Das Ende der Zukunft

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22. Bern (Schweiz), Mai 2016

Krüger und Hanna Losch trafen zur selben Zeit, gegen acht Uhr morgens, im Frühstücksrestaurant ein, begrüßten sich und setzten sich an einen freien Tisch mit Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Nachdem beide den ersten Frühstückshunger gestillt hatten, holte Hanna Losch ihre Unterlagen aus der Tasche.

„Ich habe alle Hausaufgaben gemacht und alles gelesen, was du mir gegeben hast. Kann ich von den Artikeln Kopien machen? Ich kann das unmöglich alles behalten“, sagte Hanna Losch.

„Du kannst alles behalten“, erwiderte Krüger.

„Danke! Jetzt bin ich erleichtert. Aber alles verstanden habe ich noch lange nicht. Seit meinem Gymnasium habe ich weder etwas über Biologie, Botanik oder Genetik gelesen und gehört, noch mich dafür interessiert. Leider wurden die naturwissenschaftlichen Fächer auch in der Schule nicht sehr spannend rübergebracht.“

„Dabei ist es oberste Pflicht der Schule, die Neugier zu wecken und keine Abscheu gegen die Wissenschaft zu züchten.“

„Der Zug ist für mich abgefahren und nun merke ich, dass diese Wissenschaft, von der ich nicht viel verstehe, mittlerweile eine riesige Industrie ist, die mir allerdings keine Ehrfurcht einhaucht, sondern eher Angst macht.“

„Weil wir, anstatt uns ein genaues Bild über die Sachlage zu beschaffen, wieder auf Halb- und Viertelwahrheiten hereinfallen, verbreitet von Leuten, die es auch nicht verstehen. Ich sage nicht, dass Pflanzenindustrie und Gentechnik keine Risiken bergen, aber sie stellen sich anders dar, wenn man die Materie versteht.“

„Aber vieles kennt man doch noch gar nicht genau, wenn ich die kritischen Artikel richtig verstanden habe.“

„Wenn Fachleute etwas nicht genau wissen, dann versuchen sie das unbekannte Terrain mit bekannten Methoden zu beleuchten, in der Hoffnung, dass aus der terra incognita eine terra cognita wird.“

„Aber warum wartet man nicht, bis man mehr weiß? Diese vielen gentechnischen Veränderungen an Pflanzen sind langfristig doch womöglich eine Katastrophe.“

Krüger hob die Schulter.

„Bisher ist trotz aller negativen Voraussagen jedenfalls keine Katastrophe eingetreten.“

„Aber wer weiß denn wirklich genau, ob das, was man da isst und trinkt, nicht doch schleichend die Welt verändert? Dann gibt es noch Patente auf Baupläne von Pflanzen, die die Menschen seit Jahrhunderten anbauen, und plötzlich sollen sie Geld für die Nutzung bezahlen? Das ist doch absurd! Mit diesem Verhalten gefährden wir unsere Existenzgrundlagen!“, schimpfte Hanna.

„Deine Kritik sollte dir nicht den Blick für einen guten Artikel verstellen. Du fährst Auto, obwohl du weißt, dass du potenziell dich und andere Verkehrsteilnehmer gefährdest beziehungsweise andere dich gefährden. Aber warum fährst du trotzdem? Weil du glaubst, dass das Risiko klein ist und du durch eine vorsichtige und vorausschauende Fahrweise das Risiko erheblich vermindern kannst. Aber es kann dir trotzdem jederzeit etwas passieren. Stimmt’s?“

„Ja, das ist richtig“, seufzte Hanna, sie fühlte sich von dem platten Beispiel überrumpelt und ihr fiel keine Erwiderung ein.

