich der Beifahrerseite und hielt sich dabei eine Zeitung über den Kopf. Hennings ließ das Fenster herunter.

„Können wir etwas für Sie tun?“, fragte der Asiat in einwandfreiem Englisch.

„Leider nicht“, antwortete Hennings, „ich muss wahrscheinlich abgeschleppt werden und noch ziemlich lange auf das Abschleppfahrzeug warten.“

„Wissen Sie was? Ich könnte Ihren Wagen ein Stück mitnehmen. Nach zwei Kilometern kommt eine Raststätte, dort können Sie viel bequemer im Trockenen warten“, schlug der Asiat vor.

„Ich will Ihnen keine Umstände machen. Nein danke, das ist sehr nett von Ihnen“, antwortete Hennings, obwohl ihn der Gedanke, alles Weitere in einer Raststelle abwarten zu können, doch stark anzog.

„Wir tun das gern für Sie, wir sind zu dritt, da geht es ganz schnell.“

Schließlich willigte Hennings ein und stieg aus dem Wagen, um das Abschleppseil zu holen. Der Asiat hatte schon die Abschleppstange zur Hand. Ein zweiter Asiat entstieg freundlich nickend dem anderen Auto, einem Fünfer BMW. Der erste Asiat hatte die Abschleppstange bereits am Renault befestigt, der Asiat am Steuer setzte den BMW dicht vor den Renault und stieß vorsichtig zurück, um die Stange zu befestigen.

„Steigen Sie in den großen Wagen, wir erledigen für Sie alles andere. Mein Freund wird Ihren Wagen sicher zur Rastanlage steuern.“

Da Hennings neugierig war, wer wohl die fleißigen Helfer sein könnten, nahm er bereitwillig auf dem Rücksitz des BMW Platz. Die Tür des BMW schloss sich. Hennings fiel die seltsame Innenkonstruktion auf. Es handelte sich um eine Chauffeurlimousine. Plötzlich surrte die Trennscheibe, die den Chauffeurbereich vom Fond abtrennte, nach oben. Es zischte und Nebel, der sofort die Augen schmerzen ließ und den Atem hemmte, strömte ein. Hennings riss am Türöffner und schlug gegen die Scheiben, doch seine Bewegungen erlahmten schnell. Die Asiaten stellten sich vor die Scheibe, hinter der Hennings umsank, um sie gegen unliebsame Beobachter zu verdecken. Unmittelbar danach öffneten sie die Tür, um frische Luft einzulassen. Dann setzte sich ein Asiat neben Hennings in das Fahrzeug. Es roch stark nach Krankenhausflur. Er schloss die Tür und gab ein Zeichen zur Abfahrt. Jetzt kam der gefährliche Teil. Sie durften von keiner Polizeikontrolle aufgehalten werden oder zu lange in einen Stau geraten, wo sich später jemand zufällig an sie erinnern konnte.

Im Abschlepptempo fuhren sie Richtung Süden. Drei Kilometer vor der Abfahrt Kiesen verlangsamten sie die Fahrt und fuhren ohne Warnblinker auf einen Parkplatz und hielten in gebührendem Abstand vor einem parkenden Fahrzeug. Der Asiat, der den Renault fuhr, entfernte in der Dunkelheit die Abschleppstange und brachte das Gepäck in den BMW. Er durchwühlte die Staufächer und fand im Handschuhfach drei DVD-Kinofilme, die allerdings nicht sein Interesse fanden. Er ließ den Schlüssel im Auto stecken und schloss die Türen. Dann stieg er auf der Beifahrerseite ein. Der Asiat legte seine Finger an Hennings Hals und fühlte den Puls. Er nahm das Kissen von der Hutablage und presste es Hennings auf das Gesicht. Hennings starb, ohne jemals wieder das Bewusstsein erlangt zu haben, dann gab der Asiat auf dem Rücksitz, der Hennings gerade getötet hatte, das Zeichen, die Geschwindigkeit zu erhöhen.

 

Der BMW fuhr zurück in Richtung Norden und hielt erst wieder in einer großen Lagerhalle neben einem kleinen Flugfeld in der Nähe von Olten. Der kleine Flugplatz war spät abends noch in Betrieb. Die Asiaten hatten die Lagerhalle samt Hubschrauber für eine Dauer von fünf Tagen angemietet. Die Halle und der Helikopter gehörten einer Firma für Spezialdienstleistungen. Die Asiaten besaßen alle notwendigen Fluglizenzen und Zertifikate. Offiziell führten sie eine Woche lang Spezialtransporte nach Como durch. Entsprechend lauteten die Flugbewilligungen, die die Asiaten streng einhielten und die von der schweizerischen Luftraumüberwachung auch streng kontrolliert wurde.

Hennings wurde aus dem Wagen gehievt und bis auf die Unterwäsche entkleidet. Umständlich zog man ihm seine Wanderbekleidung an, packte den Rucksack und gab ihm sein Portemonnaie mit. Schließlich wurde er in den Hubschrauber gehoben und ein langes Seil an seinem Gürtel befestigt. Nach zwanzig Minuten wurde fahrplanmäßig das große Hallentor geöffnet, und der Hubschrauber wurde von den Männern circa fünfzig Meter vor die Halle geschoben. Dann stiegen die Piloten ein und ließen kurze Zeit später die Turbine an.

Die Flugroute führte links an Bern vorbei nach Spiez über Kandersteg und Leukerbad ins Rhonetal. Es ging weiter über Brig, Locarno und Lugano bis nach Como in Oberitalien. Das Cockpit wurde nur von den Instrumenten erleuchtet. Auf dem Rücksitz saß der Anführer aus dem BMW neben dem toten Hennings. Er beleuchtete mit einer Taschenlampe eine Landkarte, die auf seinen Knien lag. Der Helikopter befand sich mittlerweile über dem Daubensee in fast dreitausend Meter Höhe. Der Pilot ging in der klaren, mondlosen Nacht auf zweitausendfünfhundert Meter runter, ohne der Flugüberwachung Bescheid zu geben. Er wusste, dass man an dieser Stelle seine Höheninformation nicht nachprüfen konnte. Sie näherten sich der Gemmi, einer nach Norden hin steil abfallenden Felswand. An deren Fußende lag der berühmte Thermalbadeort Leukerbad.

Vorsichtig wurde der tote Körper am Seil heruntergelassen. Keiner sprach ein Wort. Der Anführer ließ das Seil schnell über die Rolle laufen. Der Tote baumelte einhundertfünfzig Meter unter dem Hubschrauber. Noch einmal verlangsamte der Pilot die Fluggeschwindigkeit. Auf ein Zeichen schoss der Hubschrauber nach oben, und der Spezialknoten, an dem Hennings hing, öffnete sich. Das Seilende sauste durch den Gürtel und gab den Toten frei. Er fiel wie ein Stein in die Gemmi und schlug etliche Male hart auf den Felsvorsprüngen auf. Dann schraubte sich der Helikopter auf seine planmäßige Flughöhe hoch und setzte den Flug fort.

Nach vier Tagen entdeckte ein Bergwanderer die Leiche.

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