„Grundsätzlich“, fuhr Krüger fort, „gibt es beim Thema Gentechnikeinsatz in der Landwirtschaft zwischen den verschiedenen Interessengruppen eine unterschiedliche Sicht der Risiken. Die Fachleute sind sich aber auch nicht einig, und manche würden den unklaren Sachverhalt am liebsten solange untersuchen, bis nach Hunderten von Jahren eine absolut zweifelsfreie Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt werden kann. Andere schätzen Risiken regelrecht mathematisch ab oder greifen auf Analogien zurück, was wiederum Gegner herausfordert. Zum Schluss will natürlich auch wie immer die Politik mitreden. Allerdings sind manche Gesetzestexte sehr interpretationsbedürftig und müssen erst in langwierigen Prozessen von Gerichten ausgelegt und in praktizierbare Regeln umgeschrieben werden.“

„Ich sehe schon“, seufzte Hanna, „da wartet noch ein hartes Stück Arbeit auf mich.“

„Na ja“, beschwichtigte er, „als Journalistin sollst du ja auch schließlich offene Fragen beantworten und die Problematik für den Leser verständlich darstellen.“

Hanna schnitt eine Grimasse.

„Das hast du schön gesagt, Herr Lehrer! Aber was sind die wirklichen Hauptthemen, die die Branche umtreibt? Alles, was ich bisher quergelesen habe, ergibt für mich noch ein unsystematisches Bild. Trotzdem will ich es versuchen. Als Erstes würde ich in dem Artikel die Lage der Welternährung darstellen wollen und die Rolle, die die großen Agrarmultis im Konzert der Welternährung spielen.“

„Ja, das ist ein toller Einstieg“, pflichtete Krüger bei.

„Dann gehe ich über zu den Hauptthemen der Agrarbranche wie Pflanzenzucht, Einzug der Gentechnik, Pflanzenschutz und gebe einen Ausblick auf zukünftige Aktivitäten wie zum Beispiel die Herstellung von Medikamenten oder Rohstoffen mit Hilfe von Pflanzen. Am liebsten würde ich am Beispiel von Mais zeigen, wie jeder Teil der Pflanze einem Verwendungszweck zugeführt wird. Dann habe ich vor, mich mit den Argumenten der Gegner der Gentechnik und der Agrarindustrie zu beschäftigen und die Patentierung von Pflanzen zu diskutieren und zu zeigen, wie die Agrarmultis versuchen, immer mehr Verwertungsrechte an den verschiedensten Pflanzensorten zu horten.“

Krüger riss die Augenbrauen hoch.

„Ich bin sprachlos! Wie lange hast du denn gelesen heute Nacht?“

„Ich habe nur drei Stunden geschlafen.“

„Du bist verrückt, aber dabei ist viel rausgekommen.“

„Danke für das Kompliment. Aber sag mir ehrlich, was noch fehlt.“

„Vielleicht solltest du noch die Biodiversitätskonvention anschneiden …“

„Was ist denn das?“, fragte Hanna entsetzt.

„Das ist ein über eine UN-Konvention gesteuerter Versuch, Länder mit reichhaltigen Pflanzenschätzen an der Verwertung der Ergebnisse und der industriellen Ausbeutung zu beteiligen.“

„Okay, darüber werde ich sicher etwas finden.“

„Dann gibt es die Sphäre der Politik. Du findest natürlich keine einheitlichen Gesetze auf der Welt über die Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen. Deshalb herrscht ein ziemliches Gesetzeschaos. Die Europäische Union gab sich jahrelang sehr kämpferisch gegenüber gentechnisch veränderten Pflanzen und verhängte ein Moratorium. Aber es gibt klare Anzeichen, dass die Dämme gegen Genpflanzen in der EU brechen. Inwieweit die Politik hier ihre Bürger allerdings umfassend informiert und ihre Bedürfnisse umsetzt, ist eine offene Frage.“

„Meinst du?“

„Natürlich, analysier mal die Anbauzahlen für gentechnisch veränderte Pflanzen der letzten drei Jahre und du wirst feststellen, dass es einen rapiden Anstieg gibt.“

„Warum liest man darüber eigentlich nichts in der Zeitung?“

„Das ist eine gute Frage, Hanna. Vielleicht ist dein Artikel ja ein erster wichtiger Anstoß. Mehr kannst du nicht tun, außer: informieren, informieren und nochmals informieren …“

„Fällt dir noch was ein?“

„Ja, spinne ruhig ein wenig. Stelle die Natur als ein über Jahrmillionen erfolgreich gereiftes System dar, von dem der Mensch nur lernen kann. Ein Baum stinkt und kracht nicht, wenn er wächst und eine Pflanze produziert ihre Nährstoffe mithilfe der Sonnenenergie, ohne Abgase und ohne Abfall. Ein Wald produziert keinen Müll. Der Mensch kann das bis heute nicht. Es gibt Pflanzen, die stellen Wasserstoff her, ebenfalls mit Sonnenenergie. Auch diesen Prozess verstehen wir nicht. Eigentlich stecken wir mit unserem wissenschaftlichen Naturverständnis noch in den Kinderschuhen.“

„Marcel, ich könnte dich knuddeln!“, rief Hanna euphorisch. „Der Artikel wird eine Wucht! Gibt es noch andere Institutionen, mit denen ich Gespräche führen sollte?“

„Ja, die habe ich dir alle aufgeschrieben in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit.“

„Das war das interessanteste Frühstück meiner Laufbahn, Marcel. Darf ich dir meinen Artikel als Entwurf vorher zuschicken?“

„Hanna, ich möchte deinen Stil und deine Auswahl nicht gern begutachten. Ich bin voreingenommen und habe in den kommenden Tagen auch wenig Zeit. Ich hoffe du verstehst, was ich meine.“

Sie kam sich ein wenig zurückgewiesen vor. Es wäre einfach ein Anknüpfungspunkt gewesen, wieder miteinander zu reden und sich eventuell zu treffen. Aber vielleicht wollte er das ja nicht. Er sprach nicht gern über Privates. Deswegen wusste sie auch nicht, ob er Frau und Kinder hatte. Oder hatte ein Mann keine Frau und keine Kinder, wenn er sie nicht erwähnte? In der Regel blendeten Männer das Thema gern aus, wenn sie ein Abenteuer suchten. War Marcel auf der Suche nach einem Abenteuer? Sie wollte gern so viel über ihn wissen, aber er schwieg über sich wie ein Grab.

„Ja, ich verstehe“, sagte sie, und es sollte tapfer klingen.

„Jetzt bist du enttäuscht, weil ich mich falsch ausgedrückt habe. Ich wünsche mir trotzdem, dass wir in Kontakt bleiben und ab und zu miteinander telefonieren. Ich muss nur heute schon wieder zurück in mein Büro nach Holland. Ich melde mich in den nächsten Tagen. Es kann sein, dass ich am Wochenende nach Mexiko verreise. In diesem Fall rufe ich dich vor der Abreise an.“

Sie war erleichtert. Es klang also nicht wie eine Abfuhr. Deshalb nahm sie für ihre nächste Frage ihren ganzen Mut zusammen.

„Und wenn ich anrufe und sich zufällig deine Frau am Telefon meldet?“

Krüger lachte.

„Das ist sehr unwahrscheinlich. Es wird sich bestimmt weder eine Frau noch Kinder, noch eine Freundin melden. Deshalb freue ich mich sehr, wenn du anrufst. Vielleicht komme ich dir ja aber zuvor.“

Sie lächelte ihn erleichtert an.

 

„Weißt du, angesichts gewonnener schlechter Erfahrungen räume ich mögliche Missverständnisse lieber vorher aus.“

„Das kann ich gut verstehen. Du musst nichts erklären. Mir ging es genauso, aber ich habe den Mut nicht aufgebracht, dich zu fragen.“

Beim Abschied küssten sie sich auf die Wangen. Ein beschwingter Anfang, dachte Krüger.

23. Den Haag (Niederlande), Mai 2016

Adrian Holmark stemmte umständlich die schwere hölzerne Haustür des Mehrfamilienhauses mit seinem Körper auf, denn er konnte seinen Koffer, seinen Rucksack und seine Computertasche nicht vor der Tür abstellen. Er war gestern Abend noch in Rom weggefahren, hatte unterwegs nur drei Stunden im Auto geschlafen und war gut bis nach Holland durchgekommen. Rom - Den Hag in vierundzwanzig Stunden! Vorsichtig ging er vor seinem Briefkasten im Flur in die Hocke, stellte das Gepäck ab und nestelte den Briefkastenschlüssel aus dem Mantel. Aus dem Briefkasten quollen Werbeprospekte und ein länglicher Umschlag mit einer gestempelten Briefmarke, in deren Mitte ein stilisiertes Schweizerkreuz prangte. Er drehte den Brief um, die Rückseite war leer. Im Adressenfenster sah er als Absender die SEEDAGRO AG. Schnell raffte er alles zusammen und ging in seine Wohnung. Er hängte seine Jacke an die Garderobe und schlitzte den Brief aus der Schweiz mit einem Küchenmesser auf.

Sehr geehrter Herr Dr. Holmark. Wir haben Ihre Bewerbung für die Assistenzvakanz mit großem Interesse studiert und möchten Sie deshalb gerne zu einem Bewerbungsgespräch einladen. Wunsch von unserer Seite wäre ein Termin während der kommenden zwei Wochen. Bitte nehmen Sie Kontakt auf mit Frau …

Holmark ballte eine Siegerfaust. Das hat ja reibungslos geklappt, dachte er. Den Termin wollte er morgen bereits telefonisch abklären. Er rechnete damit, zum ersten Juli anfangen zu können.

Er versuchte, Krüger zu erreichen. Da Krüger den Anruf nicht entgegennahm, sprach er ihm die Information zu dem Einstellungsgespräch auf den Anrufbeantworter. Da kündigte die Türklingel klangvoll einen Besucher an. Er betätigte die Videoanlage für die Eingangstür und erkannte Marcel Krüger.

„He, Adrian, ich bin’s, Marcel. Mach bitte auf, ich habe die Hände voll mit feinsten Kochzutaten.“

„Nicht, bevor du mir sagst, dass du außerdem zwei hübsche Mädels dabeihast.“

„Heute ist Männerabend. Du kannst dich ja trotzdem waschen und pudern.“

Holmark drückte den Öffner. Marcel Krüger war nicht berechenbar. Manchmal brach er mit der Gewalt eines Orkans in seine Wohnung ein und bekochte sie beide mit den erlesensten Gerichten.

Krüger verschwand in der Küche. Bereits nach einer Dreiviertelstunde rief er zu Tisch. Satt und mit Espresso und Cognac bewaffnet zogen sie sich in die Sitzecke zurück.

„Was meinst du, wird Olga Gromskaja sich bei dir melden?“, fragte Holmark.

„Ich bin sicher, dass Sie ihr Möglichstes tut, schon wegen der Schule für ihre Tochter. Brockmann hatte einen guten Riecher, und ich muss ihm inzwischen Recht geben: Irgendwo ist in der Geschichte der Wurm drin. Ob SEEDAGRO offiziell in etwas verwickelt ist, wird sich noch herausstellen. Das ist aber entscheidend für eventuelle EU-Auflagen, die zusammen mit der Genehmigung des Kaufs ausgesprochen werden. Olaf hat übrigens heute einen ersten Fragenkatalog an TELMAR CHEMIE & PHARMA geschickt. In die Fragen sind alle unsere bisherigen Erkenntnisse eingeflossen. Olaf genehmigte heute übrigens auch, dass wir uns gemeinsam in Mexiko umsehen. Der Anfang der Geschichte um Terry Hennings liegt ziemlich im Dunkel. Wir fliegen morgen Abend mit der NATO-Maschine nach Washington und dann weiter nach Mexiko City. Dort treffen wir uns zuerst mit dem Staatsanwalt, der vor drei Jahren den Haftbefehl gegen Hennings ausstellte. Unser EIO-Verbindungsmann hat den Staatsanwalt mit einiger Mühe ausfindig gemacht, denn der ist von Oaxaca inzwischen in die Hauptstadt umgezogen. Derselbe Staatsanwalt organisierte uns übrigens auch einen Termin mit einer von den SEEDAGRO-Freilandversuchen betroffenen Landwirtschaftsgenossenschaft in Oaxaca. Und wie gesagt, angeblich alles illegal.“

Holmark rollte mit den Augen und ließ sich kopfschüttelnd aufs Sofa fallen.

„Jetzt kann ich schon wieder mein Rendezvous verschieben“, rief er mit gespieltem Entsetzen. „Weißt du, was diese verrückte Reiserei alles anrichtet? Ich bin mitten im heiratsfähigen Alter und will irgendwann die Frau fürs Leben kennenlernen. Aber dazu habe ich überhaupt keine Zeit. Und ehe ich mich versehe, zähle ich im Spiegel meine Falten, klappere mit dem Gebiss und gelte in meinem Wohnviertel als Kinderschreck.“

Krüger lachte und verschluckte sich beinahe.

„Aber dazu bekommen wir doch sechs Wochen Urlaub im Jahr. Das ist mehr Zeit, als du brauchst, um die Frau fürs Leben kennenzulernen und zu heiraten“, flachste Krüger.

Er wusste, dass Adrian dazu neigte, sich immer tief und entschlossen seinen Liebschaften zu widmen, doch alle Frauen, die er näher kennengelernt hatte, hatten sich einen sesshaften Typ gewünscht und waren mit seiner intensiven Reisetätigkeit nicht klargekommen, dabei hatte er allerdings nie einen Zweifel daran gelassen, nur mit einer Frau glücklich werden zu können, die auch seinen Job akzeptierte, denn die Arbeit an den Nagel zu hängen kam für ihn nicht in Frage.

„Du hast Recht: Urlaub. Mensch, Mexiko! Fantastische Strände, Sonne bis zum Abwinken und hübsche Mädchen, soweit das Auge reicht! Vielleicht bleibe ich länger“, schmunzelte Holmark.

Krüger sah ihn erstaunt an. Auf seinem Gesicht stand Skepsis.

„Ich fürchte, wir werden dort leider ganz andere Überraschungen erleben“, sagte er und stellte nachdenklich sein Cognacglas ab.

24. Uckermark (Deutschland), Juni 2016

Der Bauer Josef Herrmanns fuhr im leichten Regen zu seinem Maisfeld. Monoton schleifte der Scheibenwischer über die Windschutzscheibe. In der Kabine seines modernen Traktors war es warm und trocken. Er hatte alles vorbereitet zur ersten organischen Düngung und abgewartet, bis Regenwetter ihn unterstützte. Schon um fünf Uhr früh war er aufgestanden, und bereits eine Stunde später hatte er alle Vorbereitungen abgeschlossen. Sein Hof verschwand im Rückspiegel seines Fergusons im Grau des Regens. Das Maisfeld lag hinter einer langen Hecke aus Haselnuss und Wacholder. Vor zwei Wochen hatten die Maispflanzen ausgetrieben. Jetzt bog er um die Hecke und setzte sein Spritzgerät in Bereitschaft. Im modernen Cockpit, das eher dem einer Cessna glich, drückte er nur wenige Knöpfe. Mit einem Seitenblick registrierte er eine Veränderung auf dem Maisfeld, dann trat er unvermittelt auf die Bremse. Er riss die Tür auf und sprang aus der Kabine auf den Acker. Soweit sein Auge reichte lagen die Maispflanzen schlapp auf dem Boden. Vor drei Tagen war er zuletzt auf dem Feld gewesen und nichts hatte auf eine Katastrophe hingedeutet. Fassungslos lief er bis in die Mitte des Maisfeldes und kniete sich nieder. Vorsichtig, fast zärtlich fuhr er mit einer Hand unter eine Pflanze, als wolle er sie wieder aufrichten und zum Leben erwecken. Auf den ersten Blick zeigte sie keinerlei Befall durch Ungeziefer. Die Pflanze war völlig zusammengefallen. Als Herrmanns sie aus dem Boden zog, riss sie ab. Dann grub er die nächste Maispflanze mit der Hand aus. Die bereits kräftige Wurzel war grau und schlapp. Herrmanns war völlig fassungslos. Er ging zum Traktor und nahm den Eimer und die Schaufel vom Haken. An verschiedenen Stellen grub er Pflanzen aus und legte sie vorsichtig hinein. Vom Regen komplett durchnässt fuhr er unverrichteter Dinge wieder zurück zum Hof. Seine Frau war bereits mit ihrem Auto unterwegs zur Schule, sie war Lehrerin. Kurz vor acht Uhr morgens war es noch zu früh, um die Landwirtschaftskammer und das Saatgutunternehmen anzurufen. Er schenkte sich einen großen Pott Kaffee ein und telefonierte mit anderen Bauern aus der Gegend, die bisher nichts Besonderes auf ihren Feldern festgestellt hatten. Gegen acht Uhr dreißig schickt er seine E-Mail an die Landwirtschaftskammer und das Saatgutunternehmen. Nach kurzer Überlegung schaltete er auch die Lokalpresse ein und verabredete sich mit der Reporterin für einen Termin auf dem Maisfeld.

25. Schwetzingen (Deutschland), Juni 2016

Von den Feldern aus sah man die Autobahn A 61. Der Jogger rannte jeden Morgen dieselbe Strecke, bevor er zur Arbeit fuhr. Seit Tagen beobachtete er, wie rasant die jungen Rapspflanzen gewachsen waren. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war alles um ihn herum leuchtend gelb. Als er aus dem kleinen Wäldchen auf die Rapsfelder zulief, verlangsamte er plötzlich sein Tempo und geriet außer Tritt. Was er sah, erstaunte ihn: Soweit sein Auge reichte, waren alle Rapspflanzen eingefallen, als hätte in der vergangenen Nacht eine große Dürre geherrscht. Er ging näher an die Pflanzen heran. Die meisten hingen schlaff herunter oder waren umgefallen. Wer weiß, mit was für Gift die heutzutage das Ungeziefer töten, dachte er. Unwillkürlich drehte er um und lief in das Wäldchen zurück. Unterwegs ging ihm das Bild der abgestorbenen Pflanzen nicht aus dem Kopf. Deshalb beschloss er, den kurzen Stichweg zum Bauernhof zu rennen und die Anwohner über seine Beobachtung zu informieren.

26. Oldenburg (Deutschland), Juni 2016

Die Gert Kaldinger GmbH war ein kleinerer Saatgutbetrieb, der auf die Vermehrung von Bohnen, Erbsen und verschiedenen Kohlsorten spezialisiert war. Die meisten Vermehrungsaufträge kamen von zwei großen Firmen, die an dem Betrieb die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit schätzten und vor allem die gesunden und fruchtbaren Böden. Offenbar kamen hier Pflanzenkrankheiten selten vor, und selbst in Jahren mit üblem Läusebefall waren die Felder der Familie Kaldinger nur wenig betroffen gewesen. Regelmäßig kamen die Prüfer der beiden Firmen und nahmen Pflanzen und Bodenproben mit nach Hause. Gemeinsam mit den Prüfern bestimmten sie die Kernzonen auf den Feldern, von denen Samen gewonnen werden durften. Die restlichen Abschnitte wurden geerntet und zum normalen Verzehr an Großmärkte verkauft. Heute sah der Arbeitsplan vor, die Erde zwischen den Bohnenreihen zu lockern und zum ersten Mal zu mulchen. Das Verfahren war arbeitsintensiv. Der Besitzer der Firma fuhr den Traktor, und drei Helfer saßen auf dem Hänger mit dem Mulch, einer Mischung aus klein gehäckseltem Gras und frischem Kompost. Vor dem ersten Bohnenfeld rief Gert Kaldinger laut aus, um die Helfer zu alarmieren. Wild gestikulierend deutete er mit seiner Hand auf das erste und zweite Bohnenfeld. Alle Pflanzen waren umgeknickt und lagen matt auf dem Boden. Völlig verdutzt rannten sie zu viert durch die Reihen. Gert Kaldinger hatte so etwas noch nie erlebt.

